„Die Pandemie muss zu einem grünen Umbau führen“

Basile van Havre leitet das Gremium, das die weltweiten Ziele zum Erhalt der Artenvielfalt erarbeitet. Im Interview fordert er als Lehre aus der Corona-Pandemie eine ökologische Wende

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
ein Baum auf einem Feld mit Nebel [AI]

Das Jahr 2020 sollte das „Superjahr der Biodiversität“ werden. Zahlreiche Konferenzen und Regierungskonsultationen waren im Rahmen des globalen Abkommens zur Biologischen Vielfalt (CBD) geplant; zu dessen Höhepunkt sollte im Oktober der Welt-Biodiversitätsgipfel im chinesischen Kunming stattfinden.

Dort wollte die Staatengemeinschaft ein neues Rahmenabkommen mit Zielen für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten für die Zeit nach 2020 verabschieden. Doch nachdem mehrere wichtige Vorbereitungskonferenzen auf den Spätsommer verschoben werden mussten, wird nun auch die Nachfolgeveranstaltung des Rio-Erdgipfels wegen der Corona-Pandemie nicht wie geplant im Oktober stattfinden. Der Zeitplan dafür müsse angepasst werden, teilte das CBD-Sekretariat mit. Man suche zurzeit nach alternativen Terminen.

Thomas Krumenacker sprach mit Basile van Havre, der als Co-Vorsitzender der Open Ended Working Group (OEWG) die inhaltlichen Vorbereitungsarbeiten des CBD für die künftigen Biodiversitäts-Ziele der Staatengemeinschaft leitet. Van Havre ist einer der derzeit wichtigsten Akteure des globalen Umweltschutzes. Wie Hunderte Millionen andere arbeitet er derzeit zwangsweise im Homeoffice in seinem Haus in Kanada. Das Gespräch fand über WhatsApp statt.

Porträtfoto von Basile van Havre
Basile van Havre leitet als Co-Vorsitzender die Open-Ended Working Group (OEWG), jenes Gremium, das die Ziele für den künftigen weltweiten Schutz der biologischen Vielfalt erarbeitet. Zur Zeit sitzt er wie Millionen andere Menschen auch im Homeoffice in seiner kanadischen Heimat.
Porträtfoto Basile van Havre
Basile van Havre leitet als Co-Vorsitzender das Gremium, in de die Ziele für den weltweiten Biodiversitätsschutz nach 2020 erarbeitet werden.

Unter Ihrer Leitung arbeiten Experten gerade weltweit an der Formulierung der globalen Naturschutzziele für die Zeit nach 2020. Was würde eine Verschiebung der Welt-Biodiversitätskonferenz für Ihre Arbeit und die Umsetzung ambitionierterer Naturschutzziele bedeuten?

Ich bin von einer Verschiebung nicht unterrichtet worden, aber sie wäre vernünftig, wenn man sich die innere Mechanik der CBD ansieht. Vor dem Gipfel brauchen wir noch drei wichtige Vorbereitungstreffen, von denen zwei schon in den August und September verschoben worden sind. Zwischen den einzelnen Meetings benötigen wir mindestens neun Wochen Zeit, um die Ergebnisse aufzuarbeiten. Eine Verschiebung wäre also keine wirkliche Überraschung. Und offen gesprochen: Der ursprüngliche Zeitplan war sehr ambitioniert und herausfordernd.

Wenn die Krise dazu führt, dass wir neue Wege entwickeln, internationale Abkommen zu verhandeln, weniger reisen und weniger Treibhausgase produzieren –umso besser


Alles kein Problem also?

Es ist natürlich klar, dass die Verzögerung die Frist verkürzt, innerhalb derer die Staaten das Rahmenabkommen umsetzen müssen. Aber ein mit mehr Sorgfalt ausgearbeiteter Rahmen kann das mehr als ausgleichen. Je fundierter die wissenschaftliche Grundlage ist, desto besser werden die Ziele umzusetzen sein. Die Zeit, die wir jetzt haben, werden wir nutzen, um noch bessere Dokumente für die Konferenz vorzubereiten. Wir können uns in weiteren Online-Runden austauschen und Konsultationen über die Dokumente führen, das ist sehr wertvoll. Wir bedauern die Verzögerungen, aber wir können die neue Zeit sehr gut gebrauchen.

