„Wenn das ein Hinterhalt ist, werde ich töten müssen“
Die Front in der Charkiw Region der Ukraine ist so unvorhersehbar wie keine andere. Noch immer versuchen Menschen von dort zu fliehen, gleichzeitig gibt es Gerüchte: Senden russische Soldaten falsche Evakuierungsgesuche an die Behörden und Helferïnnen? Der Nachrichtendienst GUR soll aufklären – dabei ist jede Mission ein Spiel mit dem Feuer. Zwischen Rettung und Hinterhalt: Auf Mission mit dem GUR-Soldaten Artem.
Der Motor heult auf, während sich der staubbedeckte Skoda Octavia durch die holprigen Straßen der Charkiw-Region kämpft. Immer wieder leuchtet die Motorkontrollleuchte auf. Kyrill, der Fahrer, schaltet den Wagen während der Fahrt ab und wieder an. „Das Auto ist Mist“, sagt er und rast weiter mit 120 Kilometern die Stunde durch die engen Kurven, weicht tiefen Schlaglöchern aus. „Aber es wird uns sicher nach Hause bringen.“
Er wirkt belustigt wegen des Zustands des Autos – und dennoch fokussiert. Neben ihm sitzt Artem. Ein Mann, dessen echter Name und Gesicht aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht werden dürfen. Er arbeitet für den ukrainischen Militärnachrichtendienst GUR und steht vor einer potenziell lebensgefährlichen Mission. Im schlimmsten Fall werden an diesem sonnigen Tag Mitte Mai Menschen sterben.
Einen Tag vorher waren in der Region um die Kleinstadt von Wowtschansk freiwillige ukrainische Helferïnnen unterwegs. Am 10. Mai startete Russland eine erneute Invasion auf die Oblast Charkiw, Wowtschansk, das nur fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, war mit den unmittelbaren Auswirkungen des Angriffs konfrontiert. Innerhalb kurzer Zeit sind russische Truppen weit vorgedrungen, die ukrainischen Einheiten mussten sich teilweise in Windeseile zurückziehen. Die Frontlinie ist so unvorhersehbar wie lange nicht mehr – auch wenn sie mittlerweile von ukrainischer Seite an manchen Stellen wieder stabilisiert wurde.
Tausende Menschen mussten fliehen. Noch immer sind einige Freiwillige in Zusammenarbeit mit Behörden wie der Polizei unterwegs, um jene aus den heftig umkämpften Dörfern zu evakuieren, die bisher zurückgelassen wurden: meist alte Frauen und Männer, die keine Handys besitzen und oft kaum oder gar nicht mehr gehen können.
Die Helferïnnen sind an diesem Tag in dem Dorf Chotimlja. Das liegt noch immer etwa 20 Kilometer von den Kämpfen entfernt. Einschläge der russischen und ukrainischen Artillerie sind hier, wenn überhaupt, nur als leises Grummeln wahrnehmbar. Doch man will vorbereitet sein. Den Menschen genügend Alternativen bieten, für den Fall, dass die Lage weiter eskaliert. Hier treffen sie auf Natalyja, eine Kassiererin in einem kleinen Straßengeschäft.
Verdächtiger Anruf
Natalyja, eine Frau mit roten Haaren und grimmigem Blick, gibt einem Freiwilligen eine Telefonnummer. Erklärt, eine alte Frau warte sehr nah an der Frontlinie bereits seit einer Woche auf Hilfe. Man habe der Babusija – zu Deutsch Oma – mehrfach versprochen, sie zu evakuieren, doch niemand sei gekommen.
Wenige Stunden später sitzt Artem, der Militärgeheimdienstler, bei dem Freiwilligen und berät mit ihm die Situation. Artem hatte sich eingeschaltet, weil der Anruf bei dieser Nummer mehr als verdächtig verlief. Weder über die normale Telefonverbindung noch über die Messenger Whatsapp oder Signal konnte man die Nummer erreichen. Erst als man es mit dem Messenger Viber versuchte, nahm eine Person den Hörer ab. Viber wird auch häufig von der russischen Seite genutzt. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine recht junge Frauenstimme. Sie klang ruhig, nicht ängstlich. Sagte aber, man müsse schnell kommen. Sie sprach russisch, was im Osten der Ukraine keine Seltenheit ist.
Doch irgendetwas stimmte nicht.
Man war etwa 20 Minuten mit ihr am Telefon. Die Frau erklärte, wie schlimm die Lage sei, wie viele Raketen geschossen würden – doch zu hören war durchs Telefon nichts. Wer war diese Frau am Telefon? Wo war die alte Frau, von der Natalyja in dem kleinen Ladengeschäft berichtete? Schon seit einigen Tagen machten Gerüchte in der Charkiw-Region die Runde, russische Soldaten würden Freiwillige durch falsche Evakuierungsanfragen in Hinterhalte locken. Es habe, so erzählt man es sich, bereits mehrere solcher Anfragen gegeben: Helferïnnen sollen demnach direkt an russische Positionen geleitet werden. Deshalb ist Artem jetzt vor Ort. Er übernimmt den Fall.
