Verletzt und verlassen: Wie man mit versehrten Vögeln umgehen soll

Wildvögel sind vielen Gefahren ausgesetzt. In Pflegestationen kümmert man sich nicht nur um sie. Die Pflegerinnen wissen auch Rat, was zu tun ist, wenn man verletzte Vögel findet.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
10 Minuten
Eine junge Amsel sitzt auf einem Ast.

Ende März ist es noch ruhig auf der Vogelpflegestation der Schweizerischen Vogelwarte Sempach im Kanton Luzern. Doch sobald die Brutsaison beginnt, füllen sich hier die Käfige und Volieren nach und nach. Zwischen Mai und August können schon einmal 300 bis 400 Pfleglinge zugleich vor Ort sein. Von Haussperlingen über Hausrotschwänze und Mauersegler bis hin zu Stockenten und Steinadlern: die Pflegestation in Sempach ist auf jede Vogelart vorbereitet.

Sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dann notwendig, um die Arbeit zu bewältigen. Und sie sind tagsüber fast pausenlos beschäftigt. „Vögel haben einen hohen Stoffwechsel und brauchen daher viel Nahrung. Einer von uns ist in solchen Zeiten nur mit Füttern beschäftigt. Das ist sozusagen Fliessbandarbeit“, sagt Vreni Mattmann, die Leiterin der Vogelpflegestation.

Verletzungsursachen sind oft unklar

Derzeit sind erst wenige Patienten da: so zum Beispiel ein paar Strassentauben, zwei junge Türkentauben, ein Haussperling, eine Amsel sowie ein Mäusebussard. Der Greifvogel muss gerade verarztet werden. Er wurde vor ein paar Tagen benommen neben der Strasse gefunden und in die Pflegestation gebracht. Vielleicht ist er mit einem Auto kollidiert? Oft ist die Verletzungsursache nicht eindeutig festzustellen. Unter dem linken Flügel hat der Mäusebussard zudem eine Wunde.

Vreni Mattmann fasst den Mäusebussard mit sicherem Griff und legt ihn mit dem Rücken nach unten auf den Behandlungstisch. Der Mäusebussart wehrt sich nicht. Eine Kopfhaube, wie sie auch in der Falknerei üblich ist, nimmt ihm die Sicht. Die Dunkelheit beruhigt ihn. Die Tierärztin Prisca Mattmann versorgt die Wunde, desinfiziert sie und verschliesst sie mit einem Pflaster. Mit dem Heilungsprozess ist die Ärztin zufrieden, es wachsen bereits Federn nach. Sie hofft, dass der Mäusebussard bald wieder fit ist und in die Freiheit entlassen werden kann.

Ein Mäusebussard liegt auf dem Behandlungstisch. Eine Wunde unter seinem linken Flügel wird desinfiziert.
Prisca Mattmann, Tierärtzin bei der Schweizerischen Vogelwarte, pflegt die Wunde, die ein Mäusebussard erlitten hat.

Rund 1500 Vögel pro Jahr werden auf der Station gepflegt. 2020 war ein Rekordjahr mit 1700 Fällen. Die Erfolgsrate betrage etwa 60 Prozent, sagt Prisca Mattmann. Dies sei ein gutes Ergebnis, denn die Vogelwarte weise keine Vögel ab. „Wir nehmen nicht nur Jungvögel entgegen, bei denen die Chancen auf eine erfolgreiche Auswilderung recht hoch sind, sondern auch verletzte Wildvögel. Diese sind oft in einem schlechten Zustand. Wir geben unser Bestes. Aber bei Wildvögeln sind die Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkter als bei Haustieren.“

Gerade bei der häufigsten Verletzungsursache, der Kollision mit Glas oder im Verkehr, zeige sich dies oft. „Brüche an Flügeln und Beinen kann man teilweise schienen. Bei Kopfverletzungen wird es schon herausfordernder. Wir legen eine Infusion, um den Kreislauf zu stabilisieren, versuchen, den Gehirndruck zu senken und verabreichen Schmerzmittel“, sagt Tierärztin Prisca Mattmann.

