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Das sechste Massenaussterben: Gefährdet der Mensch das Leben auf dem Planeten?
Das sechste Massenaussterben: Gefährdet der Mensch das Leben auf dem Planeten?
Klimakrise und Umweltzerstörung führen zu einem dramatischen Artenverlust. Der zeigt sich aber nur beim Blick auf die unsichtbare Masse der Biodiversität.
Don´t look up? In der ziemlich schwarzen Netflix–Komödie wird das Leben auf der Erde durch einen Asteroideneinschlag bedroht. Ähnlich wie beim letzten der fünf Massenaussterben also, dem Ende der Dinosaurier. Ganz real befeuern allerdings die menschengemachte Umweltzerstörung und Klimakrise einen dramatischen Artenverlust. Häufig ist hier bereits von einem sechsten Massenaussterben die Rede, bei dem schon in wenigen Dekaden mehr als eine Million Arten untergehen könnten. Aber ähnlich wie im Film ist die Krise umstritten oder wird sogar ignoriert. Ist das sechste Massenaussterben nun Fakt, Fiktion oder Spekulation? Eine aktuelle Studie kommt zum Schluss, dass wir tatsächlich erleben, was sich zu einem Massenaussterben auswachsen könnte – wie der Blick auf vielfach ignorierte Arten zeigt.
Massenaussterben sind nach der gängigen Definition durch den rapiden Verlust von mindestens 75 Prozent aller Biodiversität gekennzeichnet. Und hier gibt es ein Problem in der Wahrnehmung. Beim Artenschutz stehen überwiegend Säuger und Vögel im Fokus. Wirbellose Tiere wie Spinnen, Insekten und Schnecken bleiben dagegen häufig unbeachtet, obwohl sie bis zu 97 Prozent der Fauna ausmachen und teils extrem gefährdet sind. Wie bedroht eine Art ist, hängt individuell von ihrer Robustheit, Lebensweise und Umwelt ab. Nach der Studie gilt aber ganz allgemein, dass Pflanzen ähnlich unbeachtet, aber wohl weniger vom Aussterben bedroht sind als wirbellose Tiere (Invertebraten). Außerdem sei die marine Fauna zwar sehr stark, aber weniger gefährdet als terrestrische Tiere und hier vor allem die oft einzigartigen Spezies, die nur auf Inseln vorkommen.
Killer auf der Schleimspur
Als beispielhaft für alle Invertebraten untersuchten die Autorïnnen die Lage der Mollusken, zu denen unter anderem Schnecken und Muscheln gehören. Die Zahlen sind erschreckend: Seit dem Jahr 1500 könnten bis zu 260.000 Arten und damit 13 Prozent aller Mollusken ausgestorben sein. Manche Katastrophen waren hausgemacht, etwa bei den auf Pazifikinseln wie Hawai’i und Tahiti heimischen Schneckenarten. Hier wurde in den 1970er Jahren die Rosige Wolfsschnecke eingeführt, die mit ihrer breit ausgezogenen „Oberlippe“ fremde Schleimspuren lesen und so Beutetiere identifizieren und verfolgen kann. Die karnivoren Tiere sollten eigentlich eine Schadschnecke dezimieren, stellten aber etwa auf Tahiti viel lieber den nur dort vorkommenden 61 Arten von Partula-Baumschnecken nach.
Eine Studie konnte zeigen, wie Partula hyalina als nur eine von fünf überlebenden Spezies dem Killer entkam. Winzige Computer mit Solarzellen, die an Wolfsschneckenhäuser und Partula-Aufenthaltsorte geklebt wurden, zeichneten die Sonneneinstrahlung auf. Demnach kann Partula hyalina mit ihrem weißen Haus auch sehr starkes Licht reflektieren und somit wärmere Habitate als die Wolfsschnecke tolerieren. Der Schaden ist dennoch immens, viele pazifische Inselschneckenarten sind bereits ausgestorben oder auf wenige Exemplare reduziert, die zu ihrem eigenen Schutz und für eine mögliche Wiederansiedlung in Zoos oder biologischen Hochsicherheitstrakten gehalten werden.
Ähnlich unsicher ist die Zukunft einer anderen Gruppe von Weichtieren. Die Flussmuscheln bekommen wenig Beachtung, gehören global aber zu den am meisten gefährdeten Tiergruppen. Als der US Fish and Wildlife Service im vergangenen September 23 Arten als ausgestorben erklärte, waren sieben Flussmuschelspezies darunter. Ganz konkret bedeutet das, dass es offiziell keine Southern acornshells, Stirrupshells, Tubercled-blossom pearly mussels, Turgid-blossom pearly mussels, Upland combshells, Yellow-blossom pearly mussels, Flat pigtoes oder Green-blossom pearly mussels mehr gibt.
Was macht speziell diese Tiere so angreifbar? Wie die US-amerikanische Autorin Abbie Gascho Landis in ihrem Buch Immersion. The Science and Mystery of Freshwater Mussels schreibt, verkörpern die Weichtiere den Fluss, weil sie an der Schnittstelle von Wasser und Erde leben. Sie graben sich ins Sediment ein, nehmen nur über eine Öffnung Wasser auf und geben es über eine andere wieder ab. Es wird dabei effizient gereinigt, weil die Muscheln Partikel aller Art aus dem Wasser filtern. Außerdem recyceln sie Nährstoffe und stabilisieren das Habitat. Flussmuscheln sind Schlüsselarten, weil das ganze System von ihren Leistungen profitiert. Umgekehrt tragen sie das doppelte Risiko, weil ihnen sowohl Störungen im Flussbett als auch im Wasser schwer schaden können.
Operation trojanische Muschel
Dazu kommt ein komplexer Lebenszyklus. Männliche Flussmuscheln geben ihr Sperma ins Wasser ab, das die Weibchen für die Befruchtung im eigenen Körper einfangen. Damit die Larven in der Ferne siedeln können, brauchen sie aber ein Vehikel. Das sind je Muschelart ein oder einige wenige Wirtsfische, an deren Kiemen sich die parasitischen Larven klammern, bis sie groß genug sind und sich ablösen. Um einen Wirt anzulocken, werden die Larven appetitlich verpackt. Es ist ein evolutionäres Faszinosum: Die Weibchen gestalten aus ihrem Gewebe oder einer gelatinösen Masse einen maßgeschneiderten Köder, der passend zum jeweiligen Wirt etwa wie ein Beutefisch, eine Schnecke oder ein Bündel Würmer aussieht. Manche Köder treiben sogar an einer meterlangen Schleimleine im Wasser. Schnappt der Fisch zu, bekommt er eine Ladung Larven ins Gesicht.
Die faszinierende Fortpflanzung der Flussmuscheln ist störanfällig, weil die Tiere – wie alle Parasiten – auch vom Überleben des Wirts abhängen. Damit akkumulieren die Risiken. Wird ein Fluss aufgestaut, kann das Fische am Wandern hindern, während Änderungen der Strömung, Temperatur und des Sauerstoffgehalts im Wasser Muschelbetten zerstören. Eingeleitete Schwermetalle oder Pestizide sind doppelt gefährlich – wie auch Infektionen. Im Clinch River in Tennessee, USA, kam es ab 2016 zu einem Massensterben von Pheasantshell-Muscheln mit Verlusten von geschätzt 80.000 Tieren über nur 200 Meter Wasserlauf. Verantwortlich war wohl ein neuartiger Erreger aus der Gruppe der Densoviren, die für tödliche Ausbrüche bei Invertebraten von Motten bis Seesternen bekannt sind.
Wie lassen sich übersehene Arten retten?
Noch ist unklar, ob das Virus allein verantwortlich war oder auf bereits geschwächte Tiere stieß. Stressfaktoren gibt es genug, etwa invasive Arten, die einheimische Muscheln verdrängen. Oder die Klimakrise, die für extreme Dürren sorgt und in Australien und den USA bereits Muscheln in Massen getötet hat. Manche Arten ziehen sich ins Sediment zurück und schalten den Stoffwechsel runter, um wochenlange Trockenzeiten zu überstehen. Bis sie an ihre Grenzen kommen: Rund 2,9 Millionen der Tiere sind zwischen 2017 und 2020 den außerordentlich lang anhaltenden Dürren in einem australischen Flusssystem zum Opfer gefallen. Der Muschelschwund wiederum kann die ohnehin gefährdeten Frischwasser-Ökosysteme zum Kippen bringen. Was also tun?
Flussmuscheln lassen sich wegen ihres parasitischen Larvenstadiums nur schwer züchten und ansiedeln, aber es ist möglich. In Deutschland wird über das bundesweite Projekt MARA versucht, die seltene Flussperlmuschel Margaritifera margaritifera vor dem Aussterben zu bewahren und per Nachzucht stabil in sauberen und sommerkühlen Gewässern anzusiedeln. Insgesamt müssen Invertebraten aber ins Rampenlicht. Weil wir immer noch zu wenig von zu vielen Arten wissen, soll das Earth BioGenome Project die Genome aller bekannten und auch der wirbellosen Tierarten entschlüsseln. Ganz praktisch können großflächige Schutzgebiete – flankiert von anderen Maßnahmen – helfen, auch übersehende und unbekannte Spezies zu bewahren. Was fehlt noch? Die Autorïnnen der Publikation zum Massenaussterben schreiben von einer angeborenen Wertschätzung des Menschen für die Biodiversität, die es nun zu fördern gilt. Look down and much closer?