Als das Leben sterblich wurde
Wie die Evolution den Tod erfand, warum uns die Aussicht zu sterben schreckliche Angst einjagt und weshalb sich unser Gehirn mit der eigenen Endlichkeit so schwertut

Anfangs hatte der Tod keinen Platz auf der Erde. Erst als Organismen komplexer wurden, hielt das Sterben Einzug ins Leben – und die Angst: Denn als sich Gehirne entwickelten, kamen auch Gefühle ins Spiel. Zusammen mit dem Bewusstsein seiner selbst und der Fähigkeit, in die Zukunft zu planen, ergab das beim Menschen eine dramatische Mixtur.
Menschen sind offenbar die einzigen Lebewesen, die von ihrer Sterblichkeit wissen. Zwar scheinen auch manche Tiere zu spüren, wenn sie dem Tod nahe sind. Hunde- und Katzenbesitzerïnnen etwa berichten, dass ihre Lieblinge sich in der letzten Lebensphase häufig zurückziehen. Das ist von Tieren in freier Wildbahn ebenfalls bekannt. Manchen Vierbeinern setzt der Anblick dahingeschiedener Artgenossen sogar zu: So versammeln sich Elefanten um verstorbene Herdenmitglieder, bleiben längere Zeit bei ihnen, beschnüffeln und berühren sie. Beobachtungen aus Kenia belegen sogar die Versuche einiger Tiere, tote Artgenossen wieder aufzurichten. Aber auch bei Menschenaffen sind Trauerreaktionen typisch.

Als im Gombe-Nationalpark in Tansania ein Schimpansen-Mann von einem Baum gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte, starrten die aufgeregten Gruppenmitglieder den Leichnam zuerst an, umarmten und tätschelten sich gegenseitig, grinsten nervös. Dann näherten sich einige, berührten den Toten und rochen an ihm. Erst nach drei Stunden ließ das Interesse der Hinterbliebenen nach. So berichtet es der Primatenforscher Frans de Waal in seinem Buch „Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote“.
Weitere Beispiele: In einem Reservat in Kamerun drängten sich die Gruppenmitglieder eng um den Leichnam einer verstorbenen Schimpansendame, beguckten den Körper und verharrten in auffälliger Ruhe. Und in einem schottischen Safari-Park versammelten sich die anderen Schimpansen um ein sterbendes Weibchen, kraulten und streichelten es, und seine erwachsene Tochter harrte die ganze Nacht am Leichnam aus. Häufig beobachtet wurde zudem, dass Schimpansenmütter ihre verstorbenen Babys noch wochenlang mit sich herumschleppten.
Auch manche Tiere spüren, wenn das Ende naht
Solche Beobachtungen zeigen, wie sich Tiere angesichts des Todes verhalten. Doch niemand vermag zu sagen, was sie beim Anblick verstorbener Artgenossen wirklich empfinden oder ob sie den Tod fürchten, wenn sie ihn erahnen.
Beim Homo sapiens indes ist sicher, dass er schon in jungen Jahren und noch bei bester Gesundheit weiß, dass sein Leben eines Tages enden wird. Die Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit ist der Preis für ein hochentwickeltes Gehirn, das uns ein Ich-Bewusstsein beschert, dem intelligente Lösungen für komplizierteste Probleme einfallen, das sich erinnert, plant und Visionen von der Zukunft erlaubt. Und das eben auch den Tod als unausweichlich sieht.
Wir sehen aber nicht nur dieses Ende voraus, sondern fürchten auch Krankheit, Schmerz, Siechtum und Einschränkungen, die uns auf dem Weg dorthin zu begleiten zu drohen. Einen großen Teil dieses Leids kann uns die moderne Medizin ersparen, kann das Sterben leichter machen. Das wissen wir. Doch das Ende, das endgültige Verlöschen der eigenen Existenz, wird dadurch nicht weniger unheimlich, nicht weniger bedrohlich. Die Angst vor dem Tod muss viel tiefere Gründe haben, muss viel fundamentaler in uns wurzeln.

