Nordirland: Der Brexit gibt den Nationalisten neuen Schwung

Der Brexit hat in Teilen der nordirischen Bevölkerung alte Ängste geweckt. Doch während für die konservativen Unionisten eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland der größte Alptraum wäre, denken junge Menschen in Nordirland inzwischen viel pragmatischer.

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
5 Minuten

Ein Gebäude ist mit einer britischen Flagge bemalt und sieht verwahrlost aus.
Bemaltes Gebäude im Shankill Quartier, Belfast

Bevor ich im November nach Belfast reiste, hatte ich viel gelesen und gehört von der angeblichen Borniertheit der pro-britischen Unionisten, schließlich nehmen sie im jüngsten Brexit-Knatsch eine Hauptrolle ein. Die wichtigste Partei, die diesen Bevölkerungsteil zu repräsentieren vorgibt, ist die Democratic Unionist Party (DUP). Sie macht immer wieder Schlagzeilen mit ihrer beinharten Rhetorik, ihrem Geschimpfe über die EU, das Nordirland-Protokoll und zuweilen auch über die britische Regierung. Aber während der Tage in Belfast fiel mir vor allem auf, wie abgekoppelt diese Politikerïnnen von weiten Teilen der Bevölkerung tatsächlich sind.

Sicher, die Frustrationen der Unionisten sind real. Zur Erinnerung: Unionistisch sind jene Nordirïnnen, die die Provinz als Teil des Vereinigten Königreichs beibehalten wollen; sie sind mehrheitlich protestantisch. Die Nationalisten hingegen (die Bezeichnung „Republikaner“ wird meist als Synonym verwendet) sind für den Zusammenschluss Nordirlands mit der Republik Irland. Der Brexit hat alte Ängste vieler Unionistïnnen hochkommen lassen: Anstatt dass Nordirland im Zug des Brexits noch fester an Großbritannien gerückt ist – so wie es die DUP versprochen hatte – hat sich die Provinz weiter vom britischen Festland entfernt. Weil Nordirland de facto weiterhin im EU-Binnenmarkt verbleibt, muss in der Irischen See eine Zollgrenze verlaufen, das heißt zwischen der Provinz Nordirland und dem britischen Festland; der Handel über die grüne Grenze zur Republik Irland hingegen ist reger als je zuvor.

Der harte Kern der Unionisten nimmt dies als existenzielle Gefahr war: Alles, was einen Keil zwischen Nordirland und Großbritannien treibt, ist eine Bedrohung – der Anfang des schlüpfrigen Wegs zur Vereinigung mit der Republik Irland, ihrem größten Alptraum. Immer wieder haben sie im vergangenen Jahr gegen den Brexit-Vertrag protestiert, es ist zu mehreren Krawallen gekommen, und im Frühjahr sah man an Mauern von Belfast und anderen Städten bedrohliche Graffitis, die Erinnerungen aufkommen ließen an den Konflikt, der die britische Provinz von den späten 1960er- bis Mitte der 1990er-Jahre prägte.

Eine Wandmalerei, auf der bewaffnete und maskierte Männer zu sehen sind.
Wandmalerei im Osten von Belfast, einem stramm unionistischen Quartier.

Die DUP tut ihr Bestes, um die Unzufriedenheit zu schüren und so Wählerïnnen zu gewinnen. Sie hat sogar damit gedroht, ihre Beteiligung an der Regierung zu kündigen. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der nordirische Bürgerkrieg nach dreißig Jahren offiziell beendet wurde, teilen sich Unionisten und Republikaner die Macht in Belfast. Wenn die DUP aus der Regierung austreten würde, hätte dies schwere Konsequenzen.

Aber die unionistischen Hardliner haben ein großes Problem: Sie reden zunehmend an der Bevölkerung vorbei. Denn die breitere unionistische Community von Nordirland denkt weit progressiver als die Politikerïnnen, und insbesondere für die jüngere Generation ist die Fixierung auf die konstitutionelle Frage zunehmend ein Abtörner. Während meines Besuchs in Belfast habe ich viele aufgeschlossenen Nordir:innen mit unionistischen Hintergrund getroffen, die sich von der DUP – oder den anderen unionistischen Parteien – überhaupt nicht repräsentiert fühlen.

„Die Vereinigung mit Irland wird irgendwann kommen"

Zum Beispiel Katharine Paisley, 25 Jahre alt, die in einer stramm protestantisch-unionistischen Community im ländlichen Nordirland aufgewachsen ist. Sie ist Künstlerin und arbeitet heute in Belfast. „Früher hatte ich überhaupt keine katholischen Freunde, aber heute sind praktisch alle meine Freunde katholisch“, sagt sie. Die Frage, ob Nordirland Teil Großbritanniens bleiben oder mit der Republik Irland verschmelzen soll, sieht sie nicht aus der ideologischen Warte, sondern pragmatisch: „Für mich kommt es darauf an, was besser ist für die Leute in Nordirland“.

In ökonomischer Hinsicht ist sie beispielsweise eine Unionistin: Sie schätzt das öffentliche, steuerfinanzierte Gesundheitssystem Großbritanniens. Aber sie ist überzeugt, dass die Vereinigung mit Irland irgendwann kommen wird – damit kann sie sich abfinden. „Es ergibt keinen Sinn, dass wir ein Land innerhalb eines anderen Landes haben und erwarten, dass dies immer so bleibt“, sagt Paisley.

Eine junge Frau im schwarzen Mantel steht in einer Gasse in Belfast.
Katharine Paisley

Dazu kommt, dass sich viele Unionistïnnen von den erzkonservativen Haltungen der DUP abgestoßen fühlen. Bereits vor vier Jahren kam eine Umfrage zum Schluss, dass Unionisten unter 40 Jahre mit überwältigender Mehrheit die gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht auf Abtreibung unterstützen – und mehr als zwei Drittel sagten, dass sie kein Problem hätten, wenn ein enger Verwandter jemanden aus einer anderen Religion heiraten würde. Solche Haltungen sind jener der DUP diametral entgegengesetzt.

So verlieren die politischen Vertreterïnnen des Unionismus seit Jahren immer mehr Unterstützung. Ein Blick auf die derzeitigen Umfragen deutet darauf hin, dass sie in den kommenden Wahlen im Mai 2022 nicht mehr als größte Partei hervorgehen werden – zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren. Die republikanische Sinn Féin liegt deutlich vorn, ein Sieg der Nationalisten wäre eine Zäsur. Der Vormarsch von Sinn Féin hängt einerseits mit der demografischen Entwicklung zusammen: Die katholisch-republikanische Bevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive gewachsen. Es ist gut möglich, dass sie bereits jetzt in der Mehrheit sind – das Resultat der jüngsten Volkszählung wird im kommenden Jahr bekannt gegeben.

Aber ebenso liegt die Schuld bei der DUP selbst. Mit ihrer Kompromisslosigkeit und ihren rückständigen Haltungen in gesellschaftlichen Fragen hat sie immer mehr Leute in der unionistischen Community vergrault. Sie hat bislang keine Einsicht gezeigt, dass ihre Unterstützung des harten Brexits eine monumentale Fehlkalkulation war – stattdessen poltert sie weiter gegen äußere Gegner. Aber selbst lautstarke Kampagnen gegen den Brexit-Vertrag wird ihren Abstieg kaum aufhalten können.

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