USA: Eine Sechsjährige stört den Unterricht—prompt kommt die Polizei.

Das Justizsystem in den USA kennt keine Gnade. Selbst Grundschul-Kinder werden verhaftet, vor allem, wenn sie schwarz sind. Nur langsam regt sich Widerstand gegen diese Praxis.

7 Minuten
Kaia Rolle im Polizeiauto

Das kleine Mädchen mit den roten Haargummis schluchzt, Tränen kullern ihr übers Gesicht: „Bitte geben Sie mir eine zweite Chance! Bitte, bitte, bitte!“

Doch der Schulpolizist kennt keine Gnade. Weil Handschellen zu groß für die kleinen Kinderarme sind, fixiert er sie mit Kabelbindern. Dann muss das Mädchen im Streifenwagen Platz nehmen, hinter Gittern, wie eine Schwerverbrecherin.

Das Mädchen heißt Kaia Rolle. Sie ist sechs Jahre alt. Ihr Vergehen: ein Wutanfall im Klassenraum.

Kinder-Verhaftungen sind kein Einzelfall

Der Vorfall ereignet sich am 19. September 2019 an einer Grundschule in Orlando. Bodycam-Videos dokumentieren, wie ein Polizist Kaia abführt und ins Polizeiauto bugsiert.

Als die Aufnahmen veröffentlicht werden, ist die Empörung groß. In den USA, aber auch weltweit diskutieren Medien das rabiate Vorgehen der Polizei.

Dabei ist der Vorfall in Orlando kein Einzelfall. Bis heute werden in den USA jeden Tag Kinder verhaftet, oft wegen Lappalien. Doch auch der Widerstand gegen diese Praxis wächst.

Eine Hauptstraße im Osten Orlandos. Vor einem unscheinbaren Flachbau steht ein Werbeplakat, das zwei Männer im Anzug zeigt. Einer von ihnen heißt Darryl Smith. Er ist Strafverteidiger und hat durch Kaia landesweite Bekanntheit erlangt.

In seinem Warteraum sitzen normalerweise Menschen, die betrunken Auto gefahren sind, ihre Freundin verprügelt haben oder illegale Drogen konsumieren. „Dieser Fall ist schon etwas Besonderes“, sagt Smith. „Als Kaia im Jugendarrest ankam, erschraken sogar die Beamten, weil sie so jung war.“

Der Unterschied zwischen ihrer Grundschule und der U-Haft könnte nicht größer sein: Hier ein (vermeintlich) sicherer Ort mit bunten Bildern und Buchstaben an den Wänden, dort ein steriles Verwaltungsgebäude, in dem Verhaftete erkennungsdienstlich behandelt werden.

Erkennungsdienstlich behandelt

Auch Kaia muss ihre Fingerabdrücke abgeben und sich von allen Seiten fotografieren lassen. Alter: sechs Jahre. Größe: 0,94 Meter. Vergehen: tätlicher Angriff, auf Englisch „Battery“.

Kaia kennt den Begriff nicht. Als sie nach mehreren Stunden wieder freigelassen wird, fragt sie ihre Großmutter: „Was sind Batterien?“

Darryl Smith, der Anwalt, bestreitet nicht, dass Kaia eine schwierige Schülerin ist. Wenn sie übermüdet ist, kann die Situation schnell eskalieren. In diesem Fall: wegen einer Sonnenbrille.

Weil sie diese im Unterricht nicht tragen darf, will Kaia laut brüllend aus der Schule rennen. Ihre Lehrerin stellt sich in den Weg, Kaia schlägt um sich – der „tätliche Angriff“.

Du willst nicht? Aber du musst!

Polizist zu Kaia, als er die Sechsjährige abführt

Ein paar Minuten später hat sich Kaia wieder beruhigt. Sie sitzt im Sekretariat und blättert in einem Buch. Dann betreten zwei Polizisten den Raum.