Uns alle quält die Frage: Warum müssen wir sterben?
Philosophie, Psychologie, Theologie und Hirnforschung beschäftigen sich seit langem damit und versuchen Antworten zu geben. Auch die Evolutionsbiologie vermag dazu etwas zu sagen. Sie liefert aus der ihr eigenen Perspektive Anhaltspunkte dafür, woher die Angst kommt, weshalb wir uns das ewige Leben wünschen, warum wir um Verstorbene trauern, was uns ermöglicht den Tod vorauszusehen – und weshalb ein jeder Körper vergehen muss. Denn den Tod, so zeigt die Geschichte des Lebens, gab es nicht von Anfang an. Er kam erst vor gut einer Milliarde Jahren in die Welt. Und das geschah so.
Vor knapp vier Milliarden Jahren entsteht auf unserem Planeten das Leben. Allerdings sind die ersten Kreaturen sehr einfache, bakterienähnliche Lebewesen – und im Prinzip unsterblich. Denn sie bestehen aus winzigen Zellen, die ein wenig Erbsubstanz enthalten und sich vermehren, indem sie sich einfach teilen. Ein solcher Einzeller kann sich also immer wieder teilen und damit quasi ewig leben. Natürlich sind diese Wesen nicht gegen widrige Umstände gefeit; sie können verhungern, an Hitze zugrunde gehen oder gefressen werden. Aber einen zwangsläufigen Tod gibt es damals nicht.
Wenn Zellen sich teilen, können sie quasi ewig weiterleben
Das ändert sich auch mit dem nächsten Meilenstein der Evolution des Lebens noch nicht: Vor rund zwei Milliarden Jahren entsteht ein neuer Typ von Zellen; ihr Durchmesser ist zehn- bis 20-fach größer als der von Bakterien, ihr Volumen riesig und ihr Inneres in viele spezialisierte Abteilungen gegliedert. So enthalten sie einen Zellkern, der die Erbsubstanz beherbergt, sowie zahlreiche Mini-Kraftwerke, die Energie bereitstellen. Aber wie die Bakterien vermehren sich diese höheren Zellen durch Teilung, auch ihnen ist der Tod noch fremd. Weil aber diese kompliziert gebauten, riesigen Zellen extrem vielseitig sind und völlig neue Möglichkeiten eröffnen, kommt es zur nächsten Revolution in der Geschichte des Lebens.

Denn irgendwann beginnen sich einzelne Zellen aneinanderzuheften nach dem Motto „zusammen sind wir stärker“. Vielleicht geschieht das anfangs rein zufällig, indem sich zwei, nach einer Teilung entstandene Zellen einfach nicht voneinander lösen. So bilden sich Zellhaufen – die ersten Vielzeller entstehen. Dabei kommt noch etwas hinzu, denn einzelne Zellen in dieser Gemeinschaft übernehmen spezielle Aufgaben: Die einen bilden eine schützende Außenhülle, andere verdauen aufgenommene Nahrung, manche sorgen für Beweglichkeit, einige konzentrieren sich darauf, Reize – etwa Licht – zu registrieren. Dank dieser Spezialisierung wird aus dem anfänglichen lockeren Zusammenschluss von Zellen im Laufe vieler Jahrmillionen ein Organismus mit Beinen, Sinnes- und Verdauungsorganen. Also etwas, das einem simplen Einzeller weit überlegen ist.
Die „Erfindung“ des Körpers fordert einen hohen Preis
So vorteilhaft ein mächtiger, komplexer Körper erscheint: Das Lebewesen muss dafür ein großes Opfer bringen. Denn die meisten Zellen sind derart spezialisiert, dass sie sich nicht mehr fortpflanzen können. Das übernehmen wiederum Spezialisten: Keimzellen, die als Spermien oder Eizellen dafür sorgen, dass ein neues Lebewesen mit neuem Körper entsteht. Der Rest aber, die ganzen spezialisierten Körperzellen, sind zum Untergang verurteilt, wenn der Organismus altert und nicht mehr richtig funktioniert. Er endet als Leichnam. Der Tod, so wie wir ihn heute kennen, ist nun in der Welt. Er ist der Preis dafür, dass sich zig Milliarden spezialisierter Zellen zu einem perfekten Organismus zusammenschließen können.

