Spurensuche beim Altona-Club, der als ältester Radsport-Verein der Welt gilt

Der Reporter pedaliert durch Hamburgs Radfahr-Geschichte, beackert die Fahrrad-Literatur und steigt ab zum 152 Jahre alten „Bicycle-Club“ – in die Krypta einer Kirche.

12 Minuten
Sechs mit Mützen, weißen Hemden und Krawatten sowie edlen Hosen betuchte Jugendliche posieren auf ihren damaligen Stahlrössern auf der Wiese vor einem Schlossgemäuer.

Radfahren ist paradox. Wer unterwegs – langsam bitte – den Boden unterm Vorderrad fixiert, sieht eine Rückwärtsbewegung: Das Rad dreht sich nach hinten weg, Vehikel und Mensch jedoch kommen voran.

Eine Tour zum vielleicht ältesten Radclub der Welt zu unternehmen und dabei rückblickend die Geschichte des organisierten Radsports aufzurollen, passt also wunderbar zusammen.

Gerade wegen des scheinbaren Dreh-Fahr-Paradoxons. Und wegen der paradoxen Startsituation, die sich knapp so zusammenfassen lässt:

Der älteste Radverein stammt aus Altona und wurde in Hamburg gegründet und ist gar nicht der älteste. Wie bitte?

Ausdrücklich kein Widerspruch im Radfahralltag ist, wenn nicht immer das Fahrrad den Radfahrer trägt, sondern der Radler auch mal sein Fahrrad.

Auf der Route, die der Reporter durch Hamburg fuhr, um dort Radsport-Geschichte gleichsam einzukreisen, passiert das zweimal: kurz nach dem Start, als die Route am Elbhang Altonas zum steilen Fußsteig mutiert. Und am Schluss, beim Altonaer Bicycle-Club, abgekürzt A.B.C. Dort geht’s, fernab jeden irdischen Verkehrs, etliche Treppenstufen abwärts, unter eine Kirche. Damit nicht genug in Sachen Einzigartigkeit, gilt der Altonaer Club auch noch als

Aeltester Bicycle-Club der Welt!

Aber was meint eigentlich das, historisch betrachtet, korrekt geschriebene Aeltester? Welche Vereine gab es noch, kurz vor Reichsgründung im 19. Jahrhundert? Und wie bewertet man die Radsport-Historie außerhalb des europäischen Kontinents?

Durch Hamburg

Los geht die Rückwärts-Reise: Vom Hauptbahnhof in die Speicherstadt des Jahres 2021, Sandtorkai: ein vortrefflicher Pop-up-Radweg so breit wie eine reguläre Autofahrspur.

Vorbei an den Landungsbrücken, dort auf kümmerlich schmalem Asphaltband – Zeugnis womöglich radfeindlicher Stadtplanung im zurückliegenden Jahrhundert.

Weiter auf der Elbchaussee bis zur Stelle in Övelgönne, wo Hamburgs Radfahrfrust der Gegenwart sich mit Fahrradenthusiasmus zu Weimarer Zeiten verbindet: zur Liebermannstraße.

Elbchaussee, Abzweig Liebermannstraße: Dort stand einst Groth‘s Etablissement. An diesem Gasthaus starteten den 10. Mai 1925 mehrere Radsportteams à sechs Mann auf eine 50-Kilometer-Wettfahrt; Sieger seinerzeit: der Radverein Endspurt von 1905.

Zeitungsausschnitt, auf dem das „Hans-Lenck-Gedächtnis-Rennen“ unter dem Titel „Jagd um Eimsbüttels Häuser“ in fetten roten Lettern angekündigt wird.
Ebenfalls ein Club mit großer, elbnaher Geschichte: Der Radverein „Endspurt“ siegte 1925 bei einem von den Altonaer Bicycle-Kollegen ausgerichteten „Erinnerungsrennen“ und richtete später selbst bedeutsame Wettfahrten aus (Annonce aus der Zeit nach der Jahrhundertmitte).

Im Jahr 1925 maßen sich Rennradler erstmals in Gedanken an den legendären A.B.C.-Ehrenpräsidenten. Er hieß Harro Feddersen, kam im Kreis Pinneberg 1835 zur Welt und arbeitete in jungen Jahren als Schafhirte. 1862 wurde er in Altona Eisenwarenhändler und wenig später eingefleischter Radenthusiast. Er gilt als Deutschlands erster Fahrradhändler und war einer der Gründungsväter des Aeltesten Radclubs. Dass er auch ein gutes Händchen im Marketing hatte, sehen wir später; weiter!

