Aus der Not eine Tugend machen

Über schleppende Restitutionsbemühungen und die Transformation des Ethnologischen Museums

8 Minuten
Eine seitwärts blickende, lächelnde Frau mit sehr kurzen, blonden Haaren.

Wer mit Clémentine Deliss über die Zukunft des Museums spricht, empfindet sich selbst als fantasielos. Da denkt jemand ohne Scheuklappen, ohne sich bei Sachzwängen aufzuhalten, eine Wissenschaftlerin, die auch Künstlerin ist. Darin liegt ihre große Stärke. Und vielleicht auch eine Chance für die festgefahrene Debatte? Die in Wien ausgebildete Künstlerin und promovierte Ethnologin leitete 2010 bis 2015 das Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main. Schon damals polarisierte sie mit ihrer Idee, ethnologische Objekte in einem neuen gesellschaftlichen Kontext zu diskutieren. Seit Wintersemester 2018/2019 ist sie Vertretungsprofessorin an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe und unterrichtet „Kuratorische Theorie und dramaturgische Praxis“ im Fachbereich Szenographie.

Frau Professor Deliss, Sie beschäftigten sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie sich die Ethnologischen Museen verändern müssen. Seit ein paar Wochen wird der Restitutionsbericht von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy diskutiert. Wie haben Sie den Vorstoß der beiden Wissenschaftler aufgenommen?

Ich bin sehr glücklich über den Bericht von Sarr/Savoy, ich finde ihn sehr klug. Besonders interessiert mich die Beweislastumkehr, dass die ehemaligen Kolonialherren nachweisen müssen, dass das Objekt rechtmäßig erworben wurde, und nicht umgekehrt. Und zweitens die Idee, dass die Jugend vielleicht eine Art latentes Gedächtnis hat, das auf Emanzipation wartet. Diese Emanzipation würde durch die Präsenz der Sammlungen ausgelöst. Man kann die Erwartungen nicht abschätzen, aber man weiß, dass die Resozialisierung dieser Objekte im Kontext ihrer Herkunft auch diskutiert werden muss. Unstrittig aber ist, dass die Möglichkeit der Rückführung und der Entnahme aus dem Reservoir für zukünftige Generationen wichtig ist.

In Deutschland, aber auch in Frankreich löst das Thema Restitution bei den beteiligten Stellen eine Fülle von Fragen auf, nicht zuletzt, an wen die Artefakte zurückgegeben werden sollen. Wie stehen Sie dazu?

Ich akzeptiere nicht, dass wir als ehemalige Kolonialmächte, irgendwie mit zu bestimmen haben sollen, was mit Dingen passieren soll, die uns nicht gehören. Es ist nicht unser Business. Was derjenige macht, der sie zurückbekommt, ob er sie verbrennt, sie ausstellt, sie neu bewertet, das geht uns überhaupt nichts an. Es wäre höchst fragwürdig, wenn wir sagen würden, es gibt eine Hierarchie, und eure Museen stehen ganz unten, denn euer Museum hat nicht einmal eine Klimaanlage, ihr habt keine Restauratoren. Wer bin ich, wenn ich größtenteils aus Raubzügen, millionenfach Artefakte gestohlen habe?

Inzwischen nähert sich auch die Politik an den Gedanken an, geraubte Artefakte zurückzugeben. Allerdings bleibt nach wie vor offen, wie das geschehen soll. Wird vielleicht erst eine künftige Generation das Problem lösen können?

Vor zwei, drei Wochen war in Berlin eine Debatte mit Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, organisiert von Decolonize Berlin. Der Raum war voll mit jungen Menschen, aber keiner kam auf die Idee zu fragen: Was machen wir mit dem Zeug, wenn es schon hier ist? Die Restitution wird dauern, sie ist unendlich langsam. Das ist eine Angelegenheit der Verwaltung und der Justiz. Keiner hat bislang davon gesprochen, dass man die Artefakte – wenn man sie nicht gleich restituieren kann – vielleicht erstmal besser anschauen kann, und zwar, wie wir es möchten und nicht nach dem Geschmack der Kolonialisten oder dem Meisterwerkprinzip des 19. Jahrhunderts. Und was ist mit den 80 Prozent der anderen Objekte, die nicht aus dem Ritualbereich stammen, sondern vielleicht ökologisch interessant sind?

Wie kann ich mir das vorstellen?

Wenn man sagen möchte, dass das diasporische Objekte sind, dann muss man in der Forschung auch diasporisch an die Sachen herangehen. Diasporisch heißt, dass du keine Monokultur aufbaust, sondern das heißt, Du lässt andere rein. Deshalb plädiere ich für eine neue Infrastruktur, eine Museums-Universität, deshalb die Ausweitung und die Überlegung, was heißt es, wenn unsere Körper (im Museum) kontrolliert werden, wenn wir nicht sitzen können, nicht arbeiten können in einem Raum, der visuelles Wissen beinhaltet, wenn gleichzeitig unsere Körper, der Corpus als Ganzes im Museum dirigiert wird, und zugleich der Corpus anderer Kulturen wie ein Monster im Keller unter Verschluss gehalten wird?

Das klingt nicht so, als ob Sie dem Berliner Humboldt Forum eine Chance geben?

Das Humboldt Forum hat den Zeitpunkt verpasst. Konservierung ist eine Ideologie. Die deutschen Ethnologen haben auf das System der Dublette gesetzt. Deshalb gibt es jetzt Millionen von ähnlichen Objekten hier. Es wurde nicht nur eine einzelne Brauthaube aus Papua-Neuguinea mitgebracht, sondern gleich 50, weil die Direktoren mit den anderen Museen im föderalen Deutschland getauscht haben. Das Ziel war Vollständigkeit, anders konntest du keine Welt darstellen. Eigentlich könnte man daraus ein Forschungsprojekt machen, das auch eine Überlegung zur Institution selber sein könnte, eine Mischung aus Kunsthochschule, Restaurierungsateliers, Seminarräumen, Ausstellungsräumen. Aber immer anhand der Sammlung, nicht anhand von virtuellen Dingen.

Sie unterrichten dieses Jahr an der Karlsruher HfG im Fachbereich Szenografie kuratorische Theorie und dramaturgische Praxis. Was bringen Sie den Studierenden bei?

Ich frage: Was ist kuratorische Praxis eigentlich? Wie kann ich den Aspekt der Begegnung mit dem menschlichen Körper im Theater, oder besser mit etwas, was ich ergonomisch nenne, mit Dreidimensionalität verbinden? Ich möchte den Studierenden zeigen, dass kuratieren vielfältig ist, dass man mehrere Medien, mehrere Plattformen, mehrere Zugangspunkte erzeugen kann. Ich möchte, dass sie kuratieren als emanzipatorische Tätigkeit kennen lernen. Kuratoren können als Publizisten, als Herausgeber, als Museumsdirektoren, als Ausstellungsmacher arbeiten, sich sogar fragen, was es bedeutet, die Stimme zu kuratieren, etwas, was in dem Moment, wo es ausgesprochen wird, verschwindet. Und was heißt es, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin eine Ausstellung kuratiert im Gegensatz zu einer kulturwissenschaftlichen Ausstellung? Die Frage der Verschlossenheit der Institution, der Restitution, das sind Fragen, die ich mit ihnen bespreche.