Vor rund 1,2 Milliarden Jahren entstehen die ersten Vielzeller – als Ahnen aller heutigen Pflanzen. Sie beziehen ihre Lebensenergie vom Sonnenlicht und bauen damit ihre Körper auf. Zwei weitere große Gruppen von Vielzellern entwickeln sich später: Zum einen die Pilze, die davon leben, verrottendes Material zu konsumieren. Zum anderen die Vorfahren sämtlicher heute existierender Tiere – einschließlich uns Menschen. Tiere produzieren ihre Energie nicht selber, sondern sie sind quasi Schmarotzer, die von den energiereichen Molekülen profitieren, die die Pflanzen mithilfe des Sonnenlichts herstellen. Sie futtern Grünzeug oder jagen andere Tiere.
Um zu überleben, benötigen Tiere elementare Fähigkeiten: Sie müssen ihre Umgebung erkennen und sich darin bewegen, um Nahrung aufzuspüren, Partner zu finden, Gefahren auszuweichen oder vor Feinden zu fliehen. Aus diesem Grund entwickeln Tiere ein Nervensystem, ein Gehirn, das Sinnesreize verarbeitet und das Verhalten steuert. Und gleichzeitig liegt hier eine der Wurzeln, weshalb wir heute den Tod fürchten.
Angst ist ein uraltes Gefühl
In der frühen Phase der Gehirnentwicklung sind es Triebe (wie Hunger oder Durst), Motivationen (zum Beispiel Lust) und Gefühle (etwa Furcht oder Wut), mit denen ein Tier auf die Welt reagiert, und es nutzt dazu vorgegebene Verhaltensprogramme. Eines der stärksten Gefühle aber ist die Furcht beziehungsweise die Angst (Furcht bezieht sich eher auf eine konkrete Gefahr, etwa den Anblick eines Tigers – mit Angst ist meist das langfristige Gefühl einer diffusen Besorgnis oder Bedrohung gemeint). Das Gefühl dient dazu, den Körper auf eine lebensrettende Reaktion angesichts einer starken Bedrohung vorzubereiten – um entweder aus der Gefahrensituation zu fliehen oder aber um sein Leben zu kämpfen.
Im Gehirn heutiger Säugetiere ist dafür die Amygdala, auch Mandelkern genannt, zuständig. Erhält sie von anderen Gehirnteilen, die lebensbedrohliche Situationen identifizieren können, ein Angst auslösendes Alarmsignal, setzt sie eine dramatische Rettungsaktion in Gang. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol überfluten den Körper, Herzschlag, Blutdruck und Atmung schnellen in die Höhe, die Muskeln werden in äußerste Leistungsbereitschaft versetzt. Die Leber schüttet Blutzucker aus, um Energie bereitzustellen, Schweißausbrüche beugen einer Überhitzung des Körpers vor, die Verdauung wird heruntergefahren und jede sexuelle Regung unterdrückt. So wird der Körper in einer brachialen Reaktion maximal auf Flucht oder Auseinandersetzung vorbereitet. Und das dürfte ein riesiger Vorteil im Kampf ums Überleben gewesen sein.

Es sind sehr alte Hirnteile, in denen die Angst und weitere Gefühle ihr Zuhause haben. Doch im Lauf der Weiterentwicklung erweitern andere Gehirnareale das Spektrum der Fähigkeiten. Vor allem das Großhirn gewinnt an Bedeutung. Tiere können immer mehr Erinnerungen speichern, aus Erfahrungen lernen und starre Verhaltensprogramme durch erlernte ersetzen. Irgendwann kommt auch das hinzu, was wir heute Intelligenz nennen, also die Fähigkeit Probleme zu erkennen und dafür Lösungen zu finden.
Wie das „Ich“ in die Welt kam
Zwei weitere geistige Qualitäten tauchen schließlich bei Tieren auf. Zum einen ist es das Bewusstsein – ein nur schwer zu greifendes Phänomen, erlaubt es doch Lebewesen, Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu lenken und aus dem riesigen Datenstrom, der das Gehirn durchflutet, das Wichtige herauszufiltern.
Zum zweiten aber entwickeln einige Tiere – etwa Elefanten, Schimpansen, Delfine, Raben und natürlich der Mensch – ein Bewusstsein ihrer selbst, ein „Ich“. Das hilft ihnen, sich selbst als Individuum wahrzunehmen, das sich von anderen unterscheidet. Vor allem beim Zusammenleben in einer Horde ist das Ich-Bewusstsein von Vorteil, weil sich ein Lebewesen so besser in die übrigen Gruppenmitglieder hineinzuversetzen vermag und abschätzen kann, wie diese sich gerade fühlen oder was sie vorhaben.
Der Mensch kann sich als einziges Lebewesen die Zukunft vorstellen
All diese höheren geistigen Fähigkeiten machen fitter, um in dieser Welt zurecht zu kommen und zu überleben. Beim Homo sapiens sind sie besonders stark ausprägt und mehr noch: Menschen scheinen die einzigen Wesen auf diesem Planeten zu sein, die sich die ferne Zukunft vorstellen können. Kraft seines Verstandes und seiner Intelligenz vermag der Homo sapiens Szenarien zu entwerfen, mit denen er durchspielt, was morgen oder übermorgen geschehen könnte. Das hat den Vorteil, sich auf kommende Dinge vorbereiten zu können. Menschen legen zum Beispiel Vorräte an, wenn sie dank eines gedanklichen Szenarios erwarten, dass die Nahrung in ein paar Monaten knapp wird.

