ADHS-Risiko, Hirntumor-Typologie und Schildkröten-Geschlecht

Der Newsletter Epigenetik 29 ist erschienen

6 Minuten
Fünf übereinander gelegte Hefte des Newsletter Epigenetik bilden eine Art Fächer.

Das Titelbild des „Newsletter Epigenetik 29“ vom Juni 2018 zeigt die Kelly Zwillinge.
Titelbild des „Newsletter Epigenetik 29“. Für einen Blick ins Inhaltsverzeichnis weiterblättern.
Inhalt: Grundlagenforschung ab Seite 4: Die einzigartigen Kelly-Zwillinge und so weiter
Inhaltsverzeichnis „Newsletter Epigenetik 29“

Heute erscheint die 29. Ausgabe des Newsletter Epigenetik. Dieser unabhängige, seit dem Jahr 2010 alle drei bis fünf Monate publizierte Newsletter fasst die wichtigsten Neuigkeiten aus einem der spannendsten Forschungsgebiete unsere Zeit zusammen: der Epigenetik. Ich bin Autor und Herausgeber des Newsletters, und ich schreibe auf dieser Publikationsplattform Erbe&Umwelt. Unterstützt wird der Newsletter Epigenetik durch ein achtköpfiges Gremium aus Mediziner*innen und Forscher*innen, die mich als Mitherausgeber beraten. Den gesamten Newsletter sowie Informationen über die Mitherausgeber*innen und ein Archiv mit sämtlichen bisher erschienenen Beiträgen, finden Sie auf www.newsletter-epigenetik.de.

In der neuen Ausgabe erfahren Sie, warum es auch epigenetisch einen Unterschied macht, ob man ins Weltall fliegt oder auf der Erde bleibt. Untersucht hat das die NASA an einem einzigartigen Zwillingspaar. (Dazu und zu einigen anderen besonders wichtigen Themen finden sich übrigens hier auf Erbe&Umwelt ausführliche Hintergrundartikel). Sie lernen, dass es die Außentemperatur im Zusammenspiel mit der Epigenetik ist, die über das Geschlecht bei Schildkröten entscheidet. Und Sie werden vermutlich überrascht sein, dass es das Risiko von Menschen erhöht, ein Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom ADHS zu bekommen, wenn ihre Großmütter in der Schwangerschaft ein hormonähnliches Medikament eingenommen hatten. Womöglich sind ähnlich wirkende Plastikinhaltsstoffe mit Schuld am derzeitigen Anstieg von Entwicklungsstörungen wie ADHS oder Autismus? Apropos Autismus: Hier könnte ein epigenetisches Medikament manchen Betroffenen gegen ihre sozialen Auffälligkeiten helfen.

Optimistisch stimmt auch, dass es manchen Tierarten offenbar mit Hilfe ihrer Epigenetik gelingt, besser als erwartet mit dem menschengemachten Klimawandel zurechtzukommen, und dass es neue Strategien und Methoden im Kampf gegen gefährliche Hirntumore gibt. Persönlich freue ich mich zudem über zwei Meldungen aus dem Bereich Medien: Der NewsletterEpigenetik hat über eine spannende Studie schon acht Monate vor der New York Times berichtet, nämlich im September 2017. Und der renommierte Trierer Stressforscher Dirk Hellhammer nahm sich die Zeit für ein ausführliches exklusives Interview, in dem er auf vier Jahrzehnte Stressforschung zurückblickt. In voller Länge habe ich dieses Gespräch übrigens schon im April hier bei Erbe&Umwelt veröffentlicht.

Sozusagen als kleine Appetithäppchen serviere ich Ihnen an dieser Stelle drei Meldungen aus dem aktuellen Newsletter. Den gesamten Newsletter können Sie auf www.newsletter-epigenetik.de herunterladen. Dort können Sie sich auch für ein kostenloses E-Mail-Abonnement anmelden.

