Die bleierne Lücke – Reste von Jagdmunition gefährden Europas Greifvögel

Blei ist einer der giftigsten Stoffe überhaupt. Aus vielen Bereichen wurde es verbannt, aber in der Jagd darf es bis heute verwendet werden. Das gefährdet Europas Greifvögel, wie eine aktuelle Studie zeigt.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
7 Minuten
Ein Seeadler im Anflug auf den Fotografen

Für die Vögel ist es ein gefundenes Fressen im Wortsinne. Wenn Jäger ihren nächsten Reh- oder Wildschweinbraten schießen, fällt oft auch etwas für die Vögel ab. Denn die Innereien der getöteten Wildtiere müssen bei der Jagd vor Ort entnommen werden, um Infektionen zu verhindern. Meist dauert es nicht lange, bis ein Raben- oder Greifvogel die Jagdabfälle entdeckt.

Leichenschmaus statt Festmahl

Doch wurde ein Wildtier mit bleihaltiger Munition geschossen, könnte aus dem Festmahl für Bussard, Milan, Seeadler und Co. rasch ein Leichenschmaus werden. Wie gravierend das Problem ist, zeigt eine aktuelle Studie:Danach sind die Bestände vieler Greifvogelarten in Europa wegen der seit Jahrzehnten anhaltenden Blei-Belastung viel kleiner als sie es sein müssten. Europaweit reißt Blei eine Lücke von mehr als 50.000 Adlern, Bussarden und Habichten.

Zwei Bussarde streiten über einen Rehkadaver
Mäusebussarde gehören als Aasfresser zu den häufigen Opfern der Virus-Epidemie.

Fast alle Greifvogelarten nutzen in unterschiedlichem Ausmaß Kadaver als Nahrungsquelle oder fressen Tiere, die mit Blei getötet oder angeschossen wurden. Die Fragmente des giftigen Schwermetalls reichern sich im Körper der Tiere an und vergiften sie so – oft qualvoll schleichend.

Kadaver sind für die meisten Greifvögel eine wichtige Nahrungsquelle

Blei ist ein sehr wirksames Gift. Schon in geringen Mengen kann es Nerven und Nieren schädigen sowie zu Hirnschäden und Verhaltensstörungen bei Mensch und Tier führen. Die Weltgesundheitsorganisation listet das Schwermetall unter den zehn der auch für Menschen gefährlichsten Stoffe. Aus gutem Grund also verbannen Europas Politiker Blei aus dem Alltag: Farben, Buntstifte, Benzin und Wasserleitungen – alles muss bleifrei sein. Selbst das traditionelle Bleigießen zum Jahreswechsel ist mittlerweile in der EU verboten. Doch ein Gebiet ist noch immer in weiten Teilen ausgenommen: die Jagd.

Habichte – hier ein Jungvogel mit der typischen Längszeichnung der Brust – gehören zu den am häufigsten illegal getöteten Greifvögeln.
Auch die europäische Habicht-Population ist wegen der anhaltenden Verwendung von Bleimunition kleiner als sie sein sollte.

Forschungsarbeit enthüllt das Ausmaß des Problems

Um herauszufinden, in welchem Ausmaß sich die massenhafte Verwendung von Blei in Jagdmunition auf die einzelnen Populationen europäische Greifvögel auswirkt, analysierte ein Wissenschaftlerteam der Universität Cambridge und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung zunächst Daten zum Bleigehalt der Leber von mehr als 3.000 Greifvögeln, die in 13 europäischen Ländern über die vergangenen Jahrzehnte tot aufgefunden wurden.

Die Leber ist ein gutes Barometer für die Bleibelastung, weil sich das Schwermetall in dem Organ anreichert. Die Belastungsdaten aus den Organen setzten die Forscher in ein statistisches Verhältnis zur durchschnittlichen Anzahl der Jäger pro Quadratkilometer in jedem Land. Aus diesen Werten wiederum ließen sich Prognosen der Vergiftungsquoten in den Ländern errechnen, aus denen zwar die Jägerdichte bekannt ist, aber keine Daten verfügbar sind, die über die Bleianreicherung in den Lebern der Vögel Auskunft geben.

Mit Hilfe von Populationsmodellen errechnete das Forscherteam dann, wie groß die einzelnen europaweiten Populationen wären, wenn Blei als Todesursache wegfallen würde.