Nein, weiter geht es nicht auf der Elbchaussee. Der Feddersen-Gedächtnis-Route ab Liebermannstraße kann man baustellenbedingt wahrscheinlich auf Jahre nicht durchgängig folgen. Ein riesiges Schild empfiehlt – befiehlt vielmehr: „Richtung Blankenese weiträumig ausweichen!“

Im Vordergrund ragt die Hinweistafel mit der Inschrift „Richtung Blankenese weiträumig ausweichen!“ Rechts im Hintergrund ist ein weißes Wohnhaus zwischen Bäumen in herbstlicher Tracht zu sehen, davor das Rennrad des Autors.
Wo rechts hinter dem Umleitungsschild heute an der Elbchaussee ein auch schon betagtes Wohnhaus aufragt, stand vor rund hundert Jahren ein Gasthaus, an dem traditionell das Feddersen-Gedächtnisrennen Start und Ziel hatte.

Es wird ein sehr weites Ausweichen: über Flottbek hinaus nach Eidelstedt in die ländlich anmutende Straße namens Niendorfer Gehege. Aber unter der Brücke über die A7 brummt und stinkt die Stadt: Ein mächtiger Automobil-Pfropf verstopft die Autobahn-Nordeinfahrt in den Tunnel mit Spitznamen Stellinger Deckel.

Von Niendorf an die Alster, erst dahin wo sie dünn, aber wuchtig bebaut ist, danach im Stadtteil Rotherbaum entlang edler bis protziger Bauten. Eine kurze knackige Steigung die Alsterchaussee hinauf, dahin wo sich heute die weltbekannten Tennisanlagen befinden.

Straßenansicht der Eingangspforte, auf der zu lesen ist „Willkommen am Rothenbaum“ – letzteres ebenso zusammengeschrieben wie die gleich weiter westlich des im Hintergrund aufragenden Stadions gelegene Straße namens Rothenbaumchaussee.
Westlich der Außenalster ragt heute ein profanes, aber weltbekanntes Tennisstadion in den Himmel.
Die im leicht impressionistischen Stil gemalte Radfahrszene zeigt das Innere des hallenartigen Velodroms, in dem Rad fahrende Paar eine Art Ringelrei aufführen.
Idyllisch in Szene gesetzt um die Wende zum 20. Jahrhundert: Das schon vor bald hundert Jahren wieder abgerissene Velodrom im Stadtteil Rotherbaum.
Zeitungsausschnitt von der Fassade, mit vielen Bögen, Kuppeln und Fahnen.
„Faḉade“ des Velodroms, wie sie die Süddeutsche Bauzeitung, in Ausgabe Nummer vier, den 28. Januar 1899 in Szene setzte.

Auf dem heutigen Tennis-Areal befand sich das für damalige Verhältnisse gigantische Velodrom, erbaut 1899. Wenige Straßen entfernt vom Rothenbaum-Areal hatte 1885 die Grindelberg-Radrennbahn eröffnet.

Weiter südlich, entlang der Max-Brauer-Allee, fand im September 1869 im Rahmen einer großen Industrie-Ausstellung am Rande Hamburgs die erste organisierte Radwettfahrt statt. Mit am Start: Harro Feddersen.

Gründung des ersten Radclubs in Hamburg

Womit wir im Ursprungsjahr der Radsport-Historie angekommen wären und, von Altona Nord nur wenige Radminuten entfernt, im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel: Am 17. April 1869 versammelten sich etwa zwei Dutzend Radenthusiasten in einer Gaststätte an der heutigen Fruchtallee und gründeten den „Eimsbütteler Velocipèden-Reit-Club“. Mit im Kernteam: Harro Feddersen.

