Tödliche Giftwelle auf der Oder: „Die Dimensionen des Fischsterbens sind gewaltig“

100 Tonnen toter Fische, 500 Kilometer vergifteter Flusslauf: Die Umweltkatastrophe auf dem deutsch-polnischen Grenzfluss erreicht eine beispiellose Dimension. Gewässerexperte Sascha Maier über politische Versäumnisse auf beiden Seiten des Flusses und seine Hoffnung auf die Rückkehr des Lebens in den Strom.

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
8 Minuten
Viele tote Fische treiben an einem Weht

Die tödliche Giftwelle auf der Oder hat über das Wochenende das Stettiner Haff erreicht. Damit weitet sich die Umweltkatastrophe bis in das Mündungsgebiet des deutsch-polnischen Grenzflusses in die Ostsee aus. Betroffen ist ein mehrere Hundert Kilometer langer Abschnitt des bisher relativ naturnahen Stroms. Begonnen hat das Fischsterben bereits Ende Juli am Oberlauf der Oder oberhalb der polnischen Metropole Wroclaw. Seit Dienstag vergangener Woche werden auch an deutschen Flussabschnitten immer mehr tote Fische angeschwemmt.

An vielen Stellen ziehen Freiwillige und Feuerwehren seitdem tonnenweise verendete Fische aus dem Wasser. Die Sorge auf eine Ausweitung der Umweltkatastrophe über die Nahrungskette ist groß. An vielen Stellen werden Vögel und Säugetiere beobachtet, die die vergifteten Fische fressen.

Die Ursache für die Vergiftung ist nach Angaben der polnischen Regierung noch unklar. Premier Mateusz Morawiecki machte aber deutlich, dass er von einer vorsätzlichen Tat ausgeht, wie er auf Facebook erklärte. Im Verdacht steht eine Papierfabrik am Oberlauf der Oder, die aber eine Beteiligung bestreitet. Der Regierungschef entließ unter anderem den Chef der Umweltbehörde.

Wir sprachen mit Sascha Maier über das, was bisher über die Katastrophe bekannt ist, das Management der Katastrophe auf polnischer und deutscher Seite und über politische Schlussfolgerungen. Maier ist Experte für Gewässerpolitik des Naturschutzverbandes BUND und Sprecher des internationalen Aktionsbündnisses Lebendige Oder/Save Oder, in dem sich zahlreiche Nichtregierungsorganisationen zum Schutz des deutsch-polnischen Grenzflusses zusammengeschlossen haben.

Porträtfoto Sascha Maier
Sascha Maier ist Experte für Gewässerpolitik beim BUND und Sprecher der Initiative Lebendige Oder

Herr Maier, was wissen wir bis zum heutigen Tag über das Ausmaß der Katastrophe?

Es ist gewaltig, sowohl was die Ausdehnung angeht als auch mit Blick auf die Menge verendeter Fische. Gerade hat die Welle des Fischsterbens das Stettiner Haff und damit das Mündungsgebiet in die Ostsee erreicht. Damit sprechen wir von einem massiven Fischsterben auf einer Strecke von rund 500 Flusskilometern.

Gibt es Schätzungen darüber, wieviele Fische gestorben sind?

Ich denke, wir kommen in den Bereich von 100 Tonnen getöteter Fische. Wir bekommen täglich Meldungen, dass bei einzelnen Sammelaktionen bis zu fünf Tonnen Fische aus der Oder entnommen wurden – und selbst diese Dimensionen vermitteln uns noch nicht das gesamte Bild. Denn wir müssen davon ausgehen, dass wir nicht das ganze Ausmaß des Fischsterbens sehen.

Tote Fische im flachen Wasser
„Das Fischsterben hat eine Dimension wie nach der Sandoz-Katastrophe von 1986“, sagt Sascha Maier.

Wieso?

Wir selbst waren von Montagnachmittag bis Freitag auf der Mittleren Oder von Malczycze bis Nietkowice mit dem Kajak unterwegs. Dort ist die Oder noch kein Grenzfluss. In den ersten beiden Tagen haben wir keine toten Fische gesehen. Das spricht dafür, dass da bereits von polnischen Stellen ordentliche Mengen von Fischen entnommen worden sind. Je näher wir zur Grenze kamen, desto mehr tote Fische konnten wir ausmachen. Erst ab Milsko, rund 150 Kilometer stromaufwärts von Frankfurt an der Oder, haben wir dann am Donnerstag viele tote Fische gesehen. Hinzu kommt, dass viele Fische nach einigen Tagen auf den Grund absinken und dann nicht mehr zu sehen sind.

Erleben wir hier gerade einen GAU für das Flussökosystem – ein Tschernobyl für die Oder?

Tschernobyl passt insofern, als dass sich im Jahr der Reaktor-Katastrophe 1986 auch das Chemie-Unglück beim Schweizer Chemiekonzern Sandoz ereignete. Das ist vielleicht der passendere Vergleich. Nach dem Brand in einem Chemikalienlager gelangten damals Insektizide über das Löschwasser in den Rhein und verursachten ein massives Fischsterben. Die Aalpopulation ist damals komplett zusammengebrochen. Das ist die Dimension, an der wir uns auch jetzt orientieren müssen. Und trotzdem sehe ich noch nicht, dass die heutige Katastrophe an der Oder hier ähnliche Wellen schlägt wie damals das Fischsterben im Rhein in Westdeutschland. Die Dimension ist aber absolut vergleichbar.

