Meine ukrainischen Lieblingsorte werden zerbombt

Mit Angriffen auf Zivilisten versucht Russland die Moral der Ukrainer zu brechen. Eine „persönliche Geografie“ des Krieges.

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
6 Minuten
Men lower the coffin of Liza, 4-year-old girl killed by Russian attack, during a funeral ceremony in Vinnytsia, Ukraine, Sunday, July 17, 2022. Wearing a blue denim jacket with flowers, Liza was among 23 people killed, including two boys aged 7 and 8, in Thursday's missile strike in Vinnytsia. Her mother, Iryna Dmytrieva, was among the scores injured. (AP Photo/Efrem Lukatsky)

Kaufland Polska hat kandidierten Ingwer direkt von den Fidschi-Inseln im Sortiment. Danach steht mir gerade der Sinn. Auf dem Weg in den entsprechenden Supermarkt einer polnischen Großstadt sehe ich eine berührende Szene. Ein Paar bremst auf dem Radweg ab, stellt die Fahrräder hin und die junge Frau läuft über zwei Fahrbahnen auf einen braunen Fellknäuel zu. Bald hebt sie einen toten Hasen an den Hinterläufen auf, trägt ihn ins hohe Gras einer Böschung; sie tut das langsam und würdig.

Ich fahre weiter. Heute war ein eher leichter Tag. Am späten Nachmittag erhöhte sich die Opferzahl des russischen Raketenangriffs auf Tschassiw Jar auf 48 Personen. Als ich für meine Regionalzeitungen am Vortag darüber berichtet hatte, waren es erst 19 gewesen. Leicht daran war, dass ich nicht wusste, wo dieses Tschassiw Jar liegt, noch nie dort gewesen war, keinen Ukrainer und keine Ukrainerin von dort kenne oder je kannte.

Tagesgeschäft eines Auslandskorrespondenten

Was meist gewünscht ist, sind die News des Tages aus der Ukraine, idealerweise mit etwas Analyse. Dreimal war ich im Donbas in den letzten Jahren, aber in der 2021 offiziell noch 11500-Einwohner zählenden Stadt Tschassiw Jar bei Bachmut (früher: Artemiwsk) hatte ich nie Station gemacht. Es gibt viele Städte im Donbas, und in der ganzen Ukraine noch viel mehr. Nun waren also knapp 50 Personen, darunter mehrere Kinder, bei einem russischen Raketeneinschlag in einen gewöhnlichen Wohnblock getötet worden, dazu mindestens ebenso viele schwer verletzt.

Im russischen Verteidigungsministerium wird man wie gewöhnlich in solchen Fällen sagen, in dem Wohnhaus hätten sich ukrainischen Nationalisten, ja Faschisten versteckt; der Raketenangriff habe nicht einer zivilen Einrichtung gegolten, denn solche würden von den russischen Präzisionswaffen bei dieser «Spezial-Operation» nie getroffen.

Die persönliche Geographie des Krieges

Von angeblich faschistischen Kämpfern, überhaupt von Kämpfern sieht Kiew keine Spur; die Ukrainische Armee ist an der Frontlinie südlich von Bachmut stationiert, welches seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine einem erheblichen Druck separatistischer und russischer Truppen ausgesetzt ist. Die Analyse ist hier einfach und liegt auf der Hand: Russland versucht in dem Krieg, der nach zwei Tage vorbei sein sollte, nun aber bereits fast 150 Tage andauert, die Moral der Ukrainer mit Angriffen auf Zivilisten zu brechen.

Als Korrespondent war es für mich wesentlich einfacher über Tschassiw Jar zu schreiben, als neun Tage zuvor über einen Raketenangriff auf das Dorf Serhijewka rund 900 Kilometer südwestlich am Schwarzen Meer. Denn in diesem Krieg habe ich meine eigene, sozusagen persönliche Geographie. Sie bestimmt oft meinen Schmerz nach den russischen Raketeneinschlägen, und dies eher unabhängig von der meist sowieso nach ein paar Tagen steigenden Opferzahl.