Venezuela: „Maduro sitzt fest im Sattel“

Der Journalist und Politikwissenschaftler Andrés Cañizalez über die Parlamentswahlen

7 Minuten
Hellgrüne Häuserwand, auf der zwei gemalte Figuren zu erkennen sind: links der verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chavez, rechts der jetzige Präsident Nicolas Maduro.

Daran werden auch die Wahlen vom 6. Dezember nichts ändern, sagt Andrés Cañizalez im Interview mit den Südamerika-Reporterinnen.

„Mit meiner Rente kann ich nicht mal einen Karton Eier kaufen, nur Gemüse", sagt Xiomara Gonzalez, eine pensionierte Grundschulrektorin. Ihre Rente beträgt weniger als zwei Euro monatlich. Ab und an bekommt sie vom Staat subventionierte Lebensmittel. Und da sie das „Carnet de la Patria“ besitzt, eine Art zusätzlicher Personalausweis, kommen nochmal drei bis vier Euro staatlicher Bonus dazu.

Wasser kommt in ihrem Haus in der Stadt Barquisimeto, einer Großstadt im Südwesten des Landes, jeden zweiten Tag aus der Leitung. Der Strom in ihrem Viertel sei momentan weitestgehend stabil, sagt sie. „Aber das hängt von der Gegend ab." Benzin und Gas zum Kochen seien sehr schwierig zu bekommen.

Xiomara Gonzalez war früher eine begeisterte Anhängerin des ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez. Dem jetzigen Präsidenten Nicolás Maduro kann sie nichts abgewinnen. Sie ist noch unentschlossen, ob sie am Sonntag wählen gehen wird. Ein neues Parlament soll gewählt werden. “Die Regierung wird es irgendwie so arrangieren, dass sie wieder die Mehrheit erhält", sagt sie resigniert. Xiomara Gonzalez glaubt, dass die Wahlen nicht geheim sind und die Regierung nach den Wahlen wissen wird, wer für sie gestimmt hat.

Hoffnungsträger Guaidó hat die Menschen enttäuscht

Um Venezuela ist es in den deutschen Medien in diesem Jahr still geworden. Vielleicht, weil das Land selbst sich im Stillstand befindet. Seit der Corona-Krise noch mehr als vorher. Vielleicht, weil über fünf Millionen Venezolaner*innen inzwischen die Flucht ergriffen haben vor Hunger und Willkürherrschaft.

2019 machten sich viele Venezolaner*innen Hoffnung auf einen Regierungswechsel. Der Vorsitzende des vom Präsidenten Nicolás Maduro entmachteten Parlaments, Juan Guaidó, rief sich zum Interimspräsidenten aus. Fast alle westlichen Länder, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, erkannten den 37-jährigen Ingenieur im Amt an.

Doch die Opposition zerstritt sich, Guaidó selbst verlor durch seine zu große Nähe zur Trump-Regierung in den USA an Unterstützung. Heute setzt in Venezuela niemand mehr Hoffnung auf Guaidó. Auf überhaupt keine*n Oppositionspolitiker*in. Die Bewältigung des Alltags nimmt alle Energie in Beschlag.

Landstraße, auf der linken Seite eine Autschlange.
Im erdölreichen Venezuela gibt es kein Benzin. Im ganzen Land stehen Menschen mit ihren Autos zum Teil tagelang Schlange vor den Tankstellen, wie hier an einer Landstrasse in der Nähe der Grenze zu Kolumbien.

Im folgenden Interview analysiert Andrés Cañizalez, was sich durch die Wahlen am Sonntag ändern könnte. Andrés Cañizalez ist Journalist und promovierter Politikwissenschaftler. Er forscht an der Universidad Católica Andrés Bello im Bereich Medien und Politik und ist Direktor der Nichtregierungsorganisation Medianálisis. Seine politischen Kommentare erscheinen vor allem auf unabhängigen digitalen Plattformen wie Efecto Cocuyo, El Estimulo und Prodavinci.

Diesen Sonntag finden in Venezuela Parlamentswahlen statt. Wie ist die Stimmung im Land, was bewegt die Menschen im Moment?