Wie viele solche Missionen derzeit stattfinden, bleibt unklar: Sie werden in der Regel im Geheimen durchgeführt. Um Freiwillige nicht unnötig in Gefahr zu bringen, übernehmen Behörden wie der Nachrichtendienst oder Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs diese Aufträge. Klar ist allerdings: Wer nicht rechtzeitig evakuiert werden kann, befindet sich in ständiger Lebensgefahr – und wird womöglich erneut unter russischer Besatzung leben müssen. Wie bereits zu Beginn der großen Invasion, als Russland einen großen Teil der Oblast Charkiw bis Herbst 2022 besetzt hatte.
Suche nach mehr Information
In der Nacht noch fährt er zu den Freiwilligen nach Hause und besorgt sich Fotomaterial von der Kassiererin Natalyja. Sollte es sich um einen Hinterhalt handeln, steht diese Frau aus dem Laden womöglich auch auf der Seite des Feindes. Er schickt die Telefonnummer, die die Kassiererin weitergegeben hatte, an einen Kollegen. Der soll sie überprüfen. Offenbar hatte die Nummer über Mobilfunk einmal funktioniert. Gegen Mitternacht erhält Artem eine Liste mit weiteren Telefonnummern. Nummern, mit denen der Besitzer des Handys in Kontakt stand. Dort reihen sich ukrainische, aber auch mehrere russische Verbindungen ein.
Mit der Liste auf dem Handy fährt er zu einem weiteren Kollegen in Charkiw, bespricht sich zehn Minuten in einem Hinterhof eines Wohnblocks mit ihm – in der Dunkelheit, bei einer Zigarette. Fast die gesamte Nacht versucht der GUR-Soldat, mehr über diese Anfrage zu erfahren. Doch die Wahrheit kann er nur am nächsten Tag herausfinden – direkt vor Ort. Handelt es sich um einen Hinterhalt oder eine Rettung in letzter Minute?
Die Fahrt führt nach Bochkove, auf der Open Intelligence Karte Deepstatemap, die viele Freiwillige nutzen, um sich ein einigermaßen aktuelles Lagebild zu verschaffen, liegt das kleine Dorf noch rund acht Kilometer von der Front entfernt. Doch Fahrer Kyrill erklärt, dass man sich in dieser Region und bei dieser Schlacht überhaupt nicht mehr auf diese Karte verlassen kann. „The map is pisdez“, sagt er. Die Karte ist scheiße. Zum einen sei die Front längst weiter vorgerückt, und zum anderen habe man gesicherte Information, dass sich in dem Wald nördlich des Dorfes die Gruppe Russitsch befindet. Ein Trupp, der sich als Sabotagegruppe jenseits der Frontlinie bewegt, für die russischen Entscheider aufklärt und militärische wie auch teilweise zivile Ziele angreift. Dieser Trupp sei etwa einen Kilometer entfernt.
„Wenn das ein Hinterhalt ist, werde ich töten müssen“, hatte Artem am Abend davor gesagt. Er sagte es ganz ruhig in die Übersetzer-App auf seinem Smartphone, hob den Kopf und die Augenbrauen – als fragte er, ob alle im Raum damit einverstanden seien. „Das ist mein Job“, fügte er hinzu – und widmete sich wieder dem Handy. Jetzt im Auto dreht er sich immer wieder nach hinten zum Rücksitz, als wollte er überprüfen, ob weiterhin alle Insassen bereit sind für das, was womöglich auf sie zukommen wird. Dann richtet er seinen Blick wieder nach vorn, schaut durch die Windschutzscheibe in den Himmel. Sein Telefon klingelt, er diskutiert, legt wieder auf und zeigt dem Fahrer ein Video aus einer vergangenen Mission. Die beiden lachen kurz auf, dann muss sich Kyrill wieder auf die Straße konzentrieren.
Probleme am Checkpoint
Was Artem und Kyrill erleben werden, ist ungewiss, jeder gefahrene Kilometer bringt sie näher an die Realität des Krieges. Vorbei an zerstörten Brücken und Häusern, über den Fluss Donets, der nur noch mithilfe einer brüchigen und provisorischen Brücke zu überqueren ist. An deren linken Ende liegt ein Spielplatz, direkt am Ufer des Flusses. Rote und gelbe Trümmerteile von Klettergerüsten und Rutschen geben einen Einblick in das, was Raketeneinschläge anrichten können.
Kyrill lenkt den Wagen stürmisch durch die Straßen, während die Landschaft der Zerstörung und des Widerstands an ihnen vorbeizieht. Bochkove liegt östlich von Wowtschansk. Um dort hinzugelangen, müssen mehrere Checkpoints passiert werden. Artem sagt selbst den Wachposten vor Ort nicht, was sein Plan ist – sein Auftrag soll, bis er beendet ist, keine Aufmerksamkeit erregen. Das stellt ihn am letzten Checkpoint in der Nähe der Front vor ein Problem. Das Auto wird zur Seite gewunken. Kyrill steigt aus, diskutiert mit den Militärs, die darüber entscheiden, wer passieren darf und wer nicht.
Er begleitet die Männer, Artem wartet im Auto. Es dauert rund zehn Minuten, dann tritt Kyrill mit gesenktem Blick aus den provisorisch aufgestellten Blockaden hervor. Er kratzt sich am Hinterkopf, kneift die Augen zusammen, um sie vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. „Wir können hier nicht durch“, sagt er. Lagebesprechung.
Situation hat sich zugespitzt
Die Situation hat sich laut den Soldaten am Checkpoint innerhalb der 40 Minuten, die das Auto von der Innenstadt Charkiws bis zu diesem Ort gebraucht hat, drastisch zugespitzt.
Was laut vorherigen Informationen noch einen Kilometer entfernt war, ist jetzt bereits – so sagen es die Militärs zumindest – eine Mischung aus roter und grauer Zone. In der roten Zone gibt es keine ukrainischen Einheiten mehr – nur noch russische. In der grauen wird derzeit gekämpft. Offenbar hat die Gruppe Russitsch einen Vorstoß gemacht. Es handle sich nicht um viele Kämpfer, sagt Kyrill, doch die Gefahr sei erheblich gestiegen. Man wisse nicht, wo man auf Russen stoßen würde. Das Risiko, eine deutsche Journalistin dort mit hineinzunehmen, wollen die beiden Ukrainer nicht tragen.
„Es gibt eine andere Route – ohne Checkpoint“, sagt Artem. Die Journalistin bleibt zurück und wird die Ukrainer bis zum späten Abend nicht wieder sehen.
Es dauert rund drei Stunden, bis eine Nachricht auf dem Handy erscheint. Drei Wörter. „We are fine.“ Uns geht es gut. „Habt ihr die Menschen herausgeholt?“, fragt die Journalistin den Fahrer Kyrill. Er antwortet: „Ich fahre gerade durchs Feld.“ Dann Stille.
Durch welches Feld fahren sie? Wie nah sind sie am Ziel? Oder haben sie es bereits erreicht und sind auf dem Rückweg? Wenn sie schon vor Ort waren – was haben sie vorgefunden? Artem hatte zuvor gesagt, dass die neue Route ein sehr großer Umweg sei. Mehr als 100 Kilometer, was wegen der maroden Straßen in der Ukraine mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann. Gut möglich also, dass sie noch immer auf dem Weg sind.
Bis die nächste Nachricht kommt, vergehen weitere drei Stunden.
„Wir sind raus. Es war gut, dass du nicht mitgekommen bist.“
„Warum, was ist passiert?“, fragt die Journalistin.
„Alles OK. Ich werde in 40 Minuten da sein.“
Zurück in Charkiw. Artem hat sich von Fahrer Kyrill bereits in ein Appartement bringen lassen. Von ihm gibt es keine weiteren Informationen. Kyrill berichtet, dass noch immer nicht klar ist, ob eine der Frauen, die evakuiert wurden, womöglich prorussisch ist – es wirke zumindest so. Er und Artem haben eine Weile warten müssen, bis sie das Dorf betreten konnten. Solange, bis eine Beschusswelle pausierte. „Sie brauchen ungefähr 15 Minuten zum Nachladen“, sagt er. Seine Augen sind leer, die Ringe darunter dafür umso wirkungsvoller.
Als sie hörten, dass der Beschuss vorbei war, rasten sie los. Rein, Auftrag erledigen, raus. Tatsächlich warteten zwei Babusijas darauf, in Sicherheit gebracht zu werden. Russische Positionen habe man nicht gesehen. „Sonst wären wir auch nicht mehr hier“, sagt der Fahrer. Seine Stimme bekommt einen unerwarteten Unterton. Es ist ein leises Lachen, das sich einmischt. Leichte Heiterkeit, durchzogen von einer spürbaren Nervosität, die aber verborgen bleiben soll. Eine Ahnung von Unsicherheit.
Tochter lehnt Evakuierung ab
Die Frauen haben Kyrill und Artem zu einer Geflüchtetenunterkunft in der Innenstadt Charkiws gebracht, die Personalausweise zur Sicherheit abfotografiert. Die junge Frau, die zuvor am Telefon um die Evakuierung gebeten hatte, war laut Kyrill die Tochter von einer der alten Frauen. Sie sei auch vor Ort gewesen, habe dabei geholfen, die Mutter ins Auto zu bringen. Evakuiert werden wolle sie nicht. „Sie sagte, sie wird gehen, wenn es dann wirklich gefährlich wird“, erklärt Kyrill. Ein morbides Lachen. „Ich werde sie dann holen.“
Kyrill zeigt noch schnell ein Foto. Darauf eine Baumreihe, hinter der vier bis fünf Rauchwolken in die Luft steigen. „So sah es in dem Dorf aus, nachdem wir es verlassen haben“, sagt er. Packt das Handy weg, verabschiedet sich – und geht.