Forscherin appelliert in heißer Phase der Weltnaturkonferenz: „Seid mutig, schreibt Geschichte“

Sandra Diaz zählt zu den Führungsfiguren des Weltbiodiversitätsrates IPBES, der analog zum Weltklimarat IPCC der Politik den Stand der Wissenschaft darlegt. Im Weltnaturgipfel COP15 sieht sie eine historische Chance für eine Trendwende.

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
8 Minuten
Eine mittelalte Frau mit lockigen grauen Haaren und legerer Kleidung steht vor einer grauen Wand und lacht

Die argentinische Ökologin Sandra Diaz ist eine der führenden Biodiversitätsforscherinnen weltweit. Die Fachzeitschrift Nature nahm sie 2019 in die Liste der zehn bedeutendsten Persönlichkeiten für die Wissenschaft auf. Gemeinsam mit dem Deutschen Josef Settele leitete die 61-Jährige die Arbeiten am Globalen Bericht zur Lage der Natur des Weltbiodiversitätsrates IPBES. Das Dokument ist die wichtigste wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidungen auf der Weltnaturkonferenz.

Im RiffReporter-Interview spricht Diaz zu Beginn der heißen Phase des Gipfels über die wichtigsten Erkenntnisse der Wissenschaft zum Artensterben und über Wege aus der Krise. Den UN-Gipfel in Montreal sieht sie als einen historischen Moment für die Menschheit.

Gerodete Bäume
Weltweit werden – wie hier in Malaysia – Regenwälder für Holznutzung, Agrarflächen und Bergbau dezimiert.

Frau Diaz, welche Bedeutung hat Natur für Sie persönlich?

Seit ich denken kann, ist die Natur Teil meines Lebens und immer gegenwärtig, auch wenn ich die meiste Zeit nicht direkt in der Nähe einer Wildnis gelebt habe. Aber Natur ist auch außerhalb der Wildnis präsent. Ich kann mir mein Leben ohne die Freude und die ständige geistige Anregung, die ich von all den lebendigen Verbindungen um mich herum bekomme, kaum vorstellen.

Was ist die wichtigste Botschaft des Globalen Berichts zur Lage der Natur, den Sie für den Weltbiodiversitätsrat IPBES federführend erarbeitet haben?

Es geht um nichts Geringeres als um das gesamte Netzwerk des Lebens, um die Grundlagen auch für unsere Existenz. Mit jedem Jahr, in dem wir so weitermachen wie bisher, mit jedem Jahr, in dem wir nichts unternehmen, um diesen Kurs zu ändern, wird den Ökosystemen, den Arten, der genetischen Vielfalt und den Verbindungen zwischen den Menschen und den übrigen Lebewesen in diesem engstens verwobenen Gefüge weiterhin großer Schaden zugefügt. Der UN-Gipfel in Montreal ist ein Kulminationspunkt: Dort werden alle bisherigen Absichten und Pläne, alle Ankündigungen der Regierungen, alle Arbeiten von Wissenschaftlern, die Wissen zum Handeln bereitstellen, ihren Höhepunkt erreichen.

Porträtfoto Sandra Diaz
Sandra Diaz

Das gesamte Gefüge, das uns am Leben erhält und mit dem wir so eng verwoben sind, löst sich gerade auf.

Wie dramatisch ist der Verlust von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen und genetischer Vielfalt?

Eine Zahl sagt beinahe alles dazu. Arten sterben derzeit mindestens zehn- bis hundertmal schneller aus als im Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre. Hinzu kommt, dass der Anteil der bedrohten Arten höher ist als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Wir müssen ehrlich sein: Einige Aspekte des Rückgangs können nicht mehr vollständig ausgeglichen werden; ein Teil des Schadens ist irreversibel. Aber die Dinge können sehr viel besser werden, die Verlustrate kann ernsthaft gesenkt werden, wenn es genügend mutige Entscheidungen gibt.

Und wenn das nicht passiert?