Wir sind jetzt seit acht Monaten in Corona-Quarantäne, und die wirtschaftliche und soziale Situation hat sich noch mehr verschlechtert. Die meisten Menschen sind nur damit beschäftigt, für ihr tägliches Überleben zu sorgen. Was esse ich morgen? Wo bekomme ich Gas, Wasser oder Benzin? Die Politik kümmert die meisten im Moment nicht.

Die Quarantäne hat viele Wirtschaftssektoren zum Stillstand gebracht, und wir sehen die Auswirkungen der Zerstörung der Wirtschaft der vergangenen Jahre. Der Mindestlohn ist umgerechnet ungefähr ein US-Dollar, eine Monatsrente für Pensionierte beträgt heute umgerechnet ungefähr 0,50 US-Dollar. All das führt dazu, dass die Menschen mit der Sorge ums tägliche Überleben ausgelastet sind.

Auch der Staat kann die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr befriedigen. Es gibt kaum funktionierende Krankenhäuser, auch die staatlichen Essenspakete werden seltener und mit weniger Lebensmitteln ausgeliefert. Das zumindest entnehme ich den Anrufen meiner Radiohörer*innen. Das alles führt zu einer sehr zerbrechlichen und prekären Situation.

Dazu kommt, dass es keine Präsidentschafts-, sondern 'nur’ Parlamentswahlen sind. Da war die Wahlbeteiligung meist um die 50 Prozent. Umfragen dieses Jahr rechnen mit einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent. Vor allem Chavist*innen und Leute, die irgendwie beim Staat arbeiten oder vom Staat abhängig sind, werden wählen gehen. Denn auch die Wahlpropaganda der Regierung erreicht die Menschen nicht mehr. Die spricht immer noch von der glorreichen Revolution und will ihr Scheitern nicht eingestehen, während die Menschen ganz andere Sorgen haben.

Nimmt die Regierung Einfluss auf die Wahlergebnisse?

Da gibt es viele Möglichkeiten, die wir alle schon gesehen haben. Druck, dass man keine subventionierten Lebensmittel mehr bekommt. Oder der sogenannte „voto asistido", wo jemand mit meist älteren Bürger*innen in die Wahlkabine geht, unter dem Vorwand, er oder sie könne die elektronische Wahlmaschine nicht bedienen. Viele Menschen glauben, dass die Regierung genau weiß, wer für sie stimmt oder nicht. Es gibt keinerlei Beweis dafür, aber bisher hat die Regierung diesem Volksglauben nie widersprochen.

Porträt eines rund 50-jährigen Mannes mit rundem Gesicht, Glatze und Brille.
Der venezolanische Journalist und Politikwissenschaftler Andrés Cañizalez.

Bei den Parlamentswahlen 2015 haben die Oppositionsparteien die Mehrheit errungen. Der Vorsitzende des gewählten – und von Präsident Nicolás Maduro danach entmachteten – Parlaments, Juan Guaidó, hat sich zum Gegenpräsidenten ausgerufen. Wo stehen die Oppositionparteien heute?

Vor fünf Jahren war die Wahlbeteiligung mit 70 Prozent sehr hoch. Die Oppositionsparteien waren in der „Mesa de Unidad Democratica“ vereint und haben die Wahlen sehr klar gewonnen. Im Nachhinein gesehen war es der wichtigste Wahlsieg der Opposition in den vergangenen 20 Jahren. Aber die Protagonist*innen dieser Wahlen von vor fünf Jahren werden bei dieser Wahl nicht antreten.

Auf dem Wahlzettel werden zwar eine Menge Parteien stehen. Aber es sind Parteien, die vom Obersten Gericht gleichgeschaltet wurden, oder kleinere Parteien, die zwar in Opposition zu den Chavist*innen sind, aber keinen Wechsel anstreben, sondern ihre eigenen Pfründe verteidigen wollen.

Und was ist mit den bekannten Oppositionellen Leopoldo López und Henrique Capriles sowie dem Gegenpräsidenten Juan Guaidó?