An den Beratungen für ein neues Weltbiodiversitätsabkommen sind 190 Staaten beteiligt. Wie funktioniert eigentlich diese Mammut-Kommunikation in Zeiten der Pandemie?

Die Situation ist vielerorts wie in Deutschland. Viele von uns arbeiten von zuhause und wir kommunizieren online. Das klappt meist gut. Und wenn die Krise dazu führt, dass wir neue Wege entwickeln, internationale Abkommen zu verhandeln; solche, bei denen wir weniger reisen müssen und weniger Treibhausgase produzieren – umso besser. Dann hat sich die Krise auch langfristig gelohnt.

Ist China, dem als Gastgeber des Gipfels eine zentrale Rolle zukommt, arbeitsfähig?

China bemüht sich enorm, uns zu helfen. Mir zum Beispiel ist ein Team aus zehn Wissenschaftlern zugeteilt worden, die zu wichtigen Themen arbeiten können. Generell ist bei Verhandlungen mit Vertretern aus so vielen Ländern entscheidend, ein Verständnis für die unterschiedlichen Kulturen zu entwickeln. Bei China heißt das etwa, möglichst klar und direkt zu sein. Der ganze demokratische Prozess, in dem getroffene Vereinbarungen immer wieder noch auf nationaler oder regionaler Ebene konsultiert werden müssen, ist den Chinesen fremd. Wir müssen das vermitteln.

Sie selbst haben gesagt, es müsse Regierungen und Gesellschaften klargemacht werden, wie hoch der Preis des Nichthandelns beim Verlust der biologischen Vielfalt ist. Bekommen wir durch die weltweite Pandemie-Krise eine Idee davon, wie teuer uns die Zerstörung der Natur zu stehen kommt?

Ihre Frage geht davon aus und viele andere sagen das auch, dass wir im gegenwärtigen Fall konkret eine klare Verbindung herstellen können zwischen der Pandemie und einem falschen Umgang mit der Natur. Wir sollten sehr vorsichtig sein, Bezüge herzustellen, bis sie wissenschaftlich erwiesen sind. Die generelle Schlussfolgerung aber ist schon jetzt unstrittig: dass ein falscher Umgang mit der Natur hochriskant ist und die Kosten sehr hoch sein werden, wenn nicht genug für die Bewahrung der natürlichen Vielfalt getan wird. Diese Erkenntnis hat inzwischen auch die Top-Ebene der Weltwirtschaft erreicht. Es ist ein sehr wichtiges Signal, dass auch das Weltwirtschaftsforum in Davos die Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel zu den größten Bedrohungen für die Menschheit zählt.

Definitiv ist die Pandemie ein 'game changer', ein bahnbrechender Einschnitt. Sie wird unser gesamtes Denken ändern

Auf einem Gebiet sind die Folgen der Naturzerstörung bereits jetzt augenfällig: der Ausbreitung gefährlicher Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen. Sie werden durch das Vordringen des Menschen auch in die entlegensten Naturräume befördert. Großflächige Abholzungen etwa von Regenwäldern sind doch geradezu ein Paradebeispiel dafür.

Definitiv sind Zoonosen eine zunehmende Gefahr. Hier spreche ich zu ihnen als jemand, der sich seit vielen Jahrzehnten mit Wildlife Management befasst. (Anmerkung: van Havre ist Generaldirektor bei der kanadischen Wildtierbehörde). Am Anfang meiner Karriere habe ich mich vielleicht zehn Prozent meiner Zeit mit neuen Krankheiten oder invasiven Arten beschäftigt, heute ist es die Hälfte. Das geht Kollegen in aller Welt so. Hier spielt eine Kombination von Faktoren eine Rolle, zu denen auch der Klimawandel gehört. Wir erleben etwa, dass Parasiten in immer höheren Breiten überleben können. Der immer enger verflochtene weltweite Handel ist eine weitere Ursache für die Verbreitung von Organismen. Die Sanitär- und Gesundheitsüberwachung kann mit dem Tempo der globalen Wirtschaft nicht mithalten. Das schafft neue Gefahren.