Die Aussterberaten unserer Zeit bedeuten eine enorme Verarmung unseres Lebens. Und zwar auf sehr vielen verschiedenen Ebenen. Natürlich mit Blick auf unser physisches Überleben und unsere Widerstandsfähigkeit gegen Krisen. Aber der Artenschwund lässt auch unser intellektuelles und spirituelles Leben ärmer werden. Die nicht-menschliche Welt hat schon immer unser Denken geprägt: die Bilder in unseren Köpfen, die Geschichten, die wir uns seit Jahrhunderten erzählen, sie sind ein wichtiger Teil dessen, was wir sind.

Haben Sie weitere Beispiele für diese fundamentalen Beiträge der Natur für den Menschen?

Ein Wasserfall im Wald
Ohne intakte Ökosysteme gibt es kein sauberes Trinkwasser.

Diese Liste ist sehr lang. Baumaterialien, Fasern, Brennstoffe, Medikamente, alle Vorteile, die wir von den Haustieren und -pflanzen neben ihrer Funktion als Nahrungsmittel erhalten, die Sicherung von ausreichend und sauberem Trinkwasser, Wasser zur Bewässerung und zum Transport, die Bildung und Gesundheit der Böden, die unsere Ernten tragen, der Schutz vor extremen klimatischen Ereignissen, all die nicht-materiellen Vorteile wie Inspiration für unsere Kunst, Literatur, Mythen, Erfindungen, Erholung. Soviel erstmal, um nur einige zu nennen.

Und wie beeinträchtigt die ökologische Krise diese Bereiche?

In unserem Globalen Bericht haben wir umfassende Belege dafür vorgelegt, dass die große Mehrheit der Beiträge der Natur für den Menschen weltweit rückläufig ist. Wir haben Kategorien gebildet und festgestellt, dass wir Rückgänge in 14 von 18 dieser Hauptkategorien hatten. Das betrifft zum Beispiel Ernteausfälle durch weniger Bestäuberleistungen von Insekten oder eine Verschlechterung des Küstenschutzes durch die Zerstörung von Korallenriffen. Wichtig war auch die Erkenntnis, dass es für die meisten der wegfallenden Beiträge keinen guten Ersatz gibt. Das klingt abstrakt, bedeutet aber im Klartext enorme Auswirkungen auf das menschliche Wohlergehen. Das gesamte Gefüge, das uns am Leben erhält und mit dem wir so eng verwoben sind, löst sich gerade auf.

Springen wir zu kurz, wenn wir beim Werben um mehr Naturschutz stets den wirtschaftlichen Nutzen und Wert betonen – der Natur praktisch ein Preisschild umhängen?

Gegen eine neue Aussterbewelle protestiert auf der COP15 ein Dinosaurier
Gegen eine neue Aussterbewelle protestiert auf der COP15 ein Dinosaurier

Der wirtschaftliche und vor allem finanzielle Wert der Natur wird jetzt oft beschworen, und in einigen Fällen hat das gut funktioniert. Aber wir sollten die Natur nicht auf einen einzigen Maßstab reduzieren. Sie ist viel mehr als ein Ökodienstleister.

Das Ziel, 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche unter Schutz zu stellen, wird schon als so etwas wie das 1,5-Grad-Ziel für die Natur gehandelt. Ist es das?

Bei der Vergrößerung der Schutzgebiete hat die Menschheit seit 2010 im Vergleich zu anderen Zielen die größten Fortschritte gemacht. Aber wir sehen, dass die biologische Vielfalt weltweit weiter abnimmt. Schutzgebiete sind natürlich eine gute Sache, aber für sich genommen und ohne angemessenes Management, Überwachung und Monitoring werden sie niemals ausreichen. Dort, wo indigene Gruppen diese Gebiete bewohnen, müssen wir viel mehr auf Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und die Bewahrung ihrer Rechte achten. Der wichtigste Punkt liegt aber außerhalb der Schutzgebiete: Die Regionen werden immer den größten Teil des Planeten ausmachen.

Was erwarten Sie als Wissenschaftlerin von den politischen Entscheidungsträgern?

Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat hart daran gearbeitet, konkrete Zahlen vorzuschlagen, die ehrgeizig, aber machbar sind. Jetzt ist es unerlässlich, dass diese Ergebnisse durch Ziele konkretisiert werden, die genau angeben, in welchem Umfang, bis wann und auf welchem Weg welches Ziel erreicht werden soll. Ein Problem bei bisherigen Anläufen für Abkommen war, dass es für gute Zielen nur vage Vorgaben für deren Umsetzung gab. Ich hoffe, das passiert diesmal nicht.

