Tempolimit auf Autobahnen: weniger CO2, weniger Schadstoffe, weniger Tote

Die sechs wichtigsten Argumente zum Tempolimit auf dem Prüfstand: Studien zeigen Vorteile. Dafür gibt es auch längst Mehrheiten

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Eine Collage zeigt das blaue Schild der Autobahn, darüber wird Schild „Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben“ wie ein nutzloser Aufkleber vom darunter liegenden 120-er Schild abgezogen.

Deutschland befährt seit Jahrzehnten einen Sonderweg: Alle seine Nachbarn in Europa beschränken die Geschwindigkeit auf Autobahnen. Das Rasen auch hierzulande gesetzlich einzudämmen, gehört seit langem zu den politischen Zielen der Parteien links der Mitte, und vor allem die FDP stellt sich quer. Jetzt aber schwächt Russlands Überfall auf die Ukraine, der eine Energiekrise auslöst, den Widerstand: Womöglich kommt das Tempolimit wenigstens für eine Übergangszeit. Eine sachliche Diskussion könnte sich um mögliche Vorteile in sechs Kategorien drehen.

Im Herbst 2021 hatte sich die Ampelkoalition wegen des Widerstandes der FDP nicht auf ein Tempolimit auf Autobahnen einigen können, obwohl die beiden größeren Partner, SPD und Grüne, dafür waren. Inzwischen hat sich aber auch die Stimmung in der Bevölkerung geändert: Bei einer Infratest-Umfrage Mitte Juli 2022 votierten 59 Prozent der Befragten für ein „befristetes Tempolimit“ im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und der unsicheren Versorgung mit Energie-Rohstoffen. Nur die Anhänger von FDP und AfD sind mehrheitlich dagegen.

Selbst der Autofahrer-Club ADAC vermeldete Ende Mai, dass die Mehrheit seiner Mitglieder nun dafür seien. 52 Prozent hatten sich in einer Umfrage dafür ausgesprochen, 44 Prozent dagegen. Das war zuletzt 1992 und 1993 vorgekommen. Und bei einem Treffen im Mai votierten die Umweltminister:innen aus Bund und Ländern dafür, den Verbrauch von importierten fossilen Brennstoffen zu senken, wobei Bayern und Nordrhein-Westfalen so etwas wie Enthaltungen zu Protokoll gaben.

Sicherlich wird das Thema weiterhin mit viel Emotionen betrachtet und vermutlich von manchen auf beiden Seiten als Symbol gesehen – der Freiheit auf der einen, des Endes der Herrschaft des Autos auf der anderen. Dazwischen scheint aber auch viel Pragmatismus zu herrschen. Gerade deswegen könnte ein Blick auf den Kenntnisstand der Verkehrsforschung zum Thema helfen.

„Es gab für Studien sogar Gegenwind aus dem Bundesverkehrsministerium“

Die Datenlage allerdings ist nicht gerade üppig. Auf einigermaßen aktuellem Stand sind vor allem statistische Angaben: Im Jahr 2019 absolvierten Autos und Lastwagen auf den gut 13.000 Kilometer Autobahnen 253 Milliarden Fahrzeug-Kilometer. Im ersten Corona-Jahr 2020 war die Zahl auf 214 Milliarden gefallen, 2021 dann zwar wieder deutlich gestiegen, aber unter den Werten von 2019 geblieben. Bei Verkehrszählungen machte der Schwerverkehr etwa 15 Prozent aus.

Andere Zahlen sind mehr als fünf oder sogar zehn Jahre alt: Die Geschwindigkeiten ergeben sich aus einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) aus den Jahren 2010 bis 2014. Demnach fuhr der „leichte Verkehr“, also PKWs und Kleinlaster, 115,6 Kilometern pro Stunde (km/h) auf Abschnitten mit Tempolimit 120. Auf 130er-Strecken waren es 118,3 km/h, auf unbegrenzten 124,7 km/h. Ein gutes Drittel der Autos überschritt die Richtgeschwindigkeit.

Auf etwa 30 Prozent aller Autobahn-Kilometer ist die Geschwindigkeit schon begrenzt, hat die BASt zuletzt 2015 ausgerechnet. Dafür gibt es in der Regel sachliche Gründe: Gefälle, bei Nässe rutschige Straßenbeläge, Lage in einem Ballungsraum. Diese 30 Prozent tragen gut 44 Prozent des Verkehrsaufkommens, sind also deutlich dichter befahren als der Rest. Weil sich also Autobahn-Abschnitte mit und ohne Geschwindigkeitsbegrenzung unterscheiden, genügt es in der Tempolimit-Debatte nicht, sie einfach in Relation zu setzen. „Das sind eigentlich Äpfel-Birnen-Vergleiche“, sagt Christian Traxler. Er hat im Juli 2021 mit dem Passauer Ökonomieprofessor Stefan Bauernschuster einen Überblick zum Stand der Tempolimit-Forschung vorgelegt. „So naiv heranzugehen, könnte den tatsächlichen Effekt einer Begrenzung unterschätzen.“

Der Mangel an Daten das hat etlichen Beobachtern zufolge System. „Es gab für Studien und den Aufbau von Messstellen nicht nur keine Unterstützung, sondern sogar Gegenwind aus dem Bundesverkehrsministerium“, sagt Traxler. Dort habe man Interessenpolitik über den Bedarf an empirischen Daten gestellt. „Eine saubere Studie könnte ja der politischen Botschaft in die Quere kommen.“

Politischen Widerstand gegen aussagekräftige Zahlen konstatiert auch Siegfried Brockmann, Unfallforscher beim Gesamtverband der Versicherer. Daran werde sich auch nach der Bundestagswahl wenig ändern. „Das Tempolimit kommt oder es kommt nicht. Es gibt da zwei Fraktionen, die glauben, alles zu wissen. Ein empirischer Ansatz ist da eher nicht wohlgelitten.“

Wer will was im politischen Ringen um das Tempolimit?

Das Tempolimit auf Autobahnen spaltet die politische Landschaft. Dafür sind Grüne, Linke und SPD, Umweltbundesamt, Verkehrssicherheitsrat, Umweltverbände sowie eine Mehrheit der Deutschen, wie Umfragen zeigen. Dagegen sind CDU und CSU, FDP und AfD, sowie Fahrzeugindustrie und Autofahrerklub AvD. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) behauptete noch im April, als die aktuelle Diskussion nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine bereits begonnen hatte, es gäbe nicht genug Verkehrsschilder für ein generelle Tempolimit auf Autobahnen. CDU-Politiker:innen im Bundestag hatten vor kurzem vorgeschlagen, ein Tempolimit im Gegenzug zu einer befristetenVerlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke einzuführen. Dieser Versuch der Opposition, die Parteien der Koalition zu entzweien, führte aber zunächst zu nichts – und stellt vermutlich auch keinen dauerhaften Schwenk der Unionsparteien in der Autobahnfrage da.

Falls ein Tempolimit eingerichtet wird, ist 130 km/h die wahrscheinliche Höhe; dies forderten im Bundestagswahlkampf 2021 SPD und Grüne. Daneben gibt es immer wieder vereinzelte Versuche, höhere Werte wie 150 km/h in die Diskussion zu bringen, die aber keinen politischen Widerhall finden. Den Wert tagsüber auf Tempo 100 zu senken, und nachts auf 120 km/h, wie es die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fordert, ist hingegen eine vermutlich wenig aussichtsreiche Position. „Das wäre aber notwendig, um einen ausreichenden Beitrag zum Senken der Emissionen zu leisten“, erklärt Annette Stolle von der Organisation.

Argument 1: Energieverbrauch und Kohlendioxid-Emissionen sinken

Mit dem Energiesparen steht auch der mögliche Klimaeffekt eines Tempolimits im Mittelpunkt der Diskussion. Dazu hat das Umweltbundesamt im Jahr 2020 eine Studie vorgelegt. Es benutzt dazu die Daten über die tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeiten im Jahr 2010 von der Bundesanstalt für Straßenwesen und kombiniert sie mit Zahlen zum CO2-Ausstoß von Autos, der bei höheren Geschwindigkeiten deutlich überproportional zunimmt. So ergibt sich für ein Tempolimit von 120 km/h eine mögliche Einsparung von 2,9 Millionen Tonnen Kohlendioxid, weil etwa 1,2 Milliarden Liter Benzin oder Diesel nicht verbrannt wurden. Für Tempo 130 läge die Reduktion bei 2,2 Millionen Tonnen CO2 (900 Millionen Liter Kraftstoff). „Ein Tempolimit auf Autobahnen hilft uns, die Treibhausgasemissionen des Verkehrs in Deutschland zu senken“, sagte darum UBA-Präsident Dirk Messner, „und zwar sofort und praktisch ohne Mehrkosten.“

Die mögliche Reduktion durch ein Tempolimit entspricht ungefähr dem Ausstoß des gesamten innerdeutschen Flugverkehrs. Eine Studie des Thinktanks Agora Verkehrswende von 2018 setzt die Einsparung von Treibhausgasen zudem ins Verhältnis zu anderen Maßnahmen der Verkehrspolitik. Demnach entspricht das Tempolimit 130 einer Erhöhung der Dieselsteuer um 11 Cent pro Liter, einer Steigerung des Rad- und Fußverkehrs um ein gutes Drittel, 1,1 Millionen neuer Elektroautos oder 13 Prozent weniger Autoverkehr in Städten. Zