Großbritannien: Kloake am Badestrand

Durchfall nach dem Baden, vergiftete Austern: Im Süden von England lassen große Firmen ihr Abwasser ungefiltert ins Meer. Die Anwohner wehren sich.

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
7 Minuten

Austernschalen im Vordergrund, hinten im Bild ein Boot auf dem Strand, dahinter das Meer.
Austernschalen am Strand von Whitstable

Auf den ersten Blick ist alles in Ordnung in Whitstable. Ein typisches englisches Küstenstädtchen, eines der lebhafteren noch dazu. Es liegt an der Themsemündung in der Grafschaft Kent, zwei langsame Zugstunden östlich von London. Im kleinen Hafen macht ein Fischer sein Boot zum Ablegen bereit, auf dem Kai spazieren Touristen und Einheimische auf und ab, manche decken sich mit einem Bier oder einer Portion Fish and Chips ein. Normalerweise werden auch reichlich Austern gegessen, für die Whitstable berühmt ist – aber hier liegt gerade das Problem.

Die Muscheln gelten mittlerweile als ein Gesundheitsrisiko. In den vergangenen Monaten sind etliche Menschen nach dem Verzehr der lokalen Austern erkrankt. Ende Juni musste die Ernte der Whitstable Oysters sogar eine Woche lang ausgesetzt werden – die Lokalpresse berichtete von rund 100 erkrankten Austern-Essern, die an Durchfall und Übelkeit litten. Auch Schwimmerïnnen sollen nach einem Bad im Meer mit Magenproblemen im Bett gelegen haben – Verdacht auf Norovirus oder E-Coli.

Wer nach dem Grund sucht, stößt etwa zwei Kilometer östlich des Hafens auf ein handfestes Indiz. Die Abwasserreinigungsanlage, die hier liegt, wird ihrem Namen nur teilweise gerecht. Regelmäßig leitet sie das Abwasser direkt weiter ins Meer, ohne zu säubern – und zwar tonnenweise. In bestimmten Fällen ist das erlaubt: Nach heftigem Regen, wenn die Überfluss-Tanks einer Kläranlage überlaufen könnten, darf ein Wasserkonzern per Gesetz Abwasser in Flüsse oder Küstengewässer leiten.

Das Meer vor Whitstable wird zur Toilette

Aber Southern Water, die private Wassergesellschaft, die den gesamten Südosten Englands versorgt – auch Whitstable – nimmt es nicht so genau. Da wird schon mal Dreckwasser ins Meer gepumpt, wenn es gar nicht nötig ist. Wie viel, ist genau dokumentiert: Zwischen 2010 und 2015 hat das Unternehmen fast 7000 mal illegale Wasser-Abflüsse vorgenommen – also zwischen 16 und 21 Milliarden Liter rohe Fäkalien. Das ist schließlich billiger, als das Überflussbecken auszubauen oder ihre Anlagen anderweitig aufzurüsten.

Im Juli wurde Southern Water hierfür zu einer Strafe von 90 Millionen Pfund verurteilt. Die britische Umweltbehörde hatte das Unternehmen verklagt, es war die größte strafrechtliche Ermittlung in der 25-jährigen Geschichte der Environment Agency. Southern Water hatte sich schuldig erklärt, in 51 Fällen gegen das Umweltgesetz verstoßen zu haben. „Jedes dieser 51 Vergehen für sich allein genommen zeugt von einer schockierenden Missachtung der Umwelt“, sagte der Richter bei der Urteilsverkündung.

Aber nach Ansicht der Anwohnerïnnen hat sich seither wenig geändert – im Gegenteil: „Mir kommt es vor, als hätten die Abflüsse nach dem Urteil noch zugenommen“, sagt Graham West, ein 59-Jähriger mit Baseball-Kappe und scharfem Blick. Er steht vor einem der kleinen Holzschuppen beim Hafen von Whitstable und ist dabei, Packungen mit Austern von einem Gabelstapler zu räumen. West ist Austernhändler, seine Familie ist schon seit 150 Jahren im Geschäft, erzählt er. Wie lange er den Job noch machen kann, das weiß er nicht. „Ich kann unsere lokal gezüchteten Austern schlichtweg nicht verkaufen“, sagt er. Aus der Zucht von Schalentieren ist er vor einigen Jahren ausgestiegen, er bezieht sie stattdessen von lokalen Fischern, wäscht sie und verkauft sie dann weiter. „Aber ich kann nicht garantieren, dass sie sauber sind“, sagt West. Denn er benutzt zur Wäsche das gleiche Meerwasser, das Southern Water als Toilette benutzt.

