Ping-Pong-Spiel im Kunstverein - ein subversiver Akt?

Wie experimentelle Kunst aus Brasilien die latent drohenden Gefahren in autokratischen Systemen erfahrbar macht und sich gegen sie auflehnt.

7 Minuten
Kopf einer Frau mit dunklen kurzen Haaren, die sich brennende Streichhölzer vor die Augen hält.

Demokratie verachtende, autokratische Systeme haben überall Aufwind. Was sagt die Kunst dazu? Anders als der neorealistische Film Für immer hier, bezeugt das Werk der Künstlerin Lenora de Barros die Erfahrung der Militärdiktatur in Brasilien indirekt, aber nicht weniger intensiv.

Die Sprache ist eine schillernde Diva, die einem nicht immer gehorcht. Sagt der Tonfall mehr als Worte? Leonora de Barros ist eine Expertin für das komplexe Verhältnis von Körper und Sprache. Doch geht es ihr eben nicht um Psychologie, sondern um die spielerische Kreation neuer Sinnzusammenhänge und neuer Situationen. Die Künstlerin erkundet Sprache sensitiv, spielt mit Klang und Rhythmus, arrangiert Zeichen vieldeutig im Raum. Ihre visuellen Gedichte und Aktionen leben vom Zufall und einem Zug ins Fantastische. Dieser Mix präsentiert sich in großer Einfachheit, aber mit großem Effekt, wie sie Ausstellung Leonora Barros.To See Aloud im Badischen Kunstverein zeigt.

Teil eines multisensorischen Gedichts werden

Die Aussage „laut zu sehen“ erscheint zunächst widersinnig. Dabei ist die multisensorische Wahrnehmung bei allen Lebewesen der Normalfall. Vielleicht ist der Titel auch nur ein Hinweis, ihre Werke nicht nur zu betrachten, sondern auf das Klacken der Bälle auf dem Boden und der Tischtennisplatte zu hören. Der extra für die Schau angefertigte „Ping Poem Table“ ist für das Publikum freigegeben. Im Spiel entfaltet sich ein Klanggewitter, dem normalerweise niemand Aufmerksamkeit schenkt und die Spieler:innen werden Teil eines multisensorischen Gedichts.

Blick in einem hohen Raum; im Vordergrund eine Tischtennisplatte; auf dem Boden liegen Tischtennisbälle.
Lust auf einen Schlagabtausch am Ping-Poem-Table? Lenora de Barros verbindet konkrete Poesie mit Interaktion und Spiel.

Auf der Wand ist in großen Lettern ein kurzer Schriftzug auf Portugiesisch zu lesen. Übersetzt lautet er „Was eint – trennt“. Gemeint ist der Bindestrich, der Worte verbindet und Satzteile trennt. Jeder Tischtennisball ist mit einem Bindestrich bedruckt und wird damit zu einem mehrdeutigen, und damit subversiven Objekt. Was bedeutet es, etwas zu trennen, was bedeutet es, etwas bewusst miteinander zu verbinden? Man lernt mit Lenora Barros Gewissheiten gegen den Strich zu lesen. Die Künstlerin ist zweifellos im Reich der Zeichen zuhause, was zunächst ein wenig klinisch wirkt. Die Poesia concreta florierte in den 1950er Jahren in São Paulo parallel zu ähnlichen Bestrebungen in Europa. Ziel war die Abschaffung des lyrischen Ichs und des traditionellen Versmaßes. Berühmt ist die brasilianische Gruppe Noigandres, der sich die Künstlerin verbunden fühlt.

Poesie im Streik

Die 1953 in São Paulo geborene Künstlerin war bereits 1975 Mitherausgeberin der Kunst- und Lyrikpublikation Poesia em greve, Poesie im Streik. Dieser Titel kann als Kommentar zur politischen Lage damals verstanden werden, zur Einschränkung der Meinungsfreiheit während der Militärdiktatur in Brasilien, die sich 1964 an die Macht geputscht hatte. Nach dem Ende des Regimes 1985 erforschte Lenora de Barros die Sprache verstärkt performativ und erkundete die körperlichen Aspekte der Sprache. Gab es Vorbilder?