„Die ersten 24 Stunden sind entscheidend“

Anschliessend gilt es zu warten: Die Vögel kommen in einen abgedunkelten Käfig, wo sie sich erholen können. Doch je kleiner der Vogel ist, desto schwieriger seien solche Massnahmen durchzuführen. „Die ersten 24 Stunden sind entscheidend. Überlebt ein Pflegling diese Zeit, steigen die Chancen, dass er es schafft.“ Liegen allerdings schwerste Verletzungen vor, oder bestehen kaum Chancen, dass der Vogel seine Flugfähigkeit wiedererlangt, bleibt der Tierärztin meist nichts anderes zu tun, als den Vogel einzuschläfern.

Zwei Strassentauben in einer Aussenvoliere der Pflegestation der Schweizerischen Vogelwarte.
In Aussenvolieren erholen sich die Pfleglinge, bis sie wieder freigelassen werden können.

Neben Glas und Verkehr sind vor allem Katzen die grosse Gefahr für Wildvögel. Oft spielen auch beide Ursachen zusammen. Der Vogel fliegt gegen ein Fenster und liegt anschliessend benommen am Boden, wo es für die Katze ein Leichtes ist, ihn zu packen. „Bei diesen Vögeln sehen wir oft Bisswunden und grossflächige Rückenverletzungen“, sagt Prisca Mattmann. Um eine Blutvergiftung zu verhindern, erhalten die Vögel auf der Pflegestation Antibiotika. Wenn möglich werden die Wunden genäht.

Wildvögel gehören in die Hände von Fachleuten

Katzenopfer gehören immer in eine Pflegestation, auch wenn auf den ersten Blick keine Verletzung sichtbar ist. „Kleine Bissverletzungen sind manchmal schlimmer als grossflächige Wunden. Die bluten nicht gut aus, so bleiben die gefährlichen Keime des Katzenbisses im Körper des Vogels.“ Der hohe Stoffwechsel der Vögel bewirkt, dass sich die Keime schnell im Körper verteilen. Ein rascher Transport in die Pflegestation ist daher wichtig.

So lautet ohnehin der wichtigste Rat: Wildvögel gehören in die Hände von Fachleuten. Was übrigens auch das Gesetz sagt: Für die Haltung und Pflege von Wildvögeln ist eine amtliche Bewilligung erforderlich.

Erste Hilfe bei Kollision mit Glas

Wer einen Vogel findet, sollte sich telefonisch bei einer Pflegestation erkundigen, wie weiter vorzugehen sei. Bei Vögeln etwa, die gegen eine Scheibe geflogen sind und dann noch lebend am Boden liegen, lohnt es sich, erstmal abzuwarten, ob sich der Vogel von selbst erholt. Dazu legt man den Vogel in eine Kartonschachtel, in die man Luftlöcher gestochen und mit Küchenpapier gepolstert hat. Futter und Wasser braucht der Vogel in dieser Zeit nicht.

Abgedunkelt und in Ruhe kann sich der Vogel von seinem Schlag erholen. Nach rund zwei Stunden öffnet man die Schachtel im Freien in sicherer Entfernung von Strassenverkehr, Glasfronten und Katzen. Im besten Fall fliegt der Vogel nun selbständig aus der Kiste, im schlechtesten ist er aufgrund schwerster innerer Verletzungen gestorben und hätte auch in einer Pflegestation nicht mehr gerettet werden können. Ansonsten ist es nun Zeit, ihn eben genau dorthin zu bringen.

Junge Mauersegler liegen nebeneinander auf einen Küchenpapier.
Junge Mauersegler, die zu früh aus dem Nest fallen und in die Pflegestation gebracht werden, haben eine gute Überlebenschance.

Neben den verletzten Vögeln machen die Jungvögel den grössten Teil der Patienten auf Pflegestationen aus. Doch nicht jeder Jungvogel, der nicht mehr in seinem Nest, sondern irgendwo scheinbar hilflos am Boden hockt, benötigt menschliche Unterstützung. „Bei einigen Singvogelarten verlassen die Jungvögel das Nest, bevor sie fliegen können“, sagt Martina Schybli, Veterinärmedizinerin und Mediensprecherin der Vogelwarte. „Dass sich die Jungvögel räumlich verteilen und nicht über längere Zeit zusammen im selben Nest hocken, ist eine sinnvolle Überlebensstrategie. So sind sie für Fressfeinde schwieriger zu erbeuten.“

Bei einigen typischen Vogelarten des Siedlungsgebietes ist dieses Verhalten oft zu beobachten. Ein unbeholfen herumflatterndes Amsel- oder Hausrotschwanzkind wird in der Regel weiterhin von seinen Eltern gefüttert. Es muss also weder zurück ins Nest gesetzt, noch in die Pflegestation gebracht werden. Bei seinen Eltern ist es am besten aufgehoben.

