Anthropozän: Wenn geologische Bohrungen Denkhorizonte erschüttern

Am Berliner Haus der Kulturen der Welt erkunden Wissenschaftlerinnen und Künstler die neue Erdepoche des Menschen. Sie fördern dabei Überraschendes zutage

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Geologin bei der Arbeit, Bild von Gesteinsschichten

Eis ist ein Archiv, das seine Informationen erst preisgibt, wenn es sich aufgelöst hat. Man kann dabei zuhören: Es macht Geräusche, wenn es schmilzt. Um das zu zeigen, drehte Liz Thomas, Paläoklimatologin beim British Antarctic Survey, während der Anthropozän-Tage im Berliner Haus der Kulturen der Welt die Lautstärke ihres Mikrofons nach oben und hielt es nah an das Stück antarktischen Eises, das vor ihr in einer Schale langsam zu Wasser wurde: Ein zartes Knacken, Knistern und Pfeifen war zu hören, während die winzigen Luftbläschen entwichen, die 200 Jahren lang, denn so alt war das Eis, in ihm gefangen waren.

Im Labor wären Gas und Flüssigkeit nun getrennt und in einem aufwendigen Verfahren auf ihre chemische Zusammensetzung hin analysiert worden. Im Auditorium des HKW durften sich die winzigen Luftpartikel aus vorindustrieller Zeit mit denen aus dem Jahr 2022 vermischen. Die Demonstration war Teil eines „Core-Readings“, eines „Bohrkern-Lesens“, bei dem Wissenschaftler höchst anschaulich erklärten, wie sie aus einem Stück Eis aus der Antarktis, einer Koralle aus dem Südpazifik oder den Sedimenten eines Sees in Kanada Spuren menschlicher Aktivität isolierten.

Ausverkauf an den Zeitgeist?

Insgesamt zwölf an verschiedenen Orten der Welt entnommene Bohrkerne waren der Ausgangspunkt für Gesprächsrunden und Diskussionen, zu denen das HKW vom 19. bis 22. Mai unter dem Titel „Unearthing the Present“ einlud. Zwölf Bohrkerne, auf denen die Hoffnung jener Geolog*innen ruht, die dafür sind, das Holozän offiziell enden zu lassen und die aktuelle Erdepoche Anthropozän zu nennen.

Das sind bei weitem nicht alle – in Fachkreisen gibt es durchaus Unbehagen daran, dass in einer Disziplin, die sich mit der Tiefenzeit der Erde auseinandersetzt, nun der Mensch, erdgeschichtlich gesehen eine brandneue Erscheinung, eine so zentrale Rolle bekommen soll.

Zwei Hochkantbilder, links Wissenschaftlerin mit Helm in Höhle, rechts Schnitt durch Gesteinsschicht
Spuren des Menschen: In der Ausstellung „Earth Indices“ dokumentieren Giulia Bruno und Armin Linke die Suche nach dem Ort, der das Anthropozän repräsentieren soll.

Es ist eine neue Erfahrung, dass das, was ich tue, so viele Aspekte des Lebens berührt.

Irka Hajdas, Geochronologin

Flugzeug neben einer Forschungsstation im Eis der Antarktis
Auch in der Antarktis werden die geologischen Spuren des Menschen untersucht. Ein 130 Meter langer Eisbohrkern soll Aufschlüsse über die Klimageschichte bis ins frühe 17. Jahrhundert geben.
Aufnahme eines Stausees mit weißer Beschriftung aus der Ausstellung.
In einer Ausstellung werden die zwölf Kandidaten für den Symbolort des Anthropozäns vorgestellt.