Der gestörte Wasserkreislauf: Wie wir Menschen unser Lebenselixier in Gefahr bringen
Erhitztes Klima, abgeholzte Wälder, ausgetrocknete Sümpfe und jede Menge Pipelines – Report über unseren Umgang mit Wasser
Jeder Mensch sieht dieses Bild mindestens einmal während seiner Schulzeit: Wie Wasser aus dem Meer verdunstet, Wolken bildet, über Bergen abregnet, wie es über Flüsse in die Niederungen fließt und schließlich im Meer landet, wo alles von vorne beginnt. Vom “Wasserkreislauf” handeln die Schulstunden rund um diese Darstellung.
Doch im Juli 2019 deklarierte ein Team von 23 internationalen Wissenschaftlerïnnen aus Nordamerika und Europa dieses weit verbreitete Bild im Fachmagazin “Nature Geoscience” als komplett irreführend.
Die schematische Darstellung des Wasserkreislaufs sei für viele Menschen vielfach die Grundlage dafür, die Kreisläufe der Natur zu verstehen, schrieb das Forscherïnnenteam um den Biologen Benjamin Abbott von der Brigham Young University in Utah. In den allermeisten Darstellungen fehle aber der entscheidende Faktor: der Mensch.
“Wassernutzung, Klimakrise und veränderte Landnutzung haben für Milliarden Menschen und viele Ökosysteme weltweit eine Wasserkrise erzeugt”, warnen die Wissenschaftlerïnnen. Eine Darstellung des Wasserkreislaufs ohne diese Risiken schaffe nicht nur bei Schülerïnnen, sondern auch bei Politikerïnnen “ein falsches Gefühl von Sicherheit”.
Wir Menschen nutzen bereits die Hälfte des Wassers, das vom Land ins Meer fließt
Hydrologïnnen teilen das Wasser, das Menschen aus dem Wasserkreislauf abzweigen, nach drei Kriterien ein: “Grün” nennen sie Wasser, das Pflanzen und Tiere aus der Bodenfeuchte aufnehmen. “Blaues” Wasser wird transportiert, um es für menschliche Zwecke zu nutzen. Mit “grauem” Wasser werden Verschmutzungen verdünnt, die der Mensch verursacht hat.
Bei allen drei Typen von Wassernutzung dominieren Abbott zufolge inzwischen wir Menschen.
Wir
- zweigen Wasser ab, um Milliarden Nutztiere zu versorgen, Äcker wie Nutzwälder zu bewässern, mit Staudämmen Strom zu gewinnen sowie Haushalte und Wirtschaft zu versorgen
- zerstören in großem Stil Wälder, Feuchtgebiete und andere Ökosysteme, die Wasser speichern
- verschmutzen Wasser durch industrielle Prozesse
- verändern durch die Erderwärmung, wo wieviel Wasser fließt, verdunstet und gespeichert wird.
In der Fachzeitschrift Hydrological Processes zeigen Benjamin Abbott und seine Kollegïnnen die Dimensionen des menschlichen Eingriffs auf: Die gesamte Menge an “grünem”, “blauem” und “grauem” Wasser, die Menschen jedes Jahr benutzten, übersteige die Menge an Grundwasser, die nachgebildet werde. Sie entspreche nicht weniger als der Hälfte allen Wassers, das vom Land in die Meere fließt.
Menschen haben – mit Ausnahme der Antarktis – nahezu vier Fünftel der Landoberfläche verändert.
„Der Mensch greift auf ganz vielfältige Weise in den Wasserkreislauf ein und das auch schon seit längerem, “ sagt Stefan Liehr vom Institut für Soziale Ökologie in Frankfurt am Main im Video-Interview. „Er greift ein, erst mal natürlich dafür, dass wir überleben können. Dass wir eine Sicherheit haben in unserer Trinkwasserversorgung“. Auch die Landwirtschaft sei ein wichtiger Faktor im Wasserkreislauf geworden, unter anderem weil Vieh, Obstanbau und Ackerfrüchte Wasser brauchen.
Klimakrise fördert Dürren
Zu den wichtigsten Risikofaktoren gehört die Klimakrise, die inzwischen auch viele Menschen in Europa am eigenen Leib zu spüren bekommen. Seit dem Jahr 75 vor Christus hat es in Europa noch nie so viele Dürrezeiten in Folge gegeben wie in den vergangenen Jahren. Das fand ein internationales Forschrïnnenteam bei einer Studie an Jahrringen von lebenden Eichen und historischen Holzproben heraus.
Steigen die Temperaturen, kann die Atmosphäre mehr Feuchtigkeit aufnehmen. In den Prognosen der Klimaforscherïnnen sieht es, was menschlichen Zugang zum Wasser anbelangt, nicht gut aus: Der Klimawandel macht trockene Regionen trockener, und lässt es woanders so stark regnen, dass es zu Überschwemmungen kommt. Über den Klimawandel verschiebt der Mensch die Wasserverteilung auf der Welt, indem er zum Beispiel Gletscher schmelzen lässt, die Süßwasser speichern. Die Erwärmung von Gewässern kann Tieren und Pflanzen das Leben schwer machen, Biodiversität und Wasserqualität gefährden.