Keiner von ihnen wird an den Wahlen teilnehmen. Juan Guaidó und das Präsidium des jetzigen Parlaments werden stattdessen eine „consulta popular“, eine Volksbefragung, per Internet durchführen, auf der sich die Bürger*innen unter anderem dazu äußern sollen, ob sie gegen die Wahlen vom 6. Dezember sind. Diese Volksbefragung ist schlecht organisiert und wird meiner Meinung nach keine große Wirkung haben. Und 40 Prozent der Venezolaner*innen haben gar kein Internet.

Leopoldo López, der Vorsitzende der Partei „Voluntad Popular“ zu der auch Juan Guaidó gehört, ist nach Jahren der Haft und des Hausarrests vor ein paar Wochen ins Exil nach Spanien gegangen.

Henrique Capriles von der Partei „Primero Justicia“ wollte zuerst an den Wahlen teilnehmen, hat sich aber zurückgezogen, als die Europäische Union mit ihrer Forderung nach einer Verschiebung der Wahlen keinen Erfolg hatte. Das heißt, von den bekannten Oppositionspolitikern nimmt keiner an den Wahlen teil.

Wenn die bekannten Oppositionspolitiker nicht teilnehmen und wenn die Menschen andere Sorgen haben und nicht zur Wahl gehen: Was steht dann überhaupt auf dem Spiel an diesem Sonntag?

Ich denke, der Chavismus möchte das Parlament kontrollieren, auch wenn es nur eine leere Hülle sein wird. Symbolisch die Kontrolle zu behalten ist wichtig für die Regierung. Sie vernichtet damit die letzte Bastion der Opposition. Wahrscheinlich gibt es auch noch einen ganz praktischen Grund. Die befreundeten Länder China, Russland oder die Türkei werden Venezuela dann auch wieder Kredite geben können. Denn laut der venezolanischen Verfassung muss jegliche Staatsverschuldung vom Parlament abgesegnet werden.

Was wird nach den Wahlen geschehen?

Für die Menschen wird sich nicht viel ändern. Die große Frage ist, was mit Juan Guaidó passiert, der immerhin von vielen ausländischen Regierungen als Präsident anerkannt wurde. Guaidó und seine Anhänger*innen werden in einer Art Limbus bleiben. Das Parlament war ihr einziger legitimer Rückhalt. Es ist nicht klar, wie sich die internationale Gemeinschaft dann verhalten wird. Bisher haben nur die USA unter Präsident Donald Trump angekündigt, Guaidó weiterhin anzuerkennen. Aber die Regierung Trump wird im Januar abgelöst, und niemand weiß, ob der neue Präsident Joe Biden weiterhin Guaidó unterstützen wird.

Cilia Flores, die Frau Maduros und selbst Parlamentskandidatin, hat bereits angekündigt, dass das neue Parlament Guaidó verklagen wird. Es ist zu befürchten, dass die Verfolgung oppositioneller Politiker zunehmen wird.

Die Regierung Maduro sitzt fest im Sattel. Ich sehe nicht, dass die Wahlen daran etwas ändern könnten. Die Regierung ist sich ihrer Macht so sicher, dass es ihr egal ist, ob irgendjemand die Wahlen anerkennt, die sie organisiert. Ganz egal wie die Wahlen ausgehen werden, die Widersprüche innerhalb der Oppositionsparteien werden noch sichtbarer werden.

Wo sehen Sie Anzeichen dafür, dass sich etwas ändern könnte?

Wenn es soweit ist für einen Wandel, dann wird der wahrscheinlich aus dem Chavismus selbst kommen. Die Chavist*innen sind kein monolithischer Block. Es gibt verschiedene Strömungen. Zum Beispiel hat sich die Kommunistische Partei Venezuelas von den Chavist*innen getrennt und sogar vor dem staatlichen Fernsehsender gegen die Zensur protestiert.

Die Kommunist*innen sind zwar eine sehr kleine Partei, aber bisher standen sie immer an der Seite der Regierung. Deswegen erscheint es mir bemerkenswert. Es gab noch zwei oder drei solcher öffentlicher Proteste von Gruppen aus dem Chavismus selbst. Sie sind noch sehr klein, aber immerhin. Die meisten Venezolaner*innen lehnen Maduro ab. Aber bisher kanalisiert niemand diese Ablehnung.

VGWort Pixel