„Sie muss jetzt mit uns kommen“, sagt der Erste, an die Sekretärin gerichtet. Und zu Kaia: „Steh auf. Komm her zu mir.“ Dann ratschen auch schon die Kabelbinder. „Du kannst mir im Auto erzählen, was passiert ist“, sagt der Beamte, während er die weinende Sechsjährige abführt. „Du willst nicht? Aber du musst.“

Als alles vorbei ist, ringt selbst die Sekretärin mit den Tränen: „Ist das wirklich nötig?“, fragt sie den Schulpolizisten. „Ja“, antwortet er. „Und wenn sie älter wäre, würde sie jetzt richtige Handschellen tragen.“

All das ist auf dem Video zu sehen. Es sind verstörende Details.

Inzwischen sind über drei Jahre vergangen. „Der Vorfall hat Kaia verändert“, sagt ihr Anwalt. Das quirlige Mädchen mit den roten Haarbändern gebe es nicht mehr, nur noch eine ängstliche, in sich gekehrte Neunjährige.

Mehrmals schon musste Kaia ihre Schule wechseln. Sie leidet unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wenn sie Polizisten sieht, gerät sie in Panik – „ein echtes Problem, wenn man jeden Tag welche um sich hat“, sagt Smith.

Schulpolizisten gegen Amokläufer

Die meisten Schulen in den USA beschäftigen eigene Schulpolizisten, um bei Amokläufen schnell reagieren zu können.

Seit 2012 an der Sandy Hook Elementary School in Connecticut bei einem Amoklauf 20 Kinder und sechs Erwachsene starben, hat sich die Zahl der Schulpolizisten weiter erhöht.

„Sie sollen für Sicherheit sorgen, aber oft passiert genau das Gegenteil“, sagt Anwalt Smith. „Unsere Schulen sind fast schon militarisiert. Was für ein Signal sendet das an unsere jüngsten Mitmenschen?“

Anwalt Daryl Smith sitzt am Schreibtisch und tippt am Computer
Anwalt Darryl Smith vertritt Kaias Familie. Er kämpft für eine Entschädigung.

Allein zwischen 2000 und 2019 wurden in den USA über 2600 Kinder zwischen fünf und neun Jahren verhaftet. Zu diesem Ergebnis kommt eine Recherche der Zeitung USA Today.

43 Prozent von ihnen waren schwarz, obwohl Afroamerikaner nur 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Auch Kinder mit Behinderungen waren überproportional stark vertreten.

26. Oktober 2018, eine High School in Columbia, South Carolina: Die 16-jährige Shakara spielt im Mathe-Unterricht mit ihrem Handy. Als die Lehrerin darauf aufmerksam wird, entbrennt eine Diskussion.

Shakara soll den Klassenraum verlassen, weigert sich aber. Der zu Hilfe gerufene Schulpolizist geht auf Shakara zu, packt sie am Hals, reißt sie vom Stuhl. Dann schleift er das Mädchen über den Boden.

Die Klassenkameraden sitzen wie gelähmt auf ihren Stühlen. Nur Niya Kenny, eine Mitschülerin, filmt das Geschehen und protestiert gegen das brutale Vorgehen. Am Ende verhaftet der Schulpolizist auch sie – wegen „Störung des Schulbetriebs“.

Kein Mindestalter für Strafmündigkeit

Seit es Smartphones gibt, bekommt die amerikanische Öffentlichkeit solche Szenen häufiger zu sehen. Ob High School oder Grundschule, spielt dabei kaum eine Rolle, denn nur 24 von 50 US-Bundesstaaten haben ein gesetzliches Mindestalter für Strafmündigkeit festgelegt.

Doch selbst in diesen Staaten können Kinder meist schon ab zehn Jahren belangt werden.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren das US-amerikanische Justizsystem aus diesem Grund schon seit Jahrzehnten (hier ein Bericht von Amnesty International aus dem Jahre 1998).

Das Konzept der Bestrafung erscheint umso zweifelhafter, da Kinder ihre Fehlleistungen in vielen Fällen noch gar nicht verstehen, geschweige denn bereuen können. Ihre Gehirne entwickeln sich noch.

Immerhin, ein positiver Trend ist erkennbar: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der verhafteten Fünf- bis Neunjährigen allmählich zurückgegangen.