Davon besonders betroffen sind die ärmsten Länder der Welt – die sogenannten least developed countries wie etwa Äthiopien, Kambodscha, der Jemen oder Haiti – weil sie sich keine teuren Gegenmaßnahmen leisten können.
Schon heute leben 785 Millionen Menschen ohne Zugang zu sauberem Wasser. Zwar versprechen die Vereinten Nationen in ihren Sustainable Development Goals, dass bis 2030 jeder Mensch Zugang zu sauberem Wasser haben soll. Doch die Klimakrise macht es deutlich schwieriger, dieses Ziel zu erreichen.
„Für die Landwirtschaft werden oft Wälder abgeholzt. Die Landnutzung verändert sich, die Vegetation verändert sich ganz stark. Das hat ganz viele Einflüsse darauf, wie Wasser in den Boden infiltriert, wie Grundwasser gebildet wird.“ (Stefan Liehr, Sozialhydrologe)
Abholzung vermindert Niederschläge
Ebenso tief wie mit der Erderhitzung greifen wir Menschen in den Wasserkreislauf ein, indem wir Land intensiv nutzen und zum Beispiel Wälder abholzen, um Weiden oder Ackerland daraus zu machen.
Wenn Menschen die Landnutzung in großem Stil ändern, kann es sein, dass in der einen Region weniger Wasser verdunstet – und es plötzlich anderswo weniger regnet.
Solche Risiken erforscht Solomon Gebreyohannis Gebrehiwot vom Äthiopischen Institut für Wasserressourcen in Addis Abeba. Mit Wissenschaftlerïnnen aus Äthiopien, Schweden, der Schweiz und der Demokratischen Republik Kongo hat er sich die Quellen des Regens vorgenommen, die im äthiopischen Hochland fallen und letztlich den blauen Nil speisen, den an Wasser reicheren der beiden Flüsse, die im Sudan zum Nil zusammenfließen und im weiteren Verlauf für Millionen Menschen und den Anbau von Weizen und anderen Grundnahrungsmitteln überlebenswichtig sind.
Gebrehiwots Forschungsergebnisse zeigen, wie zentral wichtig intakte Ökosysteme für die Wasserversorgung sind: Wenn im äthiopischen Hochland weniger Niederschläge fallen, hat der Nil auf Tausende Kilometer weniger Wasser. Denn 85 Prozent des Nilwassers, welches das ägyptische Assuan erreicht, stammt aus dem äthiopischen Hochland.
Weit entfernte Wälder sind verborgene Quellen des Nils
Die Feuchtigkeit für den Regen, der im äthiopischen Hochland fällt, kommt wiederum von weit her, fanden Ellen Viste and Asgeir Sorteberg von der Universität von Bergen in Norwegen heraus. Vom Mittelmeer über das Rote Meer, die arabische Halbinsel und Eritrea; aus dem indischen Ozean vor Somalia, aus dem indischen Ozean vor Tansania über Ruanda, Burundi und den westafrikanischen Regenwald sowie aus dem Westen vom fernen Atlantik, ebenfalls über den westafrikanischen Regenwald.
Fast die Hälfte der Feuchtigkeit für den Regen im äthiopischen Hochland trägt der Wind aus Richtung des westafrikanischen Regenwalds herbei. Und auf dem Weg über den Wald bekommt er noch Wasserdampf dazu. Ein britisches Forscherteam aus Leeds und Oxford fand heraus: Luftmassen, die sich in den Tropen ein paar Tage lang über üppiger Vegetation fortbewegt haben, produzieren mindestens doppelt so viel Regen wie Luft, die über spärlichen Bewuchs strich.
Tropische Regenwälder sind das Üppigste, was es an Vegetation an Land gibt. Das heißt für das äthiopische Hochland: Der westafrikanische Regenwald ist außer Transportweg auch Quelle für Regen spendende Feuchtigkeit in der Luft. Oder im Umkehrschluss: Der Nil bekommt weniger Wasser, wenn Regenwald verschwindet.
Flüssige Fernbeziehungen
Genau das passiert. Der westafrikanische Regenwald bedeckt 13 Prozent der Landfläche Afrikas. Er ist zwischen 2010 und 2020 stärker geschrumpft als die Wälder in Amazonien. Jedes Jahr wurden 3,9 Millionen Hektar abgeholzt und in Agrarflächen umgewandelt.
Der Nil ist zwar der längste Fluss der Erde, aber bezogen auf die Fläche seines Flusseinzugsgebiets liefert der Nil unter den großen Strömen der Erde das wenigste Wasser. Doch mehr als 200 Millionen Menschen sind von Wasser des Nils abhängig – und bis 2030 rechnen Demografen mit mehr als 550 Millionen Menschen.