Sieben Männer in Sonntagstracht posieren mit einem Fahrrad, auf dessen Sattel Harro Feddersen, im Zentrum stehend, eine Hand auflegt. In der hinteren Reihe stützen zwei Männer eine Vereins-Standarte.
Radenthusiast und Fahrradhändler Harro Feddersen im Zentrum des Vorstands, wie er sich beim Altonaer Bicycle-Club im Jahr 1890 – also 21 Jahre nach der Gründung – zusammensetzte (und vom Club nachträglich koloriert wurde).
Großer Klinkerbau aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, heute Hintergrund des Eingangs zu einer U-Bahn-Station.
Mehrfach von der Geschichte überholt: An dieser Straßenecke der Fruchtallee im heutigen Hamburg gründete sich in einem nicht mehr existierenden Gebäude 1869 der „Eimsbütteler Velocipèden-Reit-Club“, der sich 1881 in Altona Bicycle-Club umbenannte.
Unter der Dachzeile Statuten steht in großen geschwungenen Lettern „Eimsbütteler Velocipèden-Reit-Club“, darunter das Gründungsdatum 21. April 1869.
Ausschnitt aus dem 1869 gedruckten Deckblatt der ersten Vereinssatzung des Altonaer Bicycle-Clubs, der damals noch den Namen „Eimsbütteler Velocipèden-Reit-Club“ trug.

Nachdem der Elan des Reit-Clubs in den 1870ern verebbte, brachte Feddersen um 1880 mit Rad-Innovationen aus Großbritannien „neuen Schwung“ in den Club. Und importierte quasi nebenbei einen neuen Namensbestandteil: die britische Bezeichnung fürs Fahrrad.

Weil zudem die Mehrheit votierte, den Verein statt mit Eimsbüttel – seinerzeit ein Namenskompromiss – etwas authentischer und werbewirksamer zu verorten, firmierte der Reit-Club fortan als „Altona Bicycle Club v. 1869/80“.

Heute heißt er Altonaer Bicycle-Club und genauso heißt auch der zum 150. Clubgeburtstag veröffentlichte Jubiläumsband, verfasst 2019 von Vereinsvorstand Lars Amenda. Das hingebungsvoll und akribisch konzipierte Buch war dem Bezirksamt Altona und der ZEIT-Stiftung sogar eine monetäre Förderung wert.

Weiter nach Winterhude

Fragen, die das A.B.C.-Buch offenlässt, möchte der Reporter bei Historiker Amenda selbst in Erfahrung bringen; also weiter:

Raus aus dem monströsen Verkehr der Fruchtallee in Eimsbüttel. Seelen- und Pedal-ruhig weiter am Isebekkanal. Weiter unter die Hoheluft-Brücke; auf den Grindelberg; von dort den Langen Zug der Außenalster querend nach Winterhude.

Enges Straßengewirr am Schinkelplatz und eine Kirche aus den 1960er Jahren, deren Identität mit Rücksicht auf Vereinsintimität im Dunkeln bleiben soll.

Die Bodelschwinghkirche im Hamburger Stadtteil Winterhude ist ein blauweißes Bauwerk aus den 1960er Jahren, mit rotem Turm und rotem Vestibül.
Ein modernes architektonisches Denkmal, heute mit radsporthistorischem Unterbau: Sozusagen in der Krypta hat der Altonaer Bicycle-Club seinen Vereinsraum.

Ein A.B.C.-Mitglied geleitet den Reporter ins Vestibül, nicht jedoch weiter ins Kirchenschiff, sondern die Treppe hinunter, zu einem Kellerraum.

An der Clubtür das A.B.C.-Logo in klein, drinnen rechterhand zwei große A.B.C.-Aufsteller an der Wand lehnend. Gegenüber der Tür ein Regal mit Büchern, links davon einige historische Räder unter der Decke hängend. Noch weiter links, gegenüber den Aufstellern, ein wandfüllendes Foto junger Radrecken, die stehen und ihre Stahlrösser an der Hand halten: Es ist das schwarzweiße Original, das koloriert auf dem Club-Jubiläumsbuch (und im Kopf dieses Beitrags) zu sehen ist. Neben dem Foto eine Sammlung von Pokalen.

Zwei überlappend aufgestellte Tafeln mit den holsteinischen Vereinsfarben und dem Schiftzug Altonaer Bicycle-Club 1869/80.
Auf die nächste große Draußen- oder Drinnen-Veranstaltung hofft das Steuerungsteam des Altonaer Bicycle-Clubs im Frühjahr 2022. Im Herbst 2021 stehen die Aufsteller ungenutzt, aber gewienert im Winterhuder Vereinsquartier.