Kann man denn den längerfristigen ökologischen Schaden durch die Katastrophe schon ermessen?

Nein, dazu brauchen wir endlich Klarheit darüber, was genau geschehen ist und welche Substanzen in den Fluss geraten sind. Klar ist nur, dass eine erhebliche tödliche Welle den Fluss heruntergelaufen ist, die ein erhebliches Fischsterben ausgelöst hat. Welche Schäden Pflanzen und andere Organismen genommen haben, können wir noch nicht in Ansätzen abschätzen. Auch die Folgen für andere Tiere in der Nahrungskette sind noch komplett offen.

Ein Seeadler mit einem erbeuteten Fisch fliegt dicht über die Wasseroberfläche
Seeadler waren bereits fast ausgerottet. Das DDT-Verbot hat sie gerettet. Auch in der Agrarvogelkrise wissen wir, wo es anzusetzen gilt.

Der Scheitel der Giftwelle hat mittlerweile das Stettiner Haff erreicht. Müssen wir uns jetzt auch auf ein Fischsterben in der Ostsee einrichten?

Ich gehe schon davon aus, dass im Mündungsbereich der Ostsee noch einige Fische sterben, sich die Giftkonzentration dann aber zügig verdünnen wird.

Was muss jetzt aus Ihrer Sicht am dringlichsten geschehen?

Die möglichst rasche Beseitigung der Fischkadaver ist jetzt eine der vordringlichsten Aufgaben. Viele Tierarten fressen die toten Fische und vergiften sich so. Wir selbst haben auf unserer Bootstour größere Ansammlungen von Reihern, Seeadlern, Weiß- und Schwarzstörchen gesehen, die die vergifteten Fischkadaver gefressen haben. Auch Fischadler oder Säugetiere wie Waschbären haben wir dabei beobachtet. Die Folgewirkungen in der Nahrungskette können wir erst dann beurteilen, wenn wir wissen, was in dem Giftcocktail enthalten war. Da warten wir auf Laborergebnisse.

Wie bewerten Sie den Umgang mit der Umweltkatastrophe auf polnischer Seite?

Es ist ziemlich offensichtlich, dass das Problem von den polnischen Behörden anfangs heruntergespielt wurde. Angeblich hat jemand aus der polnischen Verwaltung vor Ort das ganze als regionales Ereignis eingestuft und deswegen die Meldekette nicht aktiviert. Das klingt alles sehr stark nach Schlamperei. Die polnischen Umweltverbände haben keinerlei Vertrauen in die staatlichen Stellen und fordern, dass unabhängige Experten die Untersuchungen übernehmen und aufarbeiten.

Zwei Schwarzstörche streiten um einen Fisch
Viele Schwarzstörche sind gerade auf dem Zug in den Süden und rasten dabei auch an der Oder. Auch sie sind durch das Fischsterben betroffen.

Was hätte besser laufen müssen?

Ein großes Versäumnis war, dass die Meldeketten nicht eingehalten wurden. Nach dem großen Sandoz-Chemieunfall wurde ein Alarm- und Reaktionsplan für den Rhein entwickelt. Dieses Know how hat man eigentlich auch auf andere Flüsse übertragen – auch auf die Oder. Erstaunlicherweise gibt es bislang aber noch kein Statement der internationalen Kommission zum Schutz der Oder, an die Zwischenfälle gemeldet werden müssten. Auch der brandenburgische Umweltminister Axel Vogel hat ja betont, dass das Land keine offiziellen Meldungen und damit auch keine Hintergrundinformationen erhalten habe.

Gibt es nach Ihrer Einschätzung auch Versäumnisse von Seiten der Bundesregierung oder brandenburgischen Landesregierung?

Es ist schon auffällig, dass erst am Freitag, drei Tage nachdem die ersten Fische in Frankfurt angeschwemmt wurden, einige kurze Sätze von Bundesumweltministerin Steffi Lemke kamen und die Ministerin erst am Samstag vor Ort war. Die Alarmglocken haben erst ziemlich spät geschrillt. Zum Vergleich: Der polnische Ministerpräsident Morawiecki hat nach eigenen Angaben erst am Montag von dem Fischsterben erfahren, war seitdem aber schon zweimal an der Oder und hat die Armee angewiesen, die toten Fische einzusammeln. Von daher sehe ich da schon ein recht zögerliches Verhalten beim Bundesumweltministerium. Es ist zugleich aber auch vollkommen klar, dass das eigentliche Versäumnis in Polen stattgefunden hat, und dass dort Meldeketten nicht eingehalten wurden. Wären wir in Deutschland Ende Juli oder Anfang August informiert worden, hätten wir uns ganz anders vorbereiten können.

Und die Brandenburger Landesregierung?