Das Wasser des Nils wird für die Produktion von Nahrungsmitteln gebraucht, aber es ist auch zentral für die Trinkwasserversorgung. Den Wasserbedarf Ägyptens zum Beispiel deckt zu 97 Prozent der Nil, inklusive Trinkwasser.
Schon heute ist das Wasser für die Menschen am Nil knapp. Fragen der Verteilung bergen viel Konfliktstoff zwischen den Staaten im Einzugsgebiet des Nils. Ganze Nationen wie Ägypten, Äthiopien, Burundi, die Demokratischen Republik Kongo, Eritrea, Kenia, Ruanda, Sudan, Südsudan, Tansania und Uganda stehen vor der Frage, woher sie im 21. Jahrhundert ihr Wasser bekommen sollen.
Staudämme am Oberlauf sehen Länder weiter unten als existenzbedrohend an. Sie befürchten, dass ihnen das Wasser abgedreht wird. Das birgt gefährlichen Konfliktstoff, über den bislang die Länder im Nilbecken verhandeln.
Doch eigentlich, urteilen Gebrehiwot und seine Forscherkollegïnnen, müssten auch Regenwaldstaaten, die gar nicht am Nil oder einem seiner Nebenflüsse liegen, in die Gespräche und in das Wassermanagement des Stroms einbezogen werden. Denn ihre weit entfernten Wälder sind verborgene Quellen für Wasser aus dem Nil.
Bedrohte Wälder und Feuchtgebiete
Änderungen der Landnutzung betreffen den Wasserkreislauf nicht alleine in Afrika. Ein weiteres Beispiel haben in Indien Supantha Paul und Subimal Gosh vom Interdiszipliären Klimastudienprogramm des Indian Institute of Technology Bombay in Mumbai nachverfolgt. Zwischen 1987 und 2005 sind auf dem Subkontinent große Flächen an bewaldeter Savanne in Ackerland umgewandelt worden. Danach gab es der Studie zufolge weniger Bäume, die Wasser verdunsten ließen. Das hat Auswirkung für große Teile Indiens: Die Entwaldung führt nun zu weniger Regen in der Monsunzeit.
Ähnlich negativ wie Entwaldung wirkt die fortgesetzte Trockenlegung von Feuchtgebieten: Moore und Sümpfe und andere feuchte Lebensräume spielen eine zentrale Rolle dabei, Wasser aus der Luft oder aus Bächen und Flüssen aufzunehmen, zu speichern und in tiefere Schichten weiterzuleiten, wo sie zu Trinkwasser werden.
Doch kein anderer Lebensraum hat so stark gelitten wie Feuchtgebiete und kein anderer Lebensraum wird so schnell zerstört: Seit dem Jahr 1700 wurden Analysen des Weltbiodiversitätsrats IPBES zufolge 85 Prozent aller Feuchtgebiete trockengelegt oder anderweitig zerstört. Und das, was übrig ist, wird im „Krieg gegen die Natur“, von dem UN-Generalsekretär António Guterres spricht, attackiert.
Aktuelle Beispiele:
- Das brasilianische Pantanal, eines der größten tropischen Feuchtgebiete der Erde, stand 2020 auf so großen Flächen wie nie zuvor in Flammen.
- Im Okavango-Delta im südlichen Afrika gefährden Pläne für die Förderung fossiler Brennstoffe und eine Pipeline das fragile Ökosystem.
- In Osteuropa drohen Feuchtgebieten zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer der Umweltorganisation Wetlands International zufolge Schäden durch das Großprojekt eines 2000 Kilometer langen Kanals namens E40.
“Feuchtgebiete verschwinden in einem dreimal größeren Tempo als Wälder”, warnt Martha Rojas Urrego, Generalsekretärin der Ramsar-Konvention zum Schutz der Feuchtgebiete, im RiffReporter-Interview.
Grundwasser: Der verborgene Schatz
Was an der Oberfläche passiert, wenn Wälder abgeholzt oder Sümpfe überbaut werden, ist für jeden sichtbar. Nicht aber das, was die Naturzerstörung im Untergrund bewirkt, aus dem wir unser Trinkwasser schöpfen.
Was dort, im Grundwasser, passiert, ist nur wenigen Menschen bewusst und nur wenige Expertïnnen kennen sich damit aus.
Um das Grundwasser und unseren Einfluss auf diese verborgene Quelle von sauberem Wasser geht es in Teil 2 dieses Reports.
Bonus-Material:
Im RiffReporter-Interview erklärt der Sozialhydrologe Stefan Liehr vom Institut für sozial-ökologische Forschung anschaulich die Rolle des Menschen im Wasserkreislauf.
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Im Projekt „Countdown Natur" berichtet ein Team von 25 Journalistinnen und Journalisten mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel Ende 2021 über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen wurden vom European Journalism Centre durch das Programm „European Development Journalism Grants“ gefördert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.