Extremismus in Europa: „Die Ungerechtigkeit in der Welt ist global“
Der österreichische Jugendsozialarbeiter Fabian Reicher fordert ein neues Konzept im Umgang mit islamistischem Terrorismus.
In Deutschland ist Terroropfern ein neuer Gedenktag gewidmet worden, er fand vor wenigen Tagen, am 11. März, erstmals statt. Er knüpft an den Europäischen Gedenktag an, der nach den Bombenanschlägen in Madrid vom 11. März 2004 ins Leben gerufen wurde und europaweit begangen wird. Damals wurden fast 200 Menschen getötet und Hunderte verletzt, als nacheinander zehn Sprengsätze in vier Zügen, die in Richtung Madrider Stadtzentrum fuhren, explodierten. Seitdem hat es weitere Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund gegeben, auch in Deutschland. Anlässlich des ersten Gedenktags verwies Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf Anschläge wie das islamistische Attentat am Berliner Breitscheidplatz. Aber auch auf die rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau.
Nach terroristischen Attentaten wird häufig ein schärferes Vorgehen der Sicherheitsbehörden gefordert. Außerdem, so eine weit verbreitete Meinung, sollten sich Sozialarbeiterïnnen und andere Extremismus-Expertïnnen darum bemühen, gefährdete junge Menschen vor der Radikalisierung zu bewahren oder Ausstiegswilligen aus dem extremistischen Umfeld zu helfen. Extremismus werde als eine Art individuelle Entgleisung gesehen, kritisiert der österreichische Jugendsozialarbeiter Fabian Reicher. Dass Radikalisierung auch eine gesellschaftliche Dimension haben könnte, werde meist nicht gesehen. Die „Problem-Jugendlichen“ sollten von den Sozialarbeiterïnnen in gewisser Weise „repariert“ und wieder „gesellschaftsfähig“ gemacht werden. Reicher arbeitet in Wien seit Jahren mit jungen Menschen aus dem radikal-islamistischen oder „dschihadistischen“ Umfeld. Er fordert im Umgang mit ihnen grundlegendes Umdenken: Viele von ihnen seien wütend, mit ihrer Wut müssten sie ernst genommen werden. Er hat zusammen mit Jugendlichen und Kollegïnnen ein neues Konzept entwickelt, die „Pädagogik der Wütenden“ und darüber auch gemeinsam mit Anja Melzer ein Buch geschrieben, das Ende Februar erschienen ist: „Die Wütenden“. Im Interview erklärt Fabian Reicher, wie die Radikalisierung junger Menschen seiner Erfahrung nach verhindert werden kann.
Was ist die „Pädagogik der Wütenden“?
Das ist ein pädagogisches Konzept, das an Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ angelehnt ist. Das ist ein alter pädagogischer Klassiker. Und den haben wir in Wien in den letzten zehn Jahren in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen gemeinsam weiterentwickelt. Vielleicht kann man grob sagen, dass es sich um ein alternatives Konzept handelt zu dem, was zumeist unter dem Begriff „De-Radikalisierung“ verstanden wird.
Wer ist denn „wir“?
Das sind meine Kollegïnnen und ich, aber auch die Jugendlichen. Eine der Ideen des Ansatzes von Paulo Freire ist ja das Schüler-Lehrer Lehrer-Schüler-Prinzip. Das meiste von dem, was ich in dem Buch beschrieben habe, ist gemeinsam mit den Jugendlichen entstanden.
Was ist der wesentliche Unterschied zu den üblichen Konzepten der „De-Radikalisierung“?
Der große Unterschied zu den meisten dieser Konzepte ist, dass unser Konzept nicht nur das Individuum im Blick hat, sondern auch die Ebene der Gesellschaft. Ich habe in den letzten zehn Jahren einige Jugendliche beim Ausstieg begleitet. Hinter ihrer Hinwendung an die extremistische Szene standen immer individuelle Bedürfnisse, Erfahrungen und Themen. Aber eine Sache war darüber hinaus immer gleich, und das ist die Ebene der Gesellschaft. Das wird meiner Meinung nach zu wenig in den Blick genommen. Um ein kurzes Beispiel zu geben: Bei denjenigen, die bis 2014 aus Europa nach Syrien ausgereist sind, waren das Assad-Regime, seine Verbrechen und sein grausamer Krieg das bestimmende Thema. Ganz viele Jugendliche, mit denen ich arbeite, sind wütend. Und das ist eben auch so ein Ansatz in der Pädagogik der Wütenden: sie haben zu einem großen Teil Recht mit ihrer Wut. Also bei all dem Unrecht, das auf der Welt passiert, haben sie vollkommen recht mit ganz vielen Dingen. Aber natürlich kann ein Unrecht kein anderes rechtfertigen.
Das heißt, Sie plädieren dafür, die Motive ernst zu nehmen, aber nicht die Methoden?
Ja. Wut war schon immer ein Antrieb, um die Welt zu verbessern. Das hat alles eine gute und eine schlechte Seite. In der Pädagogik der Wütenden geht es eben vor allem darum, aus dem Schwarz-Weiß-Denken von Gut und Böse wieder herauszukommen und stattdessen in Grauzonen zu gehen. Darüber wollen wir die progressiven Seiten fördern, die so eine Wut auch häufig hat.
Es geht darum, gegen Ungleichwertigkeitserzählungen und autoritäre Vorstellungen Position zu beziehen, egal ob sie von den Jugendlichen geäußert werden, oder aus der Gesellschaft kommen.
Im zweiten Schritt geht es dann darum herauszufinden, welche Erfahrungen und Bedürfnisse der Jugendlichen hinter ihrer Hinwendung zu einer extremistischen Erzählung liegen, was die Ursachen für ihre Wut sind. Im nächsten Schritt versuchen wir dann in Aktion und Reflexion – das ist das pädagogische Paradigma von Paulo Freire – diese Wut zu lösen.
Sie haben den Syrienkrieg genannt als ein Beispiel dafür, warum so viele junge Menschen wütend sind. Vermutlich meinen Sie Menschen mit einem muslimischen Migrationshintergrund. Vermutlich gibt es noch mehr Gründe, eine Mischung aus globalen und persönlichen Themen. Warum sind so viele junge Erwachsene wütend?
In der dschihadistischen Erzählung geht es ganz stark um die globale Ebene, denn die muslimische Glaubensgemeinschaft wird als weltweite Gemeinschaft verstanden, die „Umma“. Unsere Welt ist ungerecht. Bei all dem Fortschritt, den man insbesondere in Europa in den letzten 20, 30 Jahren in Bezug auf Antisemitismus oder auch auf Homophobie erreicht hat, ist die Welt dadurch gekennzeichnet, dass sie zweigeteilt ist: in arm/reich, globaler Norden/ globaler Süden – je nachdem, wie man es sehen will.
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Wenn ich Sie richtig verstehe, spiegelt die Gesellschaft das, was die Extremisten machen: Sie teilen die Welt in Gut und Böse, Freund-Feind, Schwarz-Weiß. Und die Gesellschaft hat ähnliche Bilder?
Ja, das könnte man so sagen. Wenn man die unterschiedlichen Definitionen von Extremismus auf den gemeinsamen Kern reduziert, sind das Ungleichwertigkeits-Erzählungen und autoritäre Strukturen. Und die sind ja in unserer Gesellschaft leider sehr wohl vorhanden. Da muss man beispielsweise nur einen Blick in die Boulevardmedien werfen, da findet man sehr viele Ungleichwertigkeits-Erzählungen. Und wenn Jugendliche das jeden Tag mitkriegen, entweder über Boulevardmedien, aber eben leider auch über Politikerïnnen oder im Schulsystem, im Bildungswesen, natürlich auch zu Hause – warum sollten sie das dann nicht selber machen? Natürlich transformiert, das heißt mit ihrem eigenen jugendkulturellen Stil.
In Ihrem Buch beschreiben Sie ziemlich ausführlich, wie Sie mit den Jugendlichen umgehen. Sie sprechen mehrfach davon, dass sie gemeinsame Räume erarbeiten. Mir fiel dabei auf, dass Sie immer wieder auch schildern, wie Sie sich dabei selbst hinterfragen. Ist es das, was Sie als anderen Umgang fordern?
Das ist auf jeden Fall ein erster und ganz wichtiger Schritt. Wenn man sich Radikalisierungsprozesse anschaut und den Punkt sucht, ab dem es gefährlich wird, dann ist das der Moment, von dem an das eigene Weltbild nicht mehr hinterfragt wird. In der Pädagogik der Wütenden geht es vor allem um reflektiertes Begleiten der jungen Menschen. Das heißt natürlich auch, die eigenen Weltbilder, Vorstellungen und Werte kritisch zu hinterfragen. Wenn Jugendliche ihre Identität nur noch auf einem Thema aufbauen, nur noch zu einer Sache sprechmächtig sind, nennen wir das die „Verengung des Blickwinkels“. Wenn sie so weit sind, laufen sie Gefahr, sich einem extremistischen „Call to Action“, anzuschließen – dazu komme ich später noch. Aber es ist natürlich wichtig, dass man sich selbst hinterfragt. Die jungen Menschen sollen ja mit uns am Modell einen neuen Umgang lernen.
Wenn ich mit Jugendlichen arbeite ist mein wichtigstes Ziel, dass sie eine innere Autonomie entwickeln. Das heißt, dass sie im Denken und Handeln von eigenen Werten und Normen geleitet werden. Jugendliche sollen alles kritisch hinterfragen: sowohl das, was sie aus ihrer Peergroup mitkriegen, was sie vielleicht in den sozialen Medien oder durch Propagandavideos mitkriegen, aber natürlich auch das, was ich ihnen sage. Das ist ganz, ganz wichtig, finde ich. Und das ist schon auch meine Kritik an der gängigen Vorstellung von De-Radikalisierung: dass man quasi als Autorität kommt, als Erwachsener und den Jugendlichen erklärt, wie der Islam richtig zu verstehen ist. Inhaltlich bietet das natürlich eine Alternative zu dem, was beispielsweise der IS sagt. Aber strukturell ist es eigentlich ziemlich ähnlich: Es ist der Erwachsene, der sagt, was richtig und was falsch ist. Und das kann nicht nachhaltig sein. Nachhaltig kann die De-Radikalisierung nur sein, wenn Jugendliche ihre eigenen Werte transformieren und dann auch nach denen handeln.
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