Mit Annie Ernaux ehrt die Nobelpreisjury eine Meisterin des autobiografischen Schreibens

Der renommierte Literaturpreis geht an eine Autorin, die mit ihrer Erinnerungsarbeit zugleich die sozialen Unterschiede der französischen Gesellschaft aufdeckt

4 Minuten
Halbfigurporträt einer 82-jährige attraktive Frau, im Hintergrund Himmel und Bäume.

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erhält in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur. Die 1940 in der Normandie geborene Autorin hat in Deutschland erst in den letzten Jahren begeisterte Leser*innen gefunden. Nun gehörte sie zu den Favorit*innen für den Literaturnobelpreis. Eine Überraschung war ihre Auszeichnung dennoch: Denn autobiografischem, autofiktionalem Schreiben wie ihrem hängt nach wie vor ein Makel an. Dabei schöpfen so gut wie alle Schriftsteller*innen aus ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Entscheidend ist die Frage, wie es ihnen gelingt, ihre Erlebnisse zu transformieren. Annie Ernaux schuf Literatur durch maximale Distanz zum eigenen Leben und prägte damit ein neues Genre, an das junge Autoren wie Édouard Louis anknüpften.

Eben diese neue Qualität hob der Vorsitzende des Nobelkomitees der Schwedischen Akademie Anders Olsson hervor, betonte aber auch, dass die literarische Qualität das zentrale Kriterium für die Auswahl gewesen sei. Annie Ernaux habe eine Erzählweise gefunden, die nicht nur den sozialen Hintergrund des Erlebens eines Jeden sichtbar mache, sondern auch unsere Unfähigkeit zu sehen, wer wir eigentlich sind. Er verglich Ernaux Erinnerungsarbeit mit Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“. Doch gebe sich die Schriftstellerin nicht wie ihr berühmter Vorgänger mit dem Duft eines Gebäcks zufrieden, um sich zu erinnern. Sie nehme einen gänzlich neuen Blickwinkel ein, der ihr das Schreiben über ihr Leben erst ermögliche.

Die Autorin schafft eine maximale Distanz zu schmerzhaften Momenten ihres Lebens, und beschreibt schnörkellos Momente verdrängter Wahrheit. „Dabei geht es nicht um mein Leben oder Ihr Leben oder irgendein Leben“, sagte die Schriftstellerin in einem Interview, sondern das Leben in seinen Ausprägungen, die für alle gleich sind, aber unterschiedlich empfunden werden.“