Ich kriege aus den Kommunen und Landkreisen entlang der Oder schon mit, dass auch sie mit dem Krisenmanagement des Landes Brandenburg nicht ganz glücklich sind. So sind in Märkisch Oderland viele tote Fische eingesammelt worden, von denen wir nicht wissen, womit sie belastet sind. Es gibt aber bislang keinen Plan, wo die toten Tiere zur Vernichtung hingebracht werden sollen. Es gibt bisher auch keine zentrale Stelle, bei der sich Bürgerinnen und Bürger melden können, die vor Ort leben und nicht wissen, was sie tun sollen.

Ein toter Fisch am Spülsaum
Ei.ner von Hunderttausenden: Ein toter Fisch am Oderufer bei Hohenwutzen, fotografiert von Anwohnerin Doreen Stecker: ""Ein ätzender Geruch zieht bis in die benachbarten Dörfer", berichtet sie. „Es sterben viele Tiere qualvoll, die vergiftetes Wasser saufen und vergiftete Kadaver fressen.“
Störche stehen im flachen Wasser umgeben von toten Fischen
Viele Vögel trinken das verseuchte Wasser oder fressen die Fischkadaver

Wie kann es besser weitergehen?

Wichtig ist jetzt, die Menschen vor Ort über die Risiken zu informieren und die Maßnahmen zum Einsammeln der Fischkadaver zu koordinieren. Das darf nicht Freiwilligenaktionen überlassen werden, wir brauchen eine gezielte und systematische Beseitigung der Fische. Ich habe selbst bei meiner Tour gesehen, dass über gut 50 Kilometer keiner da war, der Fische eingesammelt hat. Ganz wichtig ist auch, dass dass nicht nur aus dem Wasser und von den Fischkadavern Proben genommen werden, sondern auch aus dem Sediment, um zu sehen, was sich dort abgelagert hat. Und dann muss kurzfristig alles unterlassen werden, was die Oder zusätzlich beeinträchtigt – beispielsweise müssen die Bauarbeiten an der Erweiterung der Buhnen auf polnischer Seite zumindest erst einmal ausgesetzt werden.

Und längerfristig? Kann sich die Oder wieder in einen lebendigen Fluss verwandeln?

Wenn wir Glück haben, kommt das Leben über die Nebenflüsse wieder in die Oder – wie es beim Rhein damals war – und es bilden sich neue Tierpopulationen. Es kann passieren, dass wir Glück haben. Ich würde noch nicht den Teufel an die Wand malen. Aber natürlich sollten wir das nicht dem Zufall überlassen. Wir müssen jetzt auch auf Bundesebene im Haushalt Mittel für ein Renaturierungsprogramm einplanen – auch, wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau sagen können, wie die konkret aussehen wird. Ich sehe die Gefahr, dass die Verursacher in Polen vielleicht nicht so schnell ausfindig gemacht werden. Was wir aber vermeiden müssen, ist ein Streit und Hickhack darüber, wer für die Sanierung aufkommt. Da muss jetzt zügig Geld zur Verfügung gestellt werden. Und natürlich dürfen wir auch jetzt sofort nicht die Menschen vergessen, die in Not geraten sind.

Ein Fischadler bringt einen FIsch an den Horst mit Jungvögeln
Wie wird sich das große Fischsterben auf Vogelarten wie den Fischadler auswirken? Schon wurden Vögel beim Fressen vergifteter Oder-Fische beobachtet

Wen meinen Sie damit?

Menschen, die unmittelbar am und vom Fluss leben, müssen unbürokratisch entschädigt werden. Bei Anbietern von Naturtourismus, Fischern und einigen Viehhaltern, die auf Wasser aus der Oder oder ihren Zuflüssen als Tränken angewiesen sind, geht es gerade um ihre Existenz. Da muss schnell dafür gesorgt werden, dass sie weiter eine Zukunft haben.

Sprechen wir nochmal über Renaturierung. Wo könnten solche Maßnahmen ansetzen?

Wir sollten die Ökosystemfunktionen der einzelnen Lebensräume in den Blick nehmen. Wir haben zum Beispiel viele Auen entlang der Oder, gerade im Nationalpark Unteres Odertal oder auf polnischer Seite. Wenn wir für mehr Auenrenaturierung sorgen, schaffen wir gleichzeitig Flächenfilter und helfen dem Fluss widerstandsfähiger zu werden. Ich habe auch jetzt schon eine gewisse Hoffnung, dass die Auen eine wichtige Rolle bei der Selbstreinigung in den kommenden Jahren spielen können.

Könnte die Katastrophe helfen, jetzt die Pläne auf polnischer Seite für den Oderausbau zu begraben, der das Ökosystem weiter schädigen würde?

Es ist unabhängig von der jetzigen Katastrophe die Position der Umweltverbände und des Landes Brandenburg, dass der Oderausbau gestoppt werden muss. Morawiecki hat gesagt, dass die Oder wieder in ihren natürlichen Zustand versetzt werden soll. Ich hoffe, dieses Versprechen beinhaltet auch, den Ausbau der Oder kritisch zu hinterfragen.