Gewalt gegen Sprache und Körper sind in meinem Werk allgegenwärtig und können als metaphorischer Widerhall, als Erbe einer von Zensur, Autoritarismus und Kontrolle geprägten Zeit begriffen werden.

Lenora de Barros

In mancher Hinsicht sei ihre Arbeit auch von dem partizipativ angelegten Werk von Lygia Clark (1920–1988) wie auch von Hélio Oiticia beeinflusst, bestätigt Leonora de Barros. Beide Leuchttürme der brasilianischen Kunst stünden für eine experimentelle Haltung gegenüber künstlerischen Ausdrucksformen. Deren Werk sei darauf angelegt gewesen, die Grenzen der etablierten Kunstformen auszuweiten. „Sie stehen für den nonkonformistischen Geist der 1960er und 1970er Jahre und eine postmoderne Haltung“. Sie erinnert sich, wie sie 1970 eine Dokumentation über Lygia Clark sah, und sie 1973 an deren Performance Baba antropofágica teilnahm. „Ich war tief beeindruckt von der Kraft und dem Feld von Bedeutungen, das ihre Aktionen auslösten“, sagt Lenora de Barros. „Clarks Erkundung des Körpers, ihre sensorische Erfahrung und partizipative Praktiken waren extrem wichtige Referenzpunkte für mich. Vor allem ihr Interesse an der Beziehung zwischen innen und außen, privat und öffentlich und wie der Körper ein Ort der Transformation und des Widerstands sein kann.“

Língua ist im Portugiesischen das Wort für Sprache und Zunge

Der Dreh- und Angelpunkt des Werks von Lenora de Barros ist jedoch die Doppelbedeutung des portugiesischen Wortes Lingua, das sowohl Sprache als auch Zunge heißt. Die Zunge liegt diskret verborgen in der Mundhöhle. In ihren Videoperformances untersucht die Künstlerin diesen Muskel am eigenen Leib und stellt seine Beweglichkeit zur Schau oder attackiert ihn. In der Arbeit „CALABOCA (Shut up)“ ist die Künstlerin verstummt, während jemand ihr die Buchstaben des Wortes Silêncio in die Zunge hämmert. Diese brutal wirkende Szene entstand als Fotomontage, die in das Video eingebaut ist. Dieses Bild verwendete de Barros auch als partizipative Aktion bei Eröffnungen.

Drei große Bildschirme, die in einem abgedunkelten Saal auf dem Boden im Raum stehen.
Das brasilianische Wort lingua bedeutet sowohl Zunge als auch Sprache. Lenora de Barros nutzt diese Doppeldeutigkeit für ihre experimentellen Videogedichte.

Bei diesem Videogedicht spielt sie deutlich auf Unterdrückung und Folter an, ohne konkrete Anklage zu erheben. Der experimentelle und spielerische Charakter der Performances von Lenora de Barros wirkt vorschnellen Interpretationen eher entgegen. Die Situation ist unklar. Kann es sein, dass da wirklich eine Zunge penetriert wird? Warum? Ist es eine konkrete Strafe oder handelt es sich um ein metaphorisches Bild? Die Künstlerin verwickelt ihr Publikum in Gedankenspiele, die über eindeutige Analogien hinausgehen.

Von Gewalt geschwängerte Unterströmungen zeigen

Aber ja, eine Verbindung zu der politischen Realität gäbe es in ihrem Werk schon. „Auch wenn meine Arbeit nicht unmittelbar auf die Militärdiktatur in Brasilien bezogen ist, ist sie durch die historischen und politischen Spannungen dieser Zeit beeinflusst“, bestätigt sie. „Gewalt gegen Sprache und Körper sind in meinem Werk allgegenwärtig und können als metaphorischer Widerhall, als Erbe einer von Zensur, Autoritarismus und Kontrolle geprägten Zeit begriffen werden.“ Das sei ein Erbe, das noch immer andauere. Heute seien die Verunsicherungen subtiler, seien aber genauso von Gewalt geschwängerte Unterströmungen, die in ihrem Werken fühlbar würden.

