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Warum die Bürgermuseen in Brasilien ein Erfolg sind - Eine Tagung zum „Subjective Museum“
Mitmachen und Mitentscheiden: Brasilien ist Vorreiter des „Subjektiven Museums“
Bürgermuseen sollen in Brasilien der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich entgegenwirken - Eine Tagung im Historischen Museum Frankfurt

Subjektivität und Wissenschaft – das geht normalerweise schlecht zusammen. Museen bemühen sich meist um eine objektive Perspektive. Tatsächlich aber ist das „Subjektive Museum“ auf dem Vormarsch, wo jede oder jeder gefragt ist und die Kuratoren sich über die Expertise von außen freuen. Das klingt utopisch, zumindest im Tal der Ahnungslosen, in Deutschland, wo weiter rigoros von oben nach unten kuratiert wird. Nur wenige regionale, ethnografische oder kulturhistorische Sammlungen experimentieren bereits mit einem partizipativen Ansatz. Dabei bietet die Socio-Museology gerade in der Arbeit mit einer durchmischten Bevölkerung zukunftsweisende Verfahren an.
Was macht diese neue Museumsarbeit aus, und wie kann sie gelingen? Das fragten sich auf der internationalen Tagung „The Subjective Museum?“ des Historischen Museums Frankfurt/Main die rund 80 teilnehmenden Fachleute. Socio-Museology, wie sie in Brasilien und Portugal betrieben wird, ist eine radikale Form der partizipativen Museumsarbeit, bei der Kurator*innen zu Moderator*innen werden. Vielstimmigkeit, divergierende Positionen werden nicht nur für temporäre Präsentationen zugelassen, sondern als Teil des kulturellen Erbes betrachtet und archiviert. Partizipative Museen gelten bereits in vielen Ländern als eine Art der Prophylaxe, um der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich entgegenzuwirken und das Zusammenleben in gegenseitigem Respekt zu verbessern. In Europa existieren ähnliche Projekte. Die regional wirkenden Ecomuseen in Frankreich entstanden in den 1970er Jahren, in Portugal hat das Museu do Trabalho Michel Giacometti Standards gesetzt, und auch in den Niederlanden wird das Nachbarschaftsarchiv zunehmend zum Ersatz des üblichen Stadtteilmuseums.
Action Curating und Collection-Events
Wie wichtig gerade das Bewahren subjektiver Erinnerungen ist, demonstrierte Dannielle Kuijten aus Amsterdam. Sie ist Mitarbeiterin von ImagineIC, des Nachbarschaftsarchivs der modernistischen Trabantenstadt Bijlmermeer, wo 100 000 Menschen mit 150 Nationalitäten zusammenleben. Schwellenängste kommen gar nicht erst auf, denn noch ist das Nachbarschaftsarchiv im Gebäude der Stadtbibliothek untergebracht. Soziale Verhältnisse, Netzwerke und Alltagserfahrungen werden über Action Curating und Collection Events erforscht, die Ergebnisse ausgestellt und mit Schulklassen diskutiert. Auf diese Weise entstehe, laut Kuijten, mehr Wissen über die oftmals als fremd wahrgenommenen Nachbarn und die Geschichte der multiethnischen Stadt. Persönliche Erinnerungen seien bei dieser Arbeit zentral, ist die Museologin überzeugt. Nur so könnten traumatische Ereignisse wie der Absturz des Passagierflugzeugs 1992 verarbeitet werden, der zwei Gebäudekomplexe in Bijlmermeer zerstörte und zahlreiche Bewohner in den Tod riss.
Im Fokus der Tagung standen jedoch die Gäste aus Brasilien und Portugal, wo Socio-Museology bereits seit Jahrzehnten gelehrt und praktisch erprobt wird. Die von der Bundeskulturstiftung über das Programm fellow me finanzierte Gastkuratorin Érica de Abreu Gonçalves am Historischen Museum hatte die Kontakte hergestellt.

