Alle auf die Bühne: Wie das junge Theater sein Publikum von Schranken und Barrieren befreit

Die Festivals „Westwind“ und „Impulse“ zeigen seit Jahren Theater nah am Leben: zwischen Pop, Spektakel und Diskurs

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Abenaa Prempeh, Markus Schabbing und William Cooper performen „Es liegt was in der Luft“ auf der Bühne: Eine kleine Figur schwimmt über einen Ozean aus einer Folie.

Theater ist langweilig oder zu „hoch“? Das ist alles abgehoben und man versteht nichts? Da muss man stillsitzen?

Von zwei Festivals soll hier die Rede sein. Beide feiern ein Theater, das sich schon seit Jahren mit großen Schritten auf sein Publikum zubewegt.

Im Westwind Festival zeigen Kinder- und Jugendtheater einmal im Jahr in wechselnden Städten in NRW ihre Produktionen, dieses Jahr zum vierzigsten Mal und in Essen, wo das Maschinenhaus Gastgeber ist. Die Theater bewerben sich mit ihren Stücken, das Festival zeigt eine Auswahl von Produktionen, die um unterschiedliche Preise konkurrieren.

Beim Impulse-Festival stellen seit rund 30 Jahren Freie Gruppen Produktionen vor, die im deutschsprachigen Raum entstanden sind; dort sieht man oft neue Theaterformen. Das Festival bespielt Orte in NRW, zuletzt Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr, die Städte sind hier Mitveranstalter. Diesmal wurde auch in der Bundeskunsthalle Bonn gespielt.

Beide Festivals, das Westwind und die Impulse, gelten als Gradmesser für Neuerungen, Trends, Diskurse

– als ein Spiegel von Gesellschaft, Kunst und Darstellungsformen. Hier lässt sich vielleicht noch sehr viel mehr als im klassischen Theater ablesen, was Menschen beschäftigt und welche Formen des Zusammenlebens sie sich wünschen.

Schon 2007 bewies der legendäre „Räuber Hotzenplotz“ der Gruppe „Showcase Beat Le Mot“ aus Berlin, dass die Schnittmenge zwischen Kinder- und Freiem Theater das eigentlich Reizvolle ist: ein Theater, mit dem jede:r was anfangen kann. Showcase Beat Le Mot zeigt den Hotzenplotz seit Ende 2023 wieder.

Kinder- und Jugendtheater ohne Zeigefinger

Das Kinder- und Jugendtheater verzichtet schon seit Langem auf den pädagogischen Zeigefinger; beim Westwind Festival lohnt oft jede der Produktionen einen Besuch, Preisgeld und Wettbewerb hin oder her. Eingeladen werden zusätzlich auch immer Gäste von außerhalb NRWs.

Zwei Darsteller halten den Vorhang schräg, ein weiterer klettert ihn wie einen Berg hinauf.
Im akrobatisch-musikalischen Kindertheater „Double You“ der belgischen Gruppe „Be Flat“ sitzt das Publikum auf zwei Seiten eines Vorhangs, der zwischendurch zum Berg wird. Die Kinder dürfen hier mit den roten Sitzkissen werfen

Man sollte auf keinen Fall die Chance verpassen, das belgische Kindertheater zu besichtigen, das oft aufs Westwind Festival eingeladen wird – ein ungeheuer kraftvolles, spielfreudiges, emotionales und oft sehr witziges Theater, von dem wir uns eine Menge Leichtigkeit abschauen können. Drumherum ist Festivalbetrieb mit Zelten und Wiesenspielen. Man isst zusammen Mittag und stand dieses Jahr auch im Zelt nebeneinander, um selbst die Teller und das Besteck zu spülen. Das war übrigens überhaupt kein Problem und war schnell gemacht.