In einer Hinsicht aber scheint die Bündelung besonderer Fähigkeiten fatale Folgen zu haben. Weil der Mensch Bewusstsein hat und in die Zukunft schauen kann, erkennt er, dass er sterblich ist. Das wirkt wie ein Schock, denn damit ist sein bewusstes Ich – das Wichtigste, was ihn ausmacht – bedroht. Kein Wunder, wenn diese Vorstellung Angst auslöst. Während normalerweise Angst und Furcht dazu dienen, einer Bedrohung Stand zu halten oder sie zu vermeiden, ist das nun nicht möglich. Der Tod wird kommen und das Ich unwiderruflich auslöschen.
Für ein solches Szenario aber hat die Evolution keinen „Plan“. Auf der einen Seite steht der Überlebensinstinkt, so ziemlich der stärkste Antrieb eines jeden Lebewesens. Er dient dazu, trotz aller Gefahren immer weiter zu kämpfen und alles zu tun, um länger auf der Erde zu verweilen. Wer überlebt und sich fortpflanzt, hat einen immensen Selektionsvorteil. Seine Gene werden in die nächste Generation überliefert und bringen wiederum Individuen mit starkem Überlebenswillen hervor.
Die Selbsterkenntnis macht den Homo sapiens zu einer tragischen Figur
Auf der anderen Seite ist kaum ein evolutiver Mechanismus vorstellbar, der darauf hinwirkt, dass wir „gerne“ sterben, dass wir den Tod akzeptieren. Er ist und bleibt die schlimmste Bedrohung für unser „Ich“ und das Gehirn konnte von der Evolution nie dafür trainiert werden, ihn zu begreifen – schlicht, weil es in dem Moment aufhört zu existieren, wenn es ihn „erlebt“.

Diesem Zwiespalt zwischen Überlebenswillen und der Erkenntnis, dass er sterben muss kann der Mensch nicht entkommen. Er wird zu einer tragischen Figur in einem Schauspiel, das keinen Ausweg bietet.
Vor mehr als 95.000 Jahren begannen Menschen, ihre Toten zu bestatten
Wann mag sich dieses tragische Begreifen erstmals abgespielt haben? Es ist zu vermuten, dass die Menschen angesichts des Schocks der eigenen Sterblichkeit begannen, sich ein Weiterleben nach dem körperlichen Tod vorzustellen. Darauf geben erste Beerdigungen von Toten Hinweise. Denn wer sich um die Verstorbenen sorgt, dürfte auch an eine Existenz jenseits des leiblichen Endes glauben. Eine Bestattung vor 95.000 Jahren ist etwa aus dem Nahen Osten dokumentiert. In Europa lässt sich eine ausgeprägte Totenfürsorge ab 45.000 Jahren nachweisen, der Zeit, in der sich der Homo sapiens hier rasch ausbreitete. Vor gut 30.000 Jahren wurden die Beisetzungen auf unserem Kontinent vielfältiger und aufwändiger.

Bis heute ist der Glaube an ein Jenseits, an ein Weiterleben im Paradies eine der gnädigsten Möglichkeiten, dem Schrecken des Todes etwas entgegenzusetzen. Eine andere, der heutigen, wissenschaftsgläubigen Zeit eher entsprechende Reaktion ist der Wunsch nach einem ewigen Leben hier auf der Erde. Biologie und Medizin haben in den letzten Jahrzehnten so viele neue Möglichkeiten aufgezeigt, Krankheiten zu kurieren und Alterungsprozesse zu verstehen, dass ein quasi ewiges Leben als denkbare Vision erscheint.
Unsterblichkeit wäre keine Lösung
Was aber würde geschehen, wenn wir den biologischen Alterungsprozess verzögern und den körperlichen Tod vermeiden könnten? So schön die Vorstellung für den Einzelnen ist, so dramatisch wären die Folgen für unseren Planeten. Es würden sich immer mehr Alte, Uralte und Ewig-Lebende ansammeln und einer immer kleineren Schar von jungen Menschen gegenüberstehen. Es würde kaum noch lachende Kinder geben, kaum revoltierende Jugendliche oder junge Leute, die vor Ehrgeiz strotzen und davon träumen, die Welt zu verändern. Wer würde das wirklich wollen?
Da möchte man fast froh sein über die „Weitsicht“ der Evolution, die uns dank der Erfindung des Todes ein solches Szenario bislang erspart hat. Biologisch gesehen ist das Sterben eine Notwendigkeit, ohne die es keine Weiterentwicklung geben kann. Denn nur weil sich Lebewesen fortpflanzten, ums Überleben rangen und die Alten verschwanden, um der nachfolgenden, besser angepassten Generation Raum zu geben, konnte es die bisherige Evolution geben. Ohne den Tod wäre der Homo sapiens, der in die Zukunft blickende Mensch nie entstanden. Und hätte sich auch keine Gedanken über das Sterben machen oder sich gar davor fürchten können.