Mario Caneva Moutinho von der Universität Lusofona in Lissabon, der zugleich Vizepräsident der International Conference of the International Movement for a New Museology (MINOM-ICOM) ist, umriss die Geschichte der Disziplin, deren Wurzeln auf die späten 1970er Jahren zurückgehen. Sie nahm wichtige Impulse von der Soziologie auf und gipfelte 2013 in der MINOM-Deklaration von Rio des Janeiro. Darin sind die Grundsätze einer zeitgemäßen Museumsarbeit benannt, die der westlichen Museumsarbeit mitunter krass zuwiderlaufen. So sollen Hierarchien abgeschafft werden, die Gestaltung der Museumsarbeit komplett frei sein und sich den örtlichen Gegebenheiten anpassen dürfen. Doch hatte Mouthino gleich zu Beginn seines Vortrags eingeschränkt, dass die klassischen Museen mit großen Kunstsammlungen nicht die vorrangigen Adressaten der Socio-Museology seien.
Ein Beispiel aus dem brasilianischen Bundesstaat Bahia zeigte, was gemeint war. Dort sind 78 Prozent der Bewohner des Territoriums von der Größe Frankreichs Nachfahren der sechs Millionen aus Afrika in die Region deportierten Sklav*innen. Seit zwanzig Jahren werden nun die Sammlungen nach Objekten durchsucht, welche die Geschichte der Mehrheit der Bevölkerung erzählen. Exotische Formen afro-brasilianischer Religionen werden erforscht und dokumentiert, Erinnerungen der Nachfahren der Sklav*innen gesammelt. Der Museologie-Professor Marcel Nascimento Bernardo da Cunho von der Universität Bahia sah die Aufgabe des Museums in der Aufarbeitung historischer Auseinandersetzungen zwischen weißer und schwarzer Bevölkerung, aber auch der Diskriminierung von Minderheiten wie etwa Homosexueller. Die stärkere Berücksichtigung der Interessen und des Hintergrundes der Bewohner Bahias habe bereits Früchte im akademischen Bereich getragen. Inzwischen gebe es sehr viel mehr schwarze Student*innen an der Universität, sagte er. „Obrigado!“ stand auf seiner letzten Folie – ja, auch die Zuhörer*innen der Tagung hatten zu danken.
Das Favela-Museum Muquifu
Objekte auswählen, ihre Geschichte erzählen, sie öffentlich zeigen und diskutieren, erwies sich als universelle Methode, Bewusstsein, Identität und Geschichte herzustellen. Das Nachbarschaftsmuseum Muquifu in Bela Horizonte gehört zu den überzeugendsten Anwohnermuseen dieser Art. Es entstand aus der Not, um den Bewohnern einer Favela ein Stück ihrer Identität zu bewahren. Ihr zentral gelegener Stadtteil war von der um sich greifenden Gentrifizierung bedroht. Die Siedlung mit engen Gassen und baufälligen niedrigen Häusern sollte abgerissen werden. Da die meisten Anwohner sich die neuen Wohnungen nicht leisten konnten, aber auch nicht gewillt waren, ihrer Umsiedlung an den Stadtrand zuzustimmen, regte sich Widerstand.

Der in der Favela ansässige Geistliche Padre Mauro Luiz da Silva fragte sich, warum es den Leuten so schwer fiel, einen Ort zu verlassen, wo Gewalt und Drogenkonsum an der Tagesordnung waren. Es sei ja nicht alles schlecht in Favela, erhielt er als Antwort. Die enge Nachbarschaft, die gegenseitige Hilfe, die Treffpunkte. Er fragte die Bewohner seiner Gemeinde nach ihren positiven Erinnerungen, nach Objekten, die aufbewahrt werden sollten und nach deren Geschichten. Das alles sollte an das Leben in der Favela erinnern. Das Konzept des Nachbarschaftsmuseums nahm Gestalt an und mündete erstaunlicherweise in ein an der Universität Padua eingereichtes Dissertationsprojekt da Silvas. Padre Mauro moderierte die Arbeit an der neuen Struktur des Subjektiven Museums, das Rituale, Treffpunkte und Netzwerke der Favela dokumentierte. Er bezog Künstler*innen in die Arbeit ein und professionalisierte die Außenwirkung des Museums. Ein klappriger Popcornwagen wurde zum PR-Träger für Veranstaltungen, ein Plakat mit einem dunkelhäutigen Mädchen mit Perlenohrring warb für eine Ausstellung. Das Bild sagt mehr als Worte: Was wir machen, hat den gleichen Anspruch wie die klassische Hochkultur; wir nehmen uns sogar das Recht heraus, uns mit einem Motiv nach Vermeer Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Ein Banker-Museum für Frankfurt?
Zu den Besonderheiten der portugiesisch-brasilianischen Variante des Subjektiven Museums gehört ein Hang der Macher wie der Mitmacher zur Poesie. Was sie darunter verstünden, fragten die deutschen Kollegen und ernteten ein Lächeln. Es gehe darum, die Dinge offen zu lassen, Räume der Imagination zu öffnen, fantastische Geschichten zu erzählen, etwa von einer Sklavin, in deren Nachlass wertvoller Schmuck gefunden sei. Gab es reiche Sklav*innen? Welche Wünsche und Sehnsüchte bewegten die Vorfahren, die gewaltsam nach Südamerika gebracht worden waren? Jede gesellschaftliche Gruppe müsse sich im Museum repräsentiert fühlen. Das sei auch in Frankfurt nicht anders, sagte der Anthropologe Moutinho. Was sei eigentlich mit den Bankern hier in Frankfurt? Was sind ihre Gewohnheiten und Rituale, was ist ihr Rollenverständnis als Global Player und als Bürger der Stadt?
Kann sein, dass die Kurator*innen des Historischen Museums diese Anregungen aufnehmen. Ab Herbst 2017 startet die Ausstellung „Frankfurt Jetzt!“, bei der es um das aktuelle Leben in der Stadt gehen soll. Das große kulturhistorische Museum hat sich seit einigen Jahren den partizipativen Ansatz nicht nur auf seine Fahnen geschrieben, sondern im „Stadtlabor“ in die Praxis überführt. Nach einer langen Bau- und Renovierungsphase erstrahlt das Haus nicht nur äußerlich in neuem Glanz, auch strukturell wird einiges anders werden. Die Expertise der Bürger ist erwünscht: Was macht das Leben in Frankfurt eigentlich aus? Das klingt nicht viel anders als die Frage, die Padre Mauro den Bewohnern der Favela in Bela Horizonte gestellt hat, woraus das Muquifu entstanden ist. Ist Socio-Museology ist auch in Deutschland im Kommen?