„Das vermeidbare Leiden und der Tod zahlreicher Greifvögel durch Bleivergiftungen sollte ausreichen, um auf bleifreie Alternativen umzusteigen“

Debbie Pain, Universität Cambridge

Bis zu 15 Prozent weniger Greifvögel wegen Blei

Im Ergebnis kommen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Gesamtpopulation von zehn Greifvogelarten in Europa um mindestens sechs Prozent kleiner ist, als sie es ohne Blei wären.

Für einzelne Arten war der Anteil noch deutlich größer. Am stärksten betroffen sind Vogelarten, deren Reproduktion auf Langlebigkeit ausgerichtet ist: Die lange Lebensdauer und damit die Lebens-Reproduktionszeit gleicht die geringe jährliche Fortpflanzungsrate aus. Extrembeispiele für eine solche Reproduktionsstrategie sind Primaten und der Mensch.

Die großen und langlebigen Arten sind besonders stark betroffen

In der Vogelwelt sind es Arten wie Stein- oder Seeadler. Seeadler beispielsweise haben der Analyse zufolge einen um 14 Prozent geringeren Bestand in Europa als sie es ohne die mehr als ein Jahrhundert andauernde Exposition gegenüber Blei in ihrer Nahrung hätten. Ähnlich sieht es bei Steinadler und Gänsegeier aus, deren Populationen um 13 und 12 Prozent geringer sind als sie es ohne Blei in der Umwelt wären.

Ein Seeadler im Sturzflug auf den Betrachter, Nahaufnahme.
Auch für Seeadler hat sich die Gefahr durch die Vogelgrippe zumindest vorübergehend entspannt.
Ein Steinadler mit ausgebreiteten Flügeln nach der Landung
Auch Steinadler ernähren sich im Winter von Aas und sind deshalb der Gefahr von Bleivergiftungen ausgesetzt.
Eine Gruppe Gänsegeier
Geier tauchen selten alleine am Kadaver. auf. Auch sie sind durch Blei gefährdet

Habicht, Rotmilan und Rohrweihe: Kaum eine Greifvogelart bleibt von der Bleigefahr verschont

Der Habichtbestand ist vergiftungsbedingt um sechs Prozent, und die Bestände von Rotmilan und Rohrweihe um drei Prozent geringer. Die Mäusebussard-Populationen sind um 1,5 Prozent kleiner: allein bei dieser Art fehlen europaweit damit 22.000 ausgewachsene Tiere, weil Jäger Bleimunition verwenden. Insgesamt errechneten die Forscher den bleibedingte Populationsverlust bei zehn Arten auf 55.000 erwachsene und damit reproduktionsfähige Vögel.

Kämpfende Seeadler im Schneegestöber
Der Wildtierexperte Oliver Krone sieht die Seeadlerpopulation an der Ostseeküste durch die Pläne für eine neue Bahnstrecke nach Usedom bedroht.

Trotz des dramatischen Befundes hält das Autorenteam seine Berechnungen für konservativ. Nicht zuletzt deshalb, weil die Daten über vergiftete Greifvögel begrenzt und schwierig zu beschaffen sind. Für viele europäische Greifvögel, darunter einige der seltensten Arten, liegen keine ausreichenden Daten vor, um das Ausmaß des Risikos überhaupt zu bestimmen.

Langwierige Detektivarbeit

„Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Wissenschaftler aus ganz Europa genügend Daten gesammelt hatten, um die Auswirkungen von Bleivergiftungen auf Greifvogelbestände berechnen zu können“, sagt Ko-Autorin Debbie Pain von der Universität Cambridge. „Wir können jetzt sehen, wie erheblich die Auswirkungen auf die Bestände einiger unserer eindrucksvollsten und empfindlichsten Arten sein können.“

Junge Rohrweihen und ihre Mutter in einem Nest auf dem Boden im Schilf
Durch Fütterung mit bleibelasteten Fleisch gerät das Ultragift in den Körper der Jungvögel.

Studie bietet Argumente für Bleiverbot

Die Studie bietet „Munition“ für die Forderung nach einem raschen Verbot jeglicher Bleimunition in Europa. Das fordern auch die Autoren. „Das vermeidbare Leiden und der Tod zahlreicher einzelner Greifvögel durch Bleivergiftungen sollte ausreichen, um auf bleifreie Alternativen umzusteigen“, sagt etwa Pain. „Die nun quantifizierten Auswirkungen auf die Bestände machen dies doppelt wichtig und dringend.“

Ko-Autor Oliver Krone vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin verweist auf den Flickenteppich unterschiedlicher Regeln für die Verwendung von Bleimunition auch hierzulande und plädiert für einheitliche Regelungen. In Deutschland haben derzeit nur vier von 16 Bundesländern die Verwendung von bleihaltiger Büchsenmunition für die Jagd verboten.