Freies Theater ohne vierte Wand

Das Freie Theater ist zu einer richtigen Bewegung geworden, die auch die Erwachsenen auf die Bühne holt. Gemeinsam entfernen sich Ensembles und Publikum von Vorführ-Effekten hin zu Gestaltungs- und Erfahrungsräumen, in denen die Gruppen oft die Deutungshoheit oder die Kontrolleüber die Geschichte abgeben. In diesem Jahr soll das in der Produktion „Die Verwandlung“ so weit gegangen sein, dass sich das Publikum, nachdem es sich an einem VW-Käfer ausgetobt hatte, sogar für das anschließende Produktionsgespräch selbst befragte, weil alle Performer:innen aus dem Publikum gekommen waren.

Die so genannte „vierte Wand“, die unsichtbar den Zuschauer- vom Bühnenraum trennt – sie ist hier schon lange keine undurchlässige Mauer mehr. Was nicht heißt, dass überhaupt keine Geschichten mehr erzählt werden sollen.

Kinder- und Museumstheater im Spiel der Perspektiven

Zwei junge Frauen liegen auf einem grünen Boden, neben ausgelegten und gefalteten Papierbögen. Über ihnen schwebt eine Leinwand, die den grünen Hintergrund in einen blauen verwandelt und das Papier in Vögel und Fische.
Bei „Drunter und drüber“ von Keren Levi spielen zwei Performerinnen auf einem Green-Screen-Teppich, den die Kinder am Ende betreten und ausprobieren dürfen.

Sehr entspannt entwickelt auf dem Westwind-Festival das Stück „Drunter und drüber“ mit zwei Performerinnen und GreenScreen das Thema von Oben und Unten, Dahinter und Davor, Drunter und Drüber. Die beiden jungen Frauen spielen auf einem grünen, perspektivisch verzerrten Untergrund. Ihr Spiel wird von seitlich oben gefilmt und auf die Rückwand der Bühne projiziert. Die grüne Fläche wird dabei durch andere Hintergründe ersetzt, und alles, was die Frauen horizontal darstellen, erscheint vertikal auf der Leinwand. So können sie auch lange „fliegen“ und „fallen“. Dabei entsteht eine Reise voller Leichtigkeit und fantasievoller Bilder, bei der sich eine Freundschaft ohne Worte bewährt, eine Freundschaft, in der kleine Abenteuer bestanden werden. Am Ende dürfen die Kinder auf die Bühne und den GreenScreen-Effekt ausprobieren, Bilder malen, Blätter falten, selbst bewegtes Live-Bild werden und sich dabei zuschauen.

Eine Performerin steht auf der Bühne, auf die gleichzeitig ein Film von Demonstrationen in Belarus projiziert wird.
In „Uncounted Voices“ von Marina Davydova erzählen ehemalige Mitgliedsstaaten der UdSSR ihre Geschichte, hier Belarus. Zwischendurch strömt auch das Publikum auf die Bühne und besichtigt hier Landkarten und Ausstellungsvitrinen.

Beim Impulse-Festival dürfen die Erwachsenen auch mehr als einmal auf die Bühne, Für einen Moment wird sie zum Museum. Das Thema kann ernster nicht sein: Russland und die alte UdSSR, Ukraine, Belarus, Aserbaidschan, Armenien, Georgien. Museumsvitrinen und Landkarten werden aufgefaltet, die Länder sprechen miteinander als „Museum of Uncounted Voices“, so der Titel des Abends, und es werden viele unvereinbare Linien der Geschichtsschreibung offensichtlich, denn jedes Land erzählt seine eigene Perspektive, und natürlich widersprechen sich die Interpretationen, zum Beispiel dazu, wer in Konflikten jeweils Aggressor ist oder Opfer. Es wird auch offensichtlich, wie sich die Geschichte(n) in einem Leben widerspiegeln, dem der Regisseurin. Durch eine Performerin erzählt sie, wie sie als Tochter eines Armeniers als Heranwachsende aus Aserbaidschan und als Erwachsene aus Russland fliehen musste und immer wiederverschiedene Zuschreibungen von nationaler Identität erfährt, mit denen sie sich mehr oder eben weniger identifizieren kann. Marina Davydova lebt jetzt in Berlin und ist ab 2024 Schauspielchefin der Salzburger Festspiele.