Hafen von Whitstable, kleine Boote im Hafenbecken.
Der Hafen von Whitstable

„Schau dir das Meer an heute“, sagt er und weist ins sonnig glänzende Hafenbecken. „Das schaut schön und sauber aus, also pumpe ich Wasser, um meine Austern zu waschen. Genau das habe ich vor einigen Wochen gemacht – 7 Tonnen Meerwasser.“ Aber dann sei ein Kollege gekommen und habe ihm gesagt: „Sie haben 16 Stunden ausgeschüttet.“ Das heißt: Southern Water hat 16 Stunden lang Abwasser ins Meer geleitet – Wests Austern waren futsch. Der Konzern benachrichtigt die Fischer nicht, wann und wo er Abwasser ins Meer pumpt: West und die anderen Austernhändlerïnnen erfahren es meist erst im Nachhinein. Nach jedem Abfluss müssen sie 72 Stunden lang warten, bis das Meer wieder einigermaßen sauber ist. „Wir setzen hier Menschenleben aufs Spiel“, sagt West. „Am diesjährigen Austern-Festival dachte ich: Ich könnte möglicherweise alle 7000 Gäste vergiften. Denn ich weiß nicht, was sie mit dem Wasser gemacht haben.“

Wir setzen hier Menschenleben aufs Spiel. Am diesjährigen Austern-Festival dachte ich: Ich könnte möglicherweise alle 7000 Gäste vergiften.

Southern Water ist nicht der einzige Wasserversorger, der routinemäßig die Umwelt verschmutzt – alle neun Konzerne in England tun es: Laut Zahlen der Environment Agency wurde im Jahr 2020 insgesamt über 400.000 Mal ungeklärtes Abwasser in Flüsse und Küstengewässer gepumpt – 37 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Umweltkampagne Surfers Against Sewage hat gerade ihren neuesten Bericht vorgelegt, laut dem die Wasserversorgungsunternehmen in den vergangenen 12 Monaten 5517 mal Abwasser in Badegebiete geleitet haben. Das ist ein Anstieg von 88 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Großteil dieser discharges fand während der Badesaison statt, an vielen Tagen waren die Küstengewässer deshalb völlig unzugänglich für Schwimmer und Surfer.

Der Konzern Southern Water sagt, er „gebe viel Geld aus, um die Umweltbilanz zu verbessern“. Allerdings bleibt offensichtlich noch recht viel Geld übrig für die dicken Lohnpakete des Managements: Im gleichen Jahr, in dem Southern Water 90 Millionen Pfund Strafe zahlen musste, erhielt der Geschäftsführer einen Bonus von über einer halben Million Pfund – der konservative Unterhausabgeordnete Damian Green bezeichnete das als „irre“.

Ein großer Wassertank, dahinter das Gebäude eines Austernbetriebs.
Austernunternehmen in Whitstable

Bob Geldof ruft zum Boykott von Wasserversorger auf

Eine Studie der Universität Greenwich hat letztes Jahr errechnet, dass die englischen Wassergesellschaften in den vergangenen dreißig Jahren – also seit der Privatisierung unter Margaret Thatcher – zusammengerechnet zwei Milliarden Pfund pro Jahr an Dividenden an ihre Aktionäre ausschütteten. Auch kommt die Analyse zum Schluss, dass das staatliche Unternehmen Scottish Water seit 2002 fast 35 Prozent mehr Geld in die Infrastruktur investiert hat als die privaten englischen Firmen. Das ist einerseits nicht überraschend – Dieter Helm, Wirtschaftsprofessor in Oxford, sagte gegenüber dem Guardian, dass die Wasserkonzerne genau das machen, was eine kommerzielle Firmen nun einmal macht: „Erwarten wir, dass sich Kapitalisten wie Kapitalisten benehmen?“ Es sei stattdessen ein völliges Versagen der Aufsichtsbehörden, die die Konzerne kontrollieren sollten.