Wird sich die Pandemie in ihrer Vorlage für die Post-2020-Ziele niederschlagen?

Definitiv ist die Pandemie ein „game changer“, ein bahnbrechender Einschnitt. Sie wird unser gesamtes Denken ändern. Sie wird das Bewusstsein dafür verstärken, dass intakte Ökosysteme wichtig sind, um die Risiken für unser eigenes Überleben im Griff zu behalten. Das wird natürlich auch die weiteren Verhandlungen für das Rahmenabkommen beeinflussen. Wir als Vorsitzende werden uns sehr genau an unser Mandat halten. Ich kann mir vorstellen, dass wir jetzt in einigen Bereichen auch neue Prioritäten setzen. Für mich wäre das in Ordnung, aber ich brauche diese Instruktionen direkt von den verhandelnden Parteien. Generell muss es uns darum gehen, die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen zu stärken. Es gibt aber noch etwas, das wir aus der Krise lernen können.


Wir brauchen regionale Institutionen wie die EU. Und wir können viel voneinander lernen.

Was wäre das?

Den Wert grenzübergreifender Zusammenarbeit wieder stärker zu schätzen. Seit einigen Jahren erleben wir, dass der Multilateralismus unter Druck gerät und einige Länder immer weniger Länder es als erstrebenswert erachten, in solchen Zusammenhängen mitzuwirken. Ich glaube, dass wir aus dieser Krise ein neues Verständnis über den Wert der Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg gewinnen werden.

Auch die Europäische Union zeigt in der gegenwärtigen Krise massive Verfallserscheinungen. Jeder scheint sich selbst der Nächste zu sein…

Wir brauchen regionale Institutionen wie die EU ebenso wie weltweite. Und wir können viel voneinander lernen.

Ein Kiefernwald abstrakt fotografiert
Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind nach Einschätzung des Weltbiodiversitätsrats vom Aussterben bedroht. Bei einem bisher für Oktober geplanten Gipfeltreffen im chinesischen Kunming sollen neue globale Ziele für den Schutz der biologischen Vielfalt erarbeitet werden.
Wenn diese Krise unter Kontrolle ist, wird die Weltgemeinschaft eher bereit sein, auf diejenigen zu hören, die weitere Katastrophen wie den Verlust der biologischen Vielfalt verhindern wollen.

Besteht die Gefahr, dass die Pandemie andere wichtige Themen wie die Krise der biologischen Vielfalt oder den Kampf gegen den Klimawandel vollkommen überlagert, dadurch bereits erzielte Fortschritte gefährdet oder wertvolle Zeit verloren geht?

Hier gibt es sowohl ein Risiko als auch eine Chance. Sie haben Recht, dass sich die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft wie der einzelnen Menschen jetzt zunächst auf die kurzfristig sehr wichtigen Fragen konzentriert: den Schutz und die Sicherung grundlegender Bedürfnisse wie der Versorgung mit Nahrungsmitteln, dem gesundheitlichen Wohlergehen, der Fürsorge für geliebte Menschen oder dem reinen wirtschaftlichen Überleben. In dieser Situation ist es wahrscheinlich nicht besonders klug, Menschen davon überzeugen zu wollen, ihr Leben im großen Stil zu verändern – nur weil das auf lange Sicht für alle besser ist. Doch die Geschichte lehrt uns auch, dass es auch Chancen gibt: Wenn diese Krise unter Kontrolle ist, wird die Weltgemeinschaft eher bereit sein, auf diejenigen zu hören, die weitere Katastrophen, einschließlich des Verlusts der biologischen Vielfalt oder des Klimawandels, verhindern wollen. Sie wird Investitionen unterstützen, um sich vor diesen Szenarien zu schützen.