Die brasilianische Avantgarde entwickelte in der konkreten und neokonkreten Kunst der 1950er bis 1970er Jahre einen bis heute für die Kunst relevanten Werkzeugkasten für die experimentelle Untersuchung der Beziehung von Mensch und Gesellschaft. Lenora de Barros Werk baut darauf auf, sie bringt das System der Sprache in Aktion, hämmert mit dem Eröffnungspublikum das Wort SILÊNCIO an die Wand. Die Sinfonie des kollektiven Hämmerns steht im Gegensatz zu dem, was als Resultat an der Wand zu lesen ist.

Ein anderes Beispiel für ihren Umgang mit Sprache zeigt das Gedicht Mínimo Som Mínimo, Minimaler Klang, und stammt aus ihrem 1983 erschienenen Gedichtband Onde se vé, wo du siehst. Für ihre Retrospektive in Karlsruhe hat sie die Gedichte in den Raum übertragen. In nahtloser Wiederholung ließ sie die kurze Zeile gelb auf weiß in kleiner Schrift als Wandtapete drucken. Was man sieht und auch hören kann: Ein minimaler Klang kann ziemlich viel Raum einnehmen.

In der Zeit der Militärdiktatur fanden Künstler:innen Umwege, um sich zu äußern. Während Lygia Clark gleich zu Beginn 1964 nach Paris emigrierte und Helío Oiticia sich zeitweise in den USA und in England aufhielt, wuchs Lenora de Barros während der Militärdiktatur in Brasilien auf. Während Kommunisten, Sozialisten und deren Sympathisanten verfolgt und Bücher verboten wurden, studierte Lenora de Barros zunächst einmal Linguistik.

Zur Künstlerin wurde die Dichterin erst nach der Diktatur, in den 1980er Jahren. Auf ihre Weise sprechend und zugleich in ihrer Bildlichkeit verstörend sind sieben großformatige Schwarzweißfotografien. Sie zeigen eine rätselhafte, jeweils leicht variierte Oberflächenmorphologie. Es handelt sich um eine Studie zur Oberfläche der Zunge der Künstlerin über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren. Ihre Form der „Linguistik“ als Wissenschaft von der Zunge?

Die Schöpfung eines Kunstwerks, auch sein Verständnis, ist in extremen Fällen ein strategisches Spiel gegen sich selbst, es kann zweifellos mit einer Desavouierung enden.

Max Bense (Noigandres-Gruppe | Texttheorie)

Anfang der 1990er verfasste Lenora de Barros über mehrere Jahre eine Kolumne für eine große Tageszeitung in São Paulo. Über ihre minimalistischen Kunstkritiken führte sie einen pointierten Dialog mit Werken von Yoko Ono, Lygia Clark oder Cindy Sherman. 2013 brachte sie die Texte unter dem Titel Dame-Spiel als Künstlerbuch heraus. Für eine Videoperformance las sie aus den Texten und spielte mit sich selbst Dame. Ihre Ideen sind unerschöpflich. Der Erfinder der Konzeptkunst Marcel Duchamp spielte im Alter nur noch Schach. Für die brasilianische Künstlerin hingegen war das Damespiel nur eine Episode.

In portugiesisch- und spanischsprachigen Ländern gehört sie zu den wichtigsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Bedeutende Sammlungen wie das Hammer Museum Los Angeles, das Museu d’Árti Conteporani, Barcelona, das Museu de Arte Moderna, São Paulo oder das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid haben ihre Werke erworben.

Ohne Sprache kein Denken. Für Lenora de Barros ist das kein mechanischer Akt, sondern ein von vielen Faktoren abhängiger Vorgang. Sie bringt Witz und Lebensfreude in die Welt der Zeichen, ohne es an Respekt vor der Schönheit der Poesie mangeln zu lassen.

Information

Die Ausstellung Lenora de Barros: To See Aloud läuft bis 15. Juni 2025. - Am 2. und 3. Mai 2025 findet im Badischen Kunstverein in Karlsruhe das Ping-Pong- Festival statt - mit Vorträgen, Performances und Gesprächen zur Ausstellung.

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