Eine riesige schwarze Vitrine in einem Museum mit einer Vielzahl von Tieren, vom Wolf über Delfin bis zum Straußenvogel
Auf acht Millionen schätzen Wissenschaftler die Zahl der Arten auf der Erde.

Sie sprechen die Aichi-Ziele von 2010 an. Damit hatte sich die Weltgemeinschaft vorgenommen, schon bis 2020 die Wende im Artensterben und dem Verlust der Ökosysteme zu schaffen – kein einziges Ziel wurde erreicht. Hat die Welt Lehren aus dem Scheitern gezogen oder droht uns erneut, dass auf schöne Worte keine oder nur unzureichende Taten folgen?

Es wurden in der Tat einige Lehren gezogen, denn ein Grund für das Scheitern der Aichi-Ziele war der Mangel an klaren Vorgaben, was bis wann und wie erreicht werden sollte. In den Entwürfen für das neue Abkommen, das auf der COP15 hoffentlich verabschiedet wird, sind mehr als je zuvor die spezifischen Ratschläge der Wissenschaft berücksichtigt. Dazu zählen auch Vorschläge für eine konsequente Umsetzung und ausreichend Geld. Andernfalls wird es wie bisher bei schönen Worten bleiben. Dann wären wir monumental gescheitert.

Großer Saal ohne Fenster mit dicht besetzten Reihen von Stühlen und Tischen und vielen Menschen, über ihnen große Monitore.
Der Plenarsaal der COP15 in Montreal.

Welche konkreten Ziele aus dem vorliegenden Vertragsentwurf sind unabdingbar, um eine Wende in der Krise des Artensterbens und der Biodiversität herbeizuführen?

Wir erreichen nichts, wenn wir nur einzelne ehrgeizige Ziele setzen. Man muss bei allen Zielen gleichzeitig ehrgeizig sein, sonst werden alle scheitern. Das liegt buchstäblich in der Natur der Sache: Biodiversität hat viele Ebenen, die genetische Vielfalt, die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten, die Vielfalt der Ökosysteme. Um sie zu erhalten, muss man auf jeder dieser Ebenen gleichzeitig aktiv werden und konkrete, messbare Ziele verfolgen, etwa, die faire Nutzung genetischer Ressourcen zu verbessern, die Aussterberate zu senken und die Ausdehnung der Schutzgebiete zu vergrößern. Es ist keine Zeit mehr für Flickwerk.

Die Vereinten Nationen haben sich in ihrer Vision 2050 das Ziel gesetzt, dass die Menschheit bis zur Mitte des Jahrhunderts in Harmonie mit der Natur leben soll. Glauben Sie, dass wir nach dem Ende der Konferenz in Montreal einen entscheidenden Schritt dahin gemacht haben?

Es gibt diesen brillanten Satz von Antonio Gramsci, man müsse „mit dem Pessimismus der Intelligenz und dem Optimismus des Willens“ handeln. Er wurde schon oft zitiert, aber mir fällt kein besserer Satz ein, um meine Gedanken und Gefühle zu diesem historischen Moment zusammenzufassen: Alles deutet darauf hin, dass das wahrscheinlichste Ergebnis ein weiteres Scheitern ist. Aber dieses Mal können wir es uns nicht leisten. Und die Informationen sind da, um zu zeigen, was technisch möglich ist, was nicht, und was einfach zu wenig zu spät sein wird. Daher bin ich hartnäckig optimistisch. Ich hoffe immer noch, dass diejenigen, die die höchste Entscheidungsbefugnis haben, sich der Situation stellen werden.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, zu Beginn der entscheidenden Phase der Konferenz einen Appell an die mehr als 100 Ministerinnen und Minister zu richten, was würden Sie sagen?

Ich würde an sie appellieren, mutig zu sein, großzügig zu sein und die Gelegenheit zu ergreifen, Geschichte zu schreiben. Liebe Ministerinnen und Minister, zeigen Sie uns, dass eine bessere Zukunft möglich ist.

Die Recherchen für diesen Beitrag wurden von der Hering-Stiftung Natur und Mensch gefördert.

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