Sie sprechen es an: Viele Staaten legen jetzt Programme auf, die mithilfe riesiger Geldsummen die Auswirkungen der Krise auf die Wirtschaft abfedern sollen. Ein nicht nachhaltiger Wiederaufbau nach Ende der Pandemie könnte die ökologischen Probleme dieses Planeten sogar noch verschärfen…

Ja, jedenfalls dann, wenn es bei den Konjunkturpaketen wie traditionell üblich nur um neue Brücken und Straßen geht, die den Druck auf Ökosysteme und Lebensräume noch weiter erhöhen würden.

Was muss stattdessen passieren?

Eine Lehre aus der Pandemie sollte sein, dass künftige Investitionen sehr umsichtig vorgenommen werden müssen. Sie müssen dazu beitragen, die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme zu erhöhen, das Risiko weiterer globaler Krisen senken und ihre möglichen Auswirkungen verringern.

Roosevelts New Deal sah nicht nur Hilfen für Unternehmen vor, sondern auch große Investitionen in die US-Nationalparks. Wie wäre es, wenn wir in diesem Geiste investierten?

Wie kann das konkret aussehen?

Schauen Sie in die 1930er Jahre. Da gab es in den USA als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise unter Präsident Roosevelt den „New Deal“. Der sah nicht nur Wirtschaftshilfen für Unternehmen vor, sondern auch große Investitionen in die US-Nationalparks vor. Wie wäre es, wenn wir in diesem Geiste auch heute handeln würden und in nachhaltige und naturnahe Lösungen für unsere Probleme investierten?

Zum Beispiel?

Wir wissen, dass wir 30 Prozent unseres Einsparziels an Emissionen über sogenannte naturbasierte Lösungen erreichen können. Wir könnten also massiv in den Schutz und die Renaturierung etwa von Wäldern oder Mooren als natürlichen Kohlenstoffspeichern investieren. Was ich versuche voranzubringen, sind Maßnahmen, die uns gleich mehrfach Vorteile bringen: Solche, die den Klimawandel nicht anfeuern, die seine Auswirkungen begrenzen und uns helfen, uns an die nicht mehr vermeidbaren Änderungen anzupassen. Oft bringen solche Maßnahmen sogar noch gute und nachhaltige Arbeitsplätze hervor.

Wir sollten die Zeit nutzen, um unsere Regierungen zu überzeugen, bei der Infrastruktur hin zu grünen Projekten umzusteuern. Hier haben wir gemeinsam eine bedeutende Aufgabe vor uns, die Gesellschaften ökologisch umzubauen und den Wandel in diese Richtung voranzutreiben.

Ein Moor von oben fotografiert in abstrakter Langzeitbelichtung.
Moore wie das größte lettische Moor Teici, sind natürliche Kohlestoffspeicher. Sie zu schützen kann einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Einsparziele beim CO2 leisten, glaubt van Havre.
Ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen werden.

Was stimmt sie optimistisch, dass das gelingen kann? Schließlich ist von den sogenannten Aichi-Zielen zum Schutz der Biodiversität, die 2010 in Japan vereinbart worden sind, nicht ein einziges vollständig erreicht worden.

Es gibt mittlerweile das Bewusstsein von Dringlichkeit. Das unterscheidet die Verhandlungen von denen vor zehn Jahren. 2010 war 2050 noch weiter entfernt und es war nicht klar, wie man diese Ziele erreichen sollte. Dieses Mal sind wir sehr klar aufgefordert, zu zeigen, wie wir unsere Vision „In Harmonie mit der Natur leben“ konkret erreichen wollen. Wir versuchen, klare, messbare Ziele zu setzen.

Wird es ein Abkommen geben, das nicht nur verspricht, den Verlust der Biodiversität zu stoppen, sondern dafür sorgt, dass dieses Versprechen auch wirklich eingelöst wird?

Einige Punkte sind noch ungeklärt, aber es gibt sehr wenige wirklich grundlegende Konflikte zwischen den einzelnen Ländern. Ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen werden.

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