Auch ist das Problem in der Politik inzwischen bekannt. Außerdem wir über Rassismus in der Polizei mittlerweile deutlich offener diskutiert als noch vor einigen Jahren.

Ein Polizist führt die sechsjährige Kaia ab
Bodycam-Aufnahmen zeigen, wie die damals sechsjährige Kaia Rolle in ihrer Schule verhaftet und von Polizisten abgeführt wird.

In Virginia darf die Polizei seit 2020 keine Schülerinnen und Schüler mehr wegen geringfügiger Vergehen anklagen.

In Kalifornien haben manche Schulbezirke ihre Mittel für Schulpolizisten gestrichen.

In Milwaukee, einer 600.000-Einwohner-Stadt im Norden der USA, gibt es keine Polizisten mehr an öffentlichen Schulen – das Lehrpersonal ruft die Beamten jetzt telefonisch ins Klassenzimmer.

Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer in den USA möchte aber bewaffnete Schulpolizisten behalten. In einer Umfrage der Zeitschrift EducationWeek vom Juni 2020 sprachen sich nur 23 Prozent der Befragten für deren Abschaffung aus.

Auch der Verband der Schulpolizisten plädiert dafür, Grundschulkinder verhaften zu dürfen. „Was, wenn Susie ein Messer in die Schule bringt und anfängt Menschen abzustechen?“, fragte Verbandssprecher Dale Tharp in einem Fernsehinterview. „Was, wenn sie dann nicht alt genug ist, um festgenommen zu werden?“

Was, wenn Susie ein Messer in die Schule bringt und anfängt Menschen abzustechen?

Dale Tharp, Verband der Schulpolizist:innen

Interviewanfragen für diesen Artikel beantwortet er nicht, ebenso wenig wie Kaias frühere Schule oder die Polizei in Orlando. Auf seiner eigenen Webseite betont der Verband aber immer wieder, wie wichtig Beamte an Schulen seien.

Von den meisten Fällen, in denen sie deeskalierend wirken und Schlimmeres verhindern würden, erfahre die Öffentlichkeit nichts, heißt es in einem Stellungnahme.

In Florida hat Kaias Geschichte derweil zu einem Umdenken geführt: Dem Schulpolizisten, der sie damals verhaftet hat, wurde gekündigt. Zudem trat 2021 ein neues Gesetz in Kraft, nach dem Kinder erst ab sieben Jahren verhaftet werden dürfen.

Sieben Jahre – für Florida, wo es vorher überhaupt kein Mindestalter gab, ist das ein Fortschritt.

Außerdem müssen Beamte ihre Vorgesetzten um Genehmigung bitten, wenn sie Kinder unter zehn Jahren in Gewahrsam nehmen wollen.

Kaia auf dem Rücksitz im Polizeiauto
Ihr Flehen hat nichts genützt: Kaia sitzt im Polizeiwagen hinter Gittern, wie eine Schwerverbrecherin.

Das neue Gesetz trägt den Namen „Kaia Rolle Act“. Sie selbst war mit ihrer Großmutter in Floridas Hauptstadt Tallahassee, um Politikerinnen und Politikern ihre Geschichte zu erzählen.

Auf Fernsehaufnahmen sieht man, wie sie neben einem Rednerpult steht und schüchtern in die Kameras blickt.

Interviews gibt Kaia heute keine mehr. Ihre Familie will ihr eine möglichst normale Kindheit ermöglichen, ohne Fernsehkameras, Politiker-Treffen und die ständige Erinnerung daran, was ihr als Sechsjährige in ihrer Grundschule widerfahren ist.

Schule auf Schmerzensgeld verklagt

Komplett erledigt ist die Sache trotzdem noch nicht. Anwalt Darryl Smith hat Kaias ehemalige Schule auf Schmerzensgeld verklagt; der Prozess läuft.

Auch will sich ihre Familie weiterhin für Gesetzesänderungen einsetzen. Das Ziel: Strafmündigkeit erst ab zwölf.

Wie die Chancen dafür stehen, mag Smith nicht beurteilen. „Ich weiß nur eins“, sagt der Anwalt. „Ein Wutanfall ist kein Verbrechen.“

VGWort Pixel