Ein Jahr Krieg in der Ukraine: „Wir planen nur noch von Tag zu Tag“

Trotz häufigen Stromausfällen versucht man hinter der Front, ein normales Leben zu führen. Pläne schmiedet kaum mehr jemand, was bleibt, ist die Hoffnung auf den Sieg.

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
9 Minuten
ein paar Leute, die fernsehen [AI]

Radu tritt aufs Gas und bremst dann abrupt ab. Er flucht auf Rumänisch, denn aus der linken Lastwagenspur ist plötzlich ein weisser ukrainischer PKW vorgeprescht. Rechts gibt es kaum ein Ausweichen, denn auch hier stauen sich die Laster. Wir sind in Giurgiulesti, am südlichsten Punkt der Republik Moldau, am Ufer der Donau. Dort befindet sich der einzige Hafen des Landes. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist er auch für das große Nachbarland im Osten wichtig geworden. Denn der Export über den kleinen Hafen von Giurgiulesti ist viel sicherer als über Odessa und das Schwarze Meer, das voller russischer Kriegsschiffe ist.

Vor allem Getreidelaster säumen den knapp anderthalb Kilometer langen Abschnitt der Europastrasse E-87 zwischen der rumänisch-moldauischen und moldauisch-ukrainischen Grenze. Sie machen den wenigen PKWs ein Durchkommen kaum mehr möglich. Dazu peitscht ein scharfer Schneesturm über die Ebene zur Donau hin.

Polizeistunde, Tod und Geheimdienst

„Verdammt, wo wollt ihr denn bei diesem Wetter hin?“, knurrt der ältere Diensthabende am ukrainischen Grenzposten von Giurgiulesti halb mürrisch, halb lachend. Von hier geht es nur noch zu Fuß weiter, denn der Moldauer Radu will um nichts in der Welt in ein Kriegsland fahren. Die Grenzschützer sind mit älteren, langen Gewehren bewaffnet. „Vergesst nicht: Die Polizeistunden beginnen um 23 Uhr und dauert bis 5 Uhr morgens, da müsst ihr drinnen blieben, und bloss nichts fotografieren, sonst kriegt ihrs mit dem Geheimdienst zu tun?, heisst es zum Abschied.

Im Bistro an der Grenze essen Lastwagenfahrer schweigend Kohlsalat und Fleisch. Sonnige Südseeinseln locken auf einer Fototapete. "Drei blutjunge Burschen liegen an unserer Heldenallee, der Vierte wurde an der Seite seines Großvaters begraben“, sagt die Bedienung aus dem nahen ukrainischen Städtchen Reni karg und emotionslos.

Hinter Blumen erscheint ein Kreuz mit einem Bild eines im Ukrainekrieg getöteten Soldaten
Der erst 19-jährige Soldat Stanislaw Topola war das erste Kriegsopfer aus Reni.

Die Helden von Reni

Der Weg zum Busbahnhof des 18.000-Einwohnerstädtchens führt am Friedhof vorbei. Die „Heldenallee“ liegt unübersehbar gleich am Anfang des weiten Gräberfeldes. Fünf ukrainische Flaggen wehen alleine am frisch aufgeschütteten Grab von Jewgeni Bugajnow, dem frischesten Kriegstoten der Grenzstadt Reni. 33 Jahre alt ist der ukrainische Soldat geworden. Bugajnow wurde im Oktober getötet, neben ihm liegt der erst 19-jährige Stanislaw Topola, der bereits im April gefallen ist.

Ganz Reni kennt die beiden Männer, doch mit Fremden will man nicht über sie sprechen. „Das sind Helden“, sagt eine junge Passantin. Das Städtchen geht dem Anschein nach seinen gewohnten Gang. Schulkinder schlagen Eiszapfen vom niedrigen Rathausvordach und fechten damit am Straßenrand, die Erwachsenen machen Einkäufe und andere Besorgungen.

„Die Inflation ist unglaublich hoch, ohne die Hilfe meiner Tochter aus Atlanta in den USA könnte ich nicht überleben“, berichtet eine Rentnerin. Die Kinder in der gut 200 Kilometer entfernten Gebietshauptstadt Odessa hätten gerade wieder schulfrei bekommen, wegen Strommangels, berichtet die Rentnerin. „Bei uns war es auch so, man weiss nie wann es Elektrizität gibt und wann nicht. Wer es sich leisten kann, kauft sich einen Generator für tausend Dollar. Doch ich, woher soll ich soviel Geld nehmen?“, sagt die zierliche Frau um die Sechzig.

Große Lastwagen, die Getreide transportieren, blockieren die Straße Reni und Ismail.
Überall versperren Getreide-Laster die Landstrassen, hier zwischen Reni und Izmajl
Junge Frau sitzt an der Theke einer Bar in Izmajl in der Ukraine
In der Gastro-Bar „Filin“ in Izmajl versucht man einen normalem Alltag trotz des Krieges
Man bei Nacht auf der Straße in Izmajl in der Ukraine
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