Regelwirrwar statt einheitliches Verbot in Deutschland

Darüber hinaus ist Bleimunition in allen Bundesländern im Staatswald und in mehreren Bundesländern in Landeswäldern sowie in Nationalparks und Naturschutzgebieten verboten. „Dieser Flickenteppich lässt viel Raum für die weitere Verwendung bleihaltiger Büchsenmunition, auch weil die überwiegende Mehrheit der Jagdgebiete wie Wälder und landwirtschaftliche Flächen in Privatbesitz sind“, kritisiert Krone.

„Teillösungen des Problems reichen nicht aus, um die negativen Auswirkungen der Bleivergiftung auf die Greifvogelpopulationen in Deutschland zu beenden, eine bundesweite Lösung des Problems wäre also notwendig.“

Eine Gruppe aus einem halben Dutzend Krickenten fliegt vor blauem Himmel von links nach rechts.
Auch Millionen Wasservögel starben bisher in jedem Jahr qualvoll an Bleivergiftungen durch Bleischrot aus der Jagd.

Blei gehört nicht in die Natur. Und es gehört auch nicht in den Menschen. Schon geringe Mengen können Gehirnschäden verursachen und die Lernfähigkeit von Kindern beeinträchtigen.

Henrik Søren Larsen, dänisches Umweltministerium

„Ein Umstieg auf bleifreie Munition ist überall möglich“

Derzeit haben nur zwei europäische Länder – Dänemark und die Niederlande – ein landesweites Verbot von Bleischrot (Flintenmunition, vor allem für die Jagd auf Vögel und kleinere Tiere) erlassen.

Dänemark plant, diesem Verbot ein Verbot von Bleigeschossen für Gewehre (Büchsen) folgen zu lassen. Auch das bereits in Teilen der USA geltende komplette Bleiverbot zeigt, dass die unter Jägern immer noch verbreitete Auffassung nicht haltbar ist, bleifreie Munition habe eine geringere Tötungswirkung und sei daher nicht tierschutzgerecht.

Diesem zähen Vorurteil widerspricht auch die Vorsitzende des Ökologischen Jagdverbandes, Elisabeth Emmert. „Die Behauptung, bleifreie Munition sei generell weniger wirksam, stimmt so einfach nicht“, betont sie. „Um eine vergleichbare Tötungswirkung zu erreichen, müssen nur etwas größere Kaliber und geeignetes Material für für die größeren Arten gewählt werden. Ein Umstieg ist überall möglich.“

Dänemark geht voran – auch zum Schutz der menschlichen Gesundheit

Der in Dänemark für den Ausstieg aus der Bleimunition zuständige Abteilungsleiter im Umweltministerium, Henrik Søren Larsen, betont im Gespräch mit RiffReporter die Bedeutung eines Verbots von Bleimunition auch für die menschliche Gesundheit. „Blei gehört nicht in die Natur. Und es gehört auch nicht in den Menschen.

Schon geringe Mengen können Gehirnschäden verursachen und die Lernfähigkeit von Kindern beeinträchtigen.“ Auch die dänischen Vorreiter sehen zudem keine Bedenken aus Tierschutzerwägungen.

„Das Wohlergehen der Tiere ist der dänischen Regierung ein großes Anliegen“, betont Larsen. „Die wissenschaftliche Forschung zeigt uns, dass es geeignete Alternativen zu bleihaltiger Munition gibt, die eine effektive Tötung der Tiere ohne unnötiges Leiden gewährleisten.“

Erster Etappensieg bereits errungen

Im Ringen um ein Verbot von Bleimunition hatten Natur- und Verbraucherschützer im vorletzten Jahr bereits einen wichtigen Etappensieg errungen. Die EU-Mitgliedstaaten billigten damals den Vorschlag der Europäischen Kommission, die Verwendung bleihaltiger Schrotmunition bei der Jagd in Feuchtgebieten künftig zu verbieten.

Der nächste Schritt ist eine weiter reichende Neuregelung der Chemikalienverordnung, die ein komplettes Verbot des Schwermetalls in der Jagd – also für alle Munitionsarten und in allen Lebensräumen – sowie im Angelsport vorsieht. Diese Verordnung wird gerade von der Europäischen Kommission vorbereitet, die in der weiteren Verwendung von Bleimunition „ein unkontrollierbares Risiko für die Umwelt und die menschliche Gesundheit“ sieht.

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