Was die Schildkröte zum Mann macht

Chutian Ge et al.: The histone demethylase KDM6B regulates temperature-dependent sex determination in a turtle species. Science, 11.05.2018, S. 645–648.

Bei vielen Reptilienarten bestimmen anders als beim Menschen keine Geschlechtschromosomen darüber, ob Sie männlich oder weiblich werden, sondern die Außentemperatur in einem kritischen Zeitfenster während der Entwicklung des Eis. Das ist schon lange bekannt. Und weil die Epigenetik fast immer ein Wörtchen mitredet, wenn Umwelteinflüsse und andere Signale von außen die Identität von Zellen oder Geweben verändern, ging man schon länger davon aus, die Festlegung des Geschlechts dieser Tiere sei letztlich ein epigenetisches Phänomen. Nun lieferten Wissenschaftler der Duke University in Durham, USA, mit Kollegen der chinesischen Universitäten in Ningbo und Hangzhou einen klaren Beleg für diese These.

Die Forscher verfolgten die Entwicklung von Eiern der früher auch im deutschen Tierhandel verbreiteten Rotwangen-Schmuckschildkröte. Beträgt die Außentemperatur 26 Grad entwickeln diese sich zu Männchen, bei 32 Grad schlüpfen aus ihnen zukünftige Weibchen. Nun analysierten die Forscher, welche Gene die Keimdrüsen der Tiere zu welchem Zeitpunkt ablesen und was die so entstehenden Proteine bewirken. Es stellte sich heraus, dass ein Gen namens Kdm6b, das nur bei niedrigen Temperaturen aktiv wird, die Reptilien zu Männern werden lässt, und zwar indem sein zugehöriges Protein als epigenetisches Enzym Methylgruppen an einer bestimmten Stelle (H3K27) von Histonproteinen entfernt, die in der Nähe des Regulators für das Gen Dmrt1 an die DNA angelagert sind. Dadurch lockert sich in diesem Bereich das Chromatin genannte DNA-Histon-Gemisch, und das Gen wird aktivierbar. Schließlich wird es abgelesen und die von ihm kodierten Proteine starten die Entwicklung des Tieres zum Mann. Hemmten die Forscher Kdm6b wurden fast alle Eier auch bei 26 Grad Umgebungstemperatur zu Weibchen. Aktivierten die Forscher zusätzlich Dmrt1 entstanden hingegen wieder Männchen.

Drei Bilder mit grün und rot angefärbten Geweben. Die Zellen schließen einen Hohlraum ein.
Unreife Keimdrüsen dreier Schildkröten unter dem Mikroskop. Zukünftige Keimzellen sind rot gefärbt. Das mittlere Bild zeigt eine zum Hoden (links) bestimmte Keimdrüse, die sich wegen der Hemmung des Gens Kdm6b in Richtung Eierstock (rechts) entwickelt.

Beginnt ADHS manchmal schon im Großmutterleib?

Marianthi-Anna Kioumourtzoglou et al.: Association of exposure to diethylstilbestrol during pregnancy with multigenerational neurodevelopmental deficits. JAMA Pediatrics, 21.06.2018, Online-Vorabpublikation.

Entwicklungsstörungen wie ADHS oder Autismus werden immer häufiger. Die Ursachen liegen aber noch weitgehend im Dunkeln. Nun kommt die generationsüberschreitende Epigenetik als Faktor ins Spiel. Außerdem könnte der zunehmende Gebrauch hormonaktiver Umweltchemikalien eine Teilschuld haben. Wurden Frauen, die vor vielen Jahren mit Töchtern schwanger waren, hormonaktive Medikamente verabreicht, scheint das nämlich bereits die zeitgleich heranreifenden Eizellen der Töchter epigenetisch so verändert zu haben, dass sich das ADHS-Risiko der daraus eines Tages entstehenden Enkelgeneration leicht erhöht. Zu diesem Schluss kommen Forscher aus den USA nach der Auswertung der Angaben von 47.540 Teilnehmerinnen der bekannten Nurses Health Study.

In 861 Fällen hatten die Mütter der befragten Krankenschwestern gegen Schwangerschaftskomplikationen das inzwischen verbotene Mittel Diethylstilbestrol genommen. Bei den Kindern dieser Krankenschwestern liegt der Anteil der ADHS-Fälle um 36 Prozent höher als in der anderen Gruppe. Unabhängig vom Geschlecht sind 7,7 statt 5,5 Prozent der Kinder betroffen. Wurde das Mittel bereits im ersten Trimester eingenommen, beträgt der Anteil der betroffenen Kinder absolut gesehen sogar knapp 9 Prozent, er liegt also 63 Prozent über dem Vergleichswert.

Die Forscher raten nun insgesamt zur Vorsicht im Umgang mit den vielen verschiedenen Formen der auch als endokrine Disruptoren bezeichneten hormonaktiven Substanzen. Nicht nur als Medikamente, auch als Umweltchemikalien – etwa als Plastikinhaltsstoff Bisphenol A – könnten sie über mehrere Generationen wirkende epigenetische Veränderungen auslösen, die das Risiko für Entwicklungsstörungen aller Art erhöhten. Als Umweltchemikalie seien sie zwar viel weniger wirksam und auch sehr viel geringer konzentriert, aber sie seien allgegenwärtig. Und dass Vertreter der Substanzklasse zumindest theoretisch über bis zu fünf Generationen anhaltende Veränderungen der Genregulation induzieren können, wisse man bereits aus mehreren Experimenten mit Mäusen.

Neuer Algorithmus erkennt viele Typen von Hirntumoren

David Capper et al.: DNA methylation based classification of central nervous system tumours. Nature 555, 22.03.2018, S. 489–474.

Es gibt etwa hundert verschiedene Arten von Tumoren des Zentralnervensystems (ZNS), darunter vor allem Hirntumoren. Kein Wunder, dass es sehr schwierig ist, die Krankheit eines individuellen Patienten einem bestimmten Tumortyp zuzuordnen. Für optimale Behandlungen und zuverlässige Prognosen ist die korrekte Einordnung der Krankheit aber unerlässlich. Aus diesem Grund hat der Heidelberger Onkologe Stefan Pfister mit einer großen internationalen Schaar von Kolleg*innen in den vergangenen Jahren einen Algorithmus entwickelt, der anhand des epigenetischen Musters der angelagerten Methylgruppen (CH-3) an der Tumorzell-DNA zuverlässige Aussagen über die genauere Natur des Tumors erlaubt.

Zunächst entwickelten die Forscher ein Computer-Programm, das sich selbst mit Hilfe maschinellen Lernens immer mehr verbessert und versucht, das Muster der DNA-Methylierung von Tumoren einzuordnen. Nachdem sie dieses Programm mit Daten von 2.800 Patienten trainiert hatten, erkannte es zuverlässig 91 verschiedene Arten von ZNS-Tumoren. Dann testeten die Forscher das Programm an mehr als 1.100 Patienten und verglichen die Resultate mit klassisch per Pathologie erstellten Diagnosen. Dabei stellte sich heraus, dass die Pathologen in 12 Prozent der Fälle falsch gelegen hatten. Vor allem extrem seltene Unterarten des Krebses werden mit Hilfe des Algorithmus besser erkannt. Vermutlich hilft das Programm sogar dabei, neue Tumortypen zu entdecken.

Die Forscher wünschen sich nun, dass ihr Programm Eingang in die Routine-Diagnostik findet. Es existiert bereits eine Internetseite auf der das Programm der Öffentlichkeit zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung gestellt wird (www.molecularneuropathology.org). Außerdem sehen die Autoren in ihrem Ansatz „eine Blaupause für die Entwicklung ähnlicher auf maschinellem Lernen basierender Instrumente zur Tumor-Klassifikation weiterer Krebsarten“. Die neue Idee habe „das Potenzial, die Tumorpathologie grundlegend zu verändern“.

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