Sechs Herren des A.B.C. haben sich an diesem Donnerstagabend in der Kirchenkrypta eingefunden. Abstand untereinander hält man nicht vorrangig wegen der Covid-Pandemie, sondern weil in der Mitte ein raumfüllender Tisch steht, fast völlig bedeckt mit teils hundert Jahre alten Radzeitschriften und Büchern. Man diskutiert darüber, ob und wie eine Buchpublikation zur Historie Hamburger Fahrradhändler in den wenigen Monaten bis zum kommenden Frühjahr zu bewältigen wäre.

Fast tragisch fürs Vereinsleben findet einer der Anwesenden, dass die Interessen der rund 75 im Verein eingeschriebenen Männer und Frauen sehr stark divergieren. Da gebe es Manche, die gern Uralträder flott machen, andere, die sich am liebsten durch historische Druckwerke arbeiten und solche, die fast nie in die Krypta kommen, weil sie Freizeit fürs Training nutzen oder um radelnd eine Ultradistanz zu bestreiten.

Frauen und Männer sowie etliche Fahrräder lehnen an der Mauer neben einer baumgesäumten Straße außerhalb von Hamburg.
Den Zusammenhalt nicht verlieren: Das gehört für den Altonaer Bicycle-Club – im Bild eine Clubausfahrt in den 1920ern – zu den großen Herausforderungen der Gegenwart.

Den Zusammenhalt nicht verlieren: Das gehört laut A.B.C.-Buch zu den Herausforderungen eines kleinen Vereins mit großem historischem Pensum. Aktuell 75 Mitglieder klingen nach wenig, sind aber viel, gemessen am (Zitat Buch) „Niedergang in den Jahren 1990 bis 2012“. Was sagt dazu Lars Amenda?

Er sagt ab. Als das Telefon in der Kirchenkrypta klingelt, ist Amenda am Apparat: Die Frontbeleuchtung seines Fahrrads hat einen Defekt – er selbst den Rückzug angetreten.

Volles Verständnis. Der Reporter weiß nicht erst nach der eben beendeten 45-Kilometer-Spurensuche durch Hamburg: Deutschlands zweitgrößte Metropole ohne Beleuchtung im Dunkeln zu durchradeln, grenzt an Selbstmord. Allein jenes unübersichtlich verbarrikadierte Alsterufer (Beinahe-Sturz später, zum Bahnhof radelnd): Derartige Baustellen sind für Zweiräder verkehrsplanerisches Teufelswerk.

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Tage später liegen mehrere, man möchte sagen, „Bibeln zur Radgeschichte“ aufgeschlagen auf dem Arbeitstisch des Reporters. Die eine heißt „Bicycle: The History“ und stammt aus der Feder eines mehrfach ausgezeichneten US-Historikers. Die andere trägt den Titel Re:Cyclists und stammt von einem ehemaligen Radfahr-Profi, der zum Schriftsteller konvertierte.

In The History heißt es, bereits vor der A.B.C.-Gründung im April 1869 existierte ein britischer Radclub. Autor David Herlihy im Originalton:

In March, (…) in Liverpool (…) a local velocipede club sprang into existance.

Zehn Jahre nach Erscheinen jenes Buches vermeldete das Liverpool Echo, der Liverpool Velocipede Club soll bereits 1867 gegründet worden sein, also sogar zwei Jahre vor dem Altonaer Bicycle-Club.

Dass sich die Liverpooler vor den Altonaern organisierten, daran hegt der Re:Cyclists-Verfasser keine Zweifel. Michael Hutchinson schreibt sogar:

Mehr als wahrscheinlich gab es einen (kurzlebigen) Club Im Jahr 1868, in Cambridge.

Bevor es ans Telefonat mit Lars Amenda geht, muss konstatiert werden: Der A.B.C. besteht keineswegs auf der Aussage, erster oder ältester Radfahrverein zu sein. Aber gänzlich ausschließen mag man es nicht, was die Webseite zumindest suggeriert.

Aus dem Vorstand twittert @LarsAmenda mit der Accountbeschreibung „Vermutlich zweitältester Bicycle-Club der Welt“, auf Facebook wird das Vereinsalter weiter relativiert.

Bunt aufgemachte Facebook-Seite des Altonaer Bicycle-Clubs.
Mit Sicherheit „einer der ältesten Sportvereine … der Welt“: Facebook-Auftritt des A.B.C.

Vorstand Amenda am Telefon

„O ja, es gab einige ältere Vereine – allein in Frankreich fünf an der Zahl im Jahre 1868. Deswegen wäre es auch falsch, den A.B.C. als ersten der Welt zu bezeichnen. Die im 20. Jahrhundert geläufige Bezeichnung „ältester Radclub“ verwenden wir deswegen heute nicht mehr. Mit der Apostrophierung als Aeltester Radclub wollte Vereins-Mitbegründer Feddersen sich vor allem vom Münchener Velociped-Club absetzen, der nur einen Monat jünger war als der A.B.C. Mit den Münchnern stand man erst auf gutem Fuße, zerstritt sich aber und sah sich in den 1870ern Vorwürfen ausgesetzt nach dem Motto ‚Ihr macht ja nichts Aktives mehr!‘.“

Noch präziser schreibt Amenda beim Netzwerk Fahrrad/Geschichte:

1894 feierte der ABC sein 25-jähriges „Stiftungsfest“ und pries sich selbst als „aeltester Bicycle-Club der Welt“ an. Das stimmte zwar nicht ganz, sollte (…) aber das Prestige des Clubs noch einmal mehren.

Konkurrenzkampf und Neid waren offenbar schon in frühester Radsportzeit ausgeprägt. Und sind es bis heute. In einer derart von Wettbewerb und Werbung dominierten Disziplin bleiben verwegene Behauptungen oder übermenschlich scheinende Leistungen allemal selten unwidersprochen (sonst gäbe es keine Dopingagentur).

Das notorische Ab- und Widersprechen steckt sogar im Titel des Buchs Re:Cyclists: „Re“ bringt in unserer Kommunikation das Trikolon aus Betreff, Rückantwort und Erwiderung auf den doppelten Punkt. In anderen Lebensbereichen steht „Re“ für Recycling. Was auch typisch ist für manche Diskursen, wenn manche Bausteine der Historie herausgelöst werden, um sie in neuem Kontext zu anderen Strukturen zusammenzufügen.

Was meint zur Geschichte der Veloziped-Vereine ein vor allem abseits des Radsports agierender Publizist, zu dessen umfassendem kulturhistorischem Portfolio das pointiert recherchierte und geschriebene Buch „Fahrradfahren“ gehört? Johann-Günther König antwortet auf Nachfrage:

Merkwürdigerweise ist die Radhistorie zum Teil sehr schwammig. Da hat sich [von den Experten] noch niemand getraut, sich auf den ersten Club festzulegen.

Macher·innen des Wikipedia-Eintrags über den Altonaer Bicycle-Club sehen das anders. Sie verorten den einstigen „Velocipèden-Reit-Club“ unkritisch als ältesten Radclub der Welt.

Was grundsätzlich die Frage nahelegt, warum wir Menschen – im Allgemeinen, aber besonders in Sport, Technik und Geschichte – oft einen besonderen Wert darauf legen, Gründungen wie auch Erfindungen akkurat zu datieren.

Reporter-These: Wir brauchen diese schmalen Buchten im breiten Strom der Zeit, um unsere kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften sicher zu verankern.

Alles fließt. Und das Rad ist rund, wie im berühmten Bonmot von Sepp Herberger der Fußball. Soll heißen: Vieles ist möglich. Umso mehr gilt das, wenn mehr als 150 Jahre liegen zwischen echten Begebenheiten und deren historischen Analysen.

Als sicher gilt: Der Altonaer Bicycle-Club zählt zu den ersten Radvereinen der Welt und ist wahrscheinlich der älteste noch existierende. Das wird ihm der Liverpool Velocipede Club nicht streitig machen, hat ihn doch der Zeitenstrom längst fortgerissen.

Aber kraft ihrer großen Flüsse und des Ozeans sind Altona und Liverpool ja allemal irgendwie verbunden. Sodass es sich mit der Radclub-Historie gewissermaßen verhalten könnte wie mit den Beatles und den Musikclubs: Sie kamen vom River Mersey, aber an der Elbe wurden sie groß.

Dieser Beitrag entstand mithilfe das Förderprogramms Neustart Kultur und läuft unter dem Buchstaben A als Eintrag „Ältester Radverein der Welt: Altonaer Bicycle-Club und andere Anwärter“ im exklusiven, laufend fortgesetzten Kultur-Kompendium zu Fahrrad und Radfahren, das auch Literatur zum Thema listet. Der nächste Beitrag im Januar 2022 lautet „Kunst: Warum Fahrräder mehr sein können – und sollen – als die Summe ihrer Teile“.