Aber die Bevölkerung sind immer weniger bereit, diese Tatsache einfach hinzunehmen. Im Sommer gründeten Anwohnerïnnen die Kampagne Save our Seas (SOS) Whitstable, die gegen die pausenlose Umweltverschmutzung protestiert. Eine Demo Anfang Oktober zog mehrere hundert Leute an – für so einen kleinen Ort eine beachtliche Zahl. Zudem haben manche Bürgerïnnen von Whitstable kurzerhand entschieden, ihre Wasserrechnungen nicht mehr zu bezahlen. Einer von ihnen ist Ashley Clark, 66 Jahre alt. Man würde in ihm nicht unbedingt einen Rebellen vermuten: Früher Polizist in der Terrorbekämpfung, mittlerweile pensioniert und Gemeinderat für die Konservative Partei in Whitstable. Aber Clark ist stinksauer. „Ich schwimme regelmäßig in diesem Meer, von April bis Oktober praktisch jeden Tag“, sagt er. „Ich verstehe nicht, wieso ich Southern Water dafür bezahlen soll, unser dreckiges Wasser zu reinigen, wenn die Firma das Wasser immer wieder einfach ins Meer leitet. Ich bezahle also für eine Dienstleistung, die ich nicht bekomme.“

Southern Water kann sich verpissen

Eine wachsende Zahl von Bürgerïnnen in Whitstable sieht das genauso: Die Kampagne der Zahlungsverweigerung hat sich laut Presseberichten in den vergangenen Wochen ausgeweitet – wie viele Anwohnerïnnen sich beteiligen, darüber gibt es bislang keine verlässlichen Angaben. Bekannt ist hingegen, dass sich auch ein Prominenter darunter findet: Der Musiker und Aktivist Bob Geldof, der im nahen Faversham wohnt, hat kürzlich an einem Klima-Event seinen Zuschauerïnnen zugerufen: „Bezahlt eure Wasserrechnungen an Southern Water nicht. [Die Firma] kann sich verpissen.“

Ein Mann Mitte 60 steht im Hafen von Whitstable
Gemeinderatsabgeordneter Ashley Clark.

So würde sich Clark nicht ausdrücken, aber auch er hält die dicken Boni der Unternehmensbosse für eine Frechheit. Ihm wäre es sowieso lieber, wenn das gesamte Wassersystem wieder in staatlicher Hand wäre. „Es gibt Sektoren, die einfach nicht hätten privatisiert werden dürfen“, sagt er. Da sieht er es wie die Mehrheit der Britïnnen: Laut einer Umfrage vor zwei Jahren würden mehr als die Hälfte die Wiederverstaatlichung der Wasserversorgung befürworten.

Der Fall von Whitstable und der wachsende Widerstand gegen die Verschmutzung durch Southern Water könnte den Ruf nach einer Vergesellschaftung bald lauter werden lassen. Zumindest hat die Kontroverse eine breitere Debatte über das Wassersystem angestoßen – und die Vergehen der Konzerne stehen im Fokus. Kürzlich hat die Environment Agency und die Regulierungsbehörde Ofwat, die für die finanzielle Kontrolle der Unternehmen verantwortlich ist, eine groß angelegte Untersuchung in die Abwasserwerke angekündigt.

Austernhändler Graham West schließt seinen Schuppen, erstmal Mittagspause. Bis das Wasser vor seiner Küste wieder sauber ist, wird er mit zunehmenden finanziellen Problemen kämpfen müssen. Die Austern, die er gerade weggeräumt hat, stammen nicht aus Whitstable, sondern aus dem fernen Jersey: Um überhaupt welche verkaufen zu können, muss West die Muscheln jetzt aus anderen Regionen importieren. „Das wird mich dieses Jahr zusätzliche 20.000 Pfund kosten“, sagt er.

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