Das Theater ist politisch

Die Impulse waren auch sonst sehr politisch. Außer um Feminismus, Genderfragen und das Problem der Neuen Rechten ging es um Klassismus, die Ausgrenzung aufgrund sozialer Herkunft, und um Postkolonialismus. Eine großartige Performance zeigten Regisseur Julian Hetzel und Darstellerin Ntando Cele mit ihrem Stück „SPAfrica“. Ihr flirrendes Spiel hält perfekt die Balance zwischen Zynismus, dem ständig neuen Umstülpen von Stereotypen, manipulierender Einflussnahme und einem warmen „Abholen“ und „Auffangen“ des Publikums. Tränen sollen wir sammeln, um im Gegenzug Wasser aus Südafrika zu bekommen. Aber wer spricht hier eigentlich? Mit wem wird gesprochen, wer wird ernst genommen, und was soll unser Akt der „Empathie“eigentlich bedeuten? Jede greifbare Aussage kippt sofort wieder, damit bleibt die Beziehung im Fluss und im Werden, und so kann sie vielleicht doch noch gelingen.

Ntando Cele tanzt eine Ganzkopf-Maske von Julian Hetzel, mit der sie schon das Inszenierungsgespräch bestritten hat. Dieses gehört hier zur Aufführung und findet zu Beginn statt.
Spiel mit Zuschreibungen, Stereotypen und Identitäten in „SPAfrica“ von Ntando Cele und Julian Hetzel

Auch die Jugend übt – eine Woche vor den Europawahlen – Demokratie ein, in einer Performance außerhalb des Westwind-Wettbewerbes. Die Gruppe Toboso aus Essen zeigt für das Gast gebende Maschinenhaus „Die Konferenz der kommenden Entscheidungen“. Im Rahmen des Festivals besucht Toboso für seine drei Vorstellungen die Gesamtschule Essen Nord für jeweils drei Stunden mit Pause. Bemerkenswert offene Jugendliche kann man hier kennenlernen, die zwar noch pubertierend kichern, aber auch anerkennend nicken, wenn eine:r von ihnen oder eine:r der wenigen Erwachsenen „auf Besuch“ etwas sagt und damit immer, wie es hier zur Struktur des Stückes gehört, Stellung bezieht, und das auch ganz praktisch im Raum. Am Ende einigen sich alle auf ein Thema, das diskussionswürdig ist. Dabei kommen sehr persönliche Erfahrungen zur Sprache.

Auf einem großen Lüftungsrohr spaziert eine kleine Figur mit einem gelben Luftballon als Kopf durch ein künstliches Schneegestöber durch die Nacht. Die Puppenspieler:innen im Hintergrund sieht man nicht.
„Es liegt was in der Luft“ ist die Geschichte einer Reise zum Erwachsenwerden. Und gleichzeitig ein sinnliches Stück über Luft und Energie.

Theater der großen Bilder und starken Performances

„Es liegt was in der Luft“ dagegen ist Theater zum Zugucken. Mit dem Thema „Luft“ können die Kinder draußen in den Foyer-Räumen im PACT-Zollverein weiterspielen. Verantwortet von Sue Buckmaster und ihrer Gruppe Theatre-Rites in Koproduktion mit dem Jungen Schauspielhaus Bochum, erzählt das Stück von der Reise einer kleinen Figur in großen Bildern: ein Kind, das langsam erwachsen wird. (Mehr über Theatre-Rites auch hier in einem Interview in einfacher Sprache auf unseren Seiten.)

zwei Frauen mit Ballonhosen und zerrissenen Netzoberteilen hocken auf einer violett beleuchteten Bühne. Die eine präsentiert sich der anderen.
Extrem hot und sehr bei sich selbst: Mariana Benengue und Myriam Lucas in „Lounge“, Konzept von Marga Alfeirão.

Im Impulse-Festival ist es die kleine, aber herausragende Produktion „Lounge“, die mit den Performerinnen Mariana Benengue und Myriam Lucas in einem Raum aus Licht und Nebel für große, malerische Bilder sorgt. Eine in Bühne und Kostüm fast monochromatische Produktion, die gleichzeitig aufregend schillert.

Man sieht die beiden Akteurinnen eine lesbische Beziehung tanzen – extrem hot und doch sehr ruhig. Sie geben einander den Rhythmus weiter, bis ihrer beider Bewegungen zu einer einzigen verschmilzt. Sie sehen sich gegenseitig zu, genießen sich und lassen die andere genießen, präsentieren und locken und ruhen dabei tief in sich. Atemlose erotische Spannung beherrscht die Szene. Und doch ist alles sehr entspannt.

zwei Frauen stehen sich im gelben Bühnenlicht gegenüber, die Luft zwischen ihnen knistert.
Erzählung einer intimen, lesbischen, gleichberechtigten Beziehung im Tanz.

„Lounge“ läuft selbst bei den Impulsen sehr spät abends und ist sicher nichts für Kinder.

Bei Westwind dürfen die Kinder dagegen sogar auf die Bühne zum Mittanzen - und lernten so den Stil „Krump“ kennen, mit ausführlichem Publikumsgespräch in großer Runde - auch auf der Bühne. In „Ich kann’s nicht lassen“ tanzen alle Tänzer:innen über die Bühne verteilt. Die Kinder bilden Grüppchen um die Performenden herum, sind sofort mitgerissen, machen automatisch nach kurzer Zeit mit und tanzen selbst. Zwischendurch bilden die Tanzenden einen großen Kreis mit ihrem Publikum und sprechen einzelne Kinder gezielt an, die mit den Künster:innen experimentieren dürfen. Die ganze Gruppe pulsiert 60 Minuten lang umeinander herum. Es ist anstrengend und schön und lebendig und bunt.

Die Tänzer von „Ich kann’s nicht lassen“ tanzen mit jungem Publikum auf einer bunten Bühne.
In Janne Gregors „Ich kann’s nicht lassen“ läuft das junge Publikum über die Bühne von Tänzer zu Tänzer und kommt so automatisch selbst ins Tanzen und Nachmachen.

Eine ganz andere Körperlichkeit beherrscht die Produktion „Old White Clowns“ – eine Reflexion von Pantomime an Hand der Lebensgeschichte des Pantomimen Jean-Gaspard Deburau, der im 19. Jahrhundert den „Pierrot“ darstellte. In „Old White Clowns“ vergegenwärtigen ein Schauspieler, eine Tänzerin und natürlich ein Pantomime in ihrem Spiel ganz beiläufig, wie viel Tradition in unserer Pop-Kultur noch vorhanden ist. Den „Joker“ erkennt man hier schnell; und er ist genau so gruselig wie im gleichnamigen Film. Hier jedoch regiert Volkstheater-Humor und es wird wirklich lustig.

Drei weiß gekleidete Pierrots lehnen erschöpft an der Bühnenrückwand beieinander.
Max Merker mit Emma Murray und Téné Ouelgo in „Old White Clowns“

Damit ist bei Weitem nicht jede Produktion der beiden Festivals erwähnt. Es soll nur deutlich geworden sein, wie sehr sich dieses Theater lohnt.

Den Termin für das nächste Westwind-Festival kann man schon mal im Kalender notieren. Vom 31.05. bis 06.06.2025 wird es in Düsseldorf stattfinden. Die neue Leitung des Festivals „Impulse“ ist gerade erst bekannt gegeben worden.

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