Befindet sich der Jungvogel aber in Gefahr, weil er in der Nähe einer Strasse sitzt oder sich im Jagdrevier einer Katze aufhält, sollte man ihn in eine nahe Hecke oder einen Baum setzen. Aus sicherer Distanz von mindestens 50 Metern lässt sich nun beobachten, ob der Jungspund von seinen Eltern gefüttert wird. Ist dies während einer Stunde nicht der Fall, sollte man den Kleinen zu einer Pflegestation bringen. Ebenso sollte man dort Rat einholen, wenn der Jungvogel weder vollständig befiedert, noch fähig ist zu hüpfen. Denn dann ist er wahrscheinlich zu früh aus dem Nest gefallen und hat ohne Hilfe keine Überlebenschancen.

„Was wir hier machen, ist Tierquälerei“

Für alle Vögel auf der Pflegestation, die kuriert oder aufgepäppelt werden, gilt: Sie werden wieder in die Freiheit entlassen. Das bedeutet aber auch, dass ein Wildvogel eingeschläfert wird, der zwar in Gefangenschaft, nicht aber in der Freiheit überleben könnte: Ein flugunfähiger Mäusebussard oder ein blinder Uhu werden nicht am Leben erhalten, da ein Leben für diese zu viel Stress bedeuten würde. „Was als Wildtier zu uns kommt, soll uns auch wieder als Wildtier verlassen“, sagt die Tierärztin Prisca Mattmann.

Diese Haltung kann Andi Lischke nur unterstreichen. Aber er drückt es drastischer aus: „Was wir hier machen, ist Tierquälerei. Aber wir wissen, was wir machen“.

Andi Lischke leitet die Greifvogelstation in Berg am Irchel. Bereits seit 1956 werden in diesem hübschen Dort mit Fachwerkhäusern im Kanton Zürich Greifvögel gepflegt. Eine vogelbegeisterte Frau, Veronika von Stockar, kümmerte sich zu Beginn alleine um verletzte Tiere. Inzwischen steht eine Stiftung hinter der Greifvogelstation, die von einem professionellen Team rund um Lischke geführt wird.

Ein Waldkauz sitzt mit geschlossenen Augen in einer Box. Vor ihm liegen Eintagsküken.
Auf der Greifvogelstation Berg am Irchel in Zürich kommen die verletzten Tiere zunächst in die Intensivstation – wie dieser Waldkauz, der ein Trauma erlitten hat.

Rund 300 Greifvögel und Eulen pro Jahr gehen durch deren pflegenden Hände. „Im Sommer sind es manchmal bis zu 100 Tiere auf einmal“, sagt Lischke. Er öffnet eine Box auf der „Intensivstation“, wo die Vögel erstversorgt werden. Regungslos und mit geschlossenen Augen sitzt darin ein Waldkauz, vor ihm sein Futter, ein paar Eintagsküken. „Er hat ein Trauma. Wahrscheinlich eine Kollision“, sagt Lischke. Der Waldkauz erhält ein Schmerzmittel und soll sich erholen, bevor er in den Volieren nebenan auf die Freilassung vorbereitet wird.

In einer weiteren Box hüpft nervös ein Mäusebussard herum. Diagnose: linker Flügel gebrochen. „Das lässt sich gut reparieren“, sagt Lischke, der über eine jahrelange Erfahrung nicht nur in der Pflege, sondern auch in der Zucht einheimischer Vögel verfügt. 80 Prozent seiner Pfleglinge würden die Station wieder genesen verlassen. Schwierige medizinische Fälle überweist er an das Tierspital Zürich.

Andi Lischke schaut in eine Box, in der sich ein Mäusebussard befindet.
Andi Lischke hat die Boxen der Intensivstation selbst konstruiert. Der gebrochene Flügel des Mäusebussards wurde bandagiert.

Doch was meint Lischke, wenn er, der Vogelpfleger, von „Tierquälerei“ spricht? „Wenn ich einen verletzten Greifvogel finde, dann hat dieser Todesangst vor mir“, sagt Lischke. „Diese Angst bleibt, wenn ich ihn in Pflege nehme. Der Vogel darf auf gar keinen Fall zahm werden. Wir dürfen die Tiere nicht streicheln und knutschen. Gutmeinende Pfleger tun damit den Vögeln nicht gut. Die Greifvögel und Eulen müssen wild bleiben und dürfen die Angst vor uns nicht verlieren. Denn diese Angst vor den Menschen schützt sie auch.“

Manche dürften allerdings auch ihrerseits Angst bekommen, wenn sie in der freien Natur einem verletzten Greifvogel begegnen, der sich möglicherweise mit Klauen und Schnabel zu wehren weiss. Was also soll man in solchen Fällen tun?

Um den Vogel zu fangen, werfe man am besten ein Tuch, einen Pullover oder eine Jacke über ihn, rät Lschke. Auch hier gilt: Ist es dunkel, beruhigt sich der Vogel und verhält sich still. Dann fasst man den Vogel vorsichtig von hinten über den Rücken und setzt ihn in eine nicht-luftdicht verschlossene Schachtel oder Kiste. Ungeeignet sind Käfige mit Gittern, an denen Federn abbrechen könnten. So verpackt lässt sich der Vogel zur Pflegestation bringen. Wer sich nicht selbst traut, den Vogel zu fangen, ruft die Tierrettung oder Wildhüter.

In einer hohen Voliere sitzen Rotmilane und Mäusebussarde auf Querstangen.
In einer grossen Voliere werden die Greifvögel wie Rotmilane und Mäusebussarde wieder auf die Freiheit vorbereitet.

Auch junge Greifvögel, die aus dem Nest gefallen sind, bedürfen professioneller Hilfe. „Junge Greifvögel, die am Boden sitzen und nicht fliegen können, sind immer in Gefahr, allein wegen der vielen Katzen hierzulande“, sagt Lischke. Anders hingegen liegt der Fall bei den Eulen. Diese verlassen ihr Nest, bevor sie flügge sind, und werden weiterhin von ihren Eltern gefüttert. Diese sogenannten Ästlinge sollte man daher am besten in Ruhe lassen.

Prägende Erlebnisse für die Finderinnen und Finder

Sowohl in der Pflegestation in Sempach als auch in der Greifvogelstation in Berg am Irchel geht es in erster Linie um die Vögel selber. Möglichst viele der Pfleglinge sollen wieder gesund in die Freiheit entlassen werden. Doch an beiden Orten bietet sich auch die Möglichkeit, die Finderinnen und Finder auf die Bedürfnisse und Gefährdungen der Vögel aufmerksam zu machen.

Die Greifvogelstation bietet zum Beispiel Patenschaften für verletzte Vögel an. Zudem gibt es regelmässige Führungen und Besuchstage. „Solche Anlässe nutze ich bewusst, um auf die prekäre Situation vieler Vogelarten in der Schweiz aufmerksam zu machen“, sagt Andi Lischke. Die Faszination, die Greifvögel und Eulen ausüben, öffnen ihm die Tür, seine Naturschutz-Botschaften unter die Leute zu bringen.

Auch Martina Schybli von der Vogelwarte Sempach schätzt es, dass man über die Pflege der Vögel leicht mit den Menschen ins Gespräch kommt. „Für viele ist es ein prägendes Erlebnis, wenn sie einen Vogel finden und ihn uns eigenhändig bringen“, sagt sie. Manche entdeckten so erst ihr Interesse für die Vögel und deren Schutz.

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Links zu Pflegestationen und Hinweise für den richtigen Umgang mit verletzen Vögeln oder Jungvögeln:

Pflegestationen in der Schweiz: https://www.vogelwarte.ch/pflegestation

Pflegestationen in Deutschland: http://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/artenschutz/01946.html

Was tun, wenn man einen Vogel findet: https://www.vogelwarte.ch/de/voegel/ratgeber/vogel-gefunden

Hilfe für Mauersegler: https://www.vogelwarte.ch/de/voegel/ratgeber/jungvoegel/was-tun-mit-einem-mauersegler/

Hilfe für Greifvögel und Eulen: https://greifvogelstation.ch/vogel-gefunden/

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