Kriegstrauma auf dem Teller

Entbehrung, Leid und traumatische Erfahrungen im Krieg können noch über Generationen hinweg psychische Folgen haben. Eine Studie zeigt nun erstmals, dass auch die Ernährungsgewohnheiten generationsübergreifend von Kriegserfahrungen bestimmt werden. Vor allem Frauen zahlen einen sehr hohen Preis für die Fortsetzung des Krieges auf dem Teller.

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Eine Pfütze in Tellerform, daneben Messer und Gabl

Als Efi Adamopoulou ihre Großeltern einmal auf ihren hohen Fleischkonsum ansprach, erhielt die Ökonomin eine Antwort, die sie erstaunte: „Wir genießen das, was wir im Krieg so sehr entbehren mussten“, erklärte ihre Oma mit großer Selbstverständlichkeit noch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

„Mein Interesse war geweckt“, sagt die Wissenschaftlerin, die sich am Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) mit den Ursachen sozialer Ungleichheit beschäftigt. Gemeinsam mit Kolleginnen der Erasmus-Universität Rotterdam und der Global Labor Organization untersuchte Adamopoulou daraufhin die Frage, welche Folgen kriegsbedingte Mangelerfahrungen in der Kindheit für die lebenslangen Ernährungsgewohnheiten haben.

Ihre dieser Tage vorgestellte Studie zeigt: Hungererfahrungen während der Kindheit haben für die Betroffenen ein Leben lang negative Folgen bis hin zum vorzeitigen Krebs-Tod.

Lebenslange Kompensation von Mangelerfahrung – mit weitreichenden Folgen

„Im Krieg aufwachsende Kinder versuchen für den Rest ihres Lebens, den erlittenen Mangel an Fleisch auszugleichen und schießen durch Überkompensation dabei häufig über das Ziel hinaus“, fasst Adamopoulou ihre Studienergebnisse zusammen. „Sie essen häufiger jeden Tag Fleisch und sie geben mehr Geld für Lebensmittel aus als Mitmenschen, die im gleichen Alter keinen Fleischmangel im Krieg erlebten oder die nach dem Krieg aufgewachsen sind.“

Häufiger Übergewicht und sogar Krebs als indirekte Langfrist-Folge der Mangelerfahrung im Krieg

Diese ungesunden Ernährungsgewohnheiten blieben für die Kriegskinder nicht ohne Folgen, fanden die Forscherinnen heraus. Durch den hohen Fleischkonsum und die Überernährung erlitten die Betroffenen deutlich häufiger typische Folgeerkrankungen wie Übergewicht und erkrankten sogar häufiger an Krebs als Angehörige derselben Altersgruppe, die keinen Mangel erlitten haben. Der Teufelskreis aus Entbehrung, Überkompensation und Folgekrankheiten wird der Untersuchung zufolge sogar auf weitere Generationen vererbt. „Auch die Kinder der Kriegskinder übernehmen das Verhalten der Eltern und essen zu viel Fleisch – mit denselben schädlichen Folgen des Überkonsums“, sagt Adamopoulou.

Für ihre vom Mannheimer ZEW herausgegebene Untersuchung griffen die Wissenschaftlerinnen auf Daten des italienischen nationalen Statistikamts zur Ernährung im und nach dem Krieg zurück. Ernährungsgewohnheiten im höheren Lebensalter und Langfrist-Folgen ermittelten sie durch Befragungen und die Analyse medizinischer Daten von rund 13.000 Italienerinnen und Italienern bis zum Jahr 2021. Italien war einer der blutigsten Schauplätze des Zweiten Weltkriegs. Dort bekämpften sich die Alliierten und das faschistische Bündnis aus Deutschland und Italien von 1943 bis zum Kriegsende.

Mädchen bekamen in Mangelzeiten offenbar weniger Fleisch als Jungen

Die Analyse ergab, dass Hunger während des Krieges in Familien aller sozioökonomischen Schichten weit verbreitet war. Zwar waren damit auch alle Kinder vom Nahrungsmangel betroffen, Mädchen litten aber offenbar besonders. Die Forscherinnen stellten fest, dass sie besonders im Kleinkindalter im Durchschnitt stärker an Gewicht verloren als die Jungen. „Jungs bekamen in ländlich geprägten Gegenden offenbar mehr von dem knappen Lebensmittel Fleisch als Mädchen“, sagt Adamopoulou.

Solche geschlechterspezifischen Diskriminierungen waren bislang wissenschaftlich nur aus Entwicklungsländern belegt. In Indien beispielsweise ist nachgewiesen worden, dass Mädchen in Krisenzeiten weniger gestillt werden als Jungen. Die Forscherinnen vermuten, dass der Grund für die Bevorzugung der Söhne in Kriegs-Italien und in den armen Ländern von heute gleich ist: „Die Söhne sollen ihre Kräfte für die Feldarbeit behalten.“

Forschung hilft, Verhalten der Kriegsgeneration auch in späteren Jahren besser zu verstehen

Die Vorzugsbehandlung für Söhne ist der Studie zufolge auch der Grund dafür, dass Frauen in größerer Zahl unter den kriegsbedingten Ernährungstrauma inklusive ihrer gesundheitlichen Folgen leiden als Männer.

Ihre Forschungsergebnisse sieht Adamopoulou nicht nur als einen Beitrag, bisweilen auf Jüngere befremdlich wirkende Verhaltensweisen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration besser verstehen zu können. Auch für aktuelle gesundheitspolitische Debatten könnten die Forschungsergebnisse ihrer Ansicht nach relevant sein.

Lehren für eine künftige Fleischsteuer?

Grundsätzlich stützten die Ergebnisse der Studie beispielsweise die Forderungen nach Einführung einer Fleischsteuer aus ökologischen und gesundheitlichen Gründen. Allerdings sei bei der Bemessung ihrer Höhe Vorsicht geboten. Idealerweise falle eine Steuer so hoch aus, dass sie zu einer Verringerung des Fleischkonsums führe, sagt Adamopoulou. Sie dürfe aber nicht so hoch angesetzt werden, dass sich ein Teil der Menschen kein Fleisch mehr leisten könne. „Dann würde der Schuss nach hinten losgehen.“ Denn auf eine solche Mangelsituation würden Menschen wieder mit Überkompensation reagieren, sobald die Steuer irgendwann wieder abgeschafft würde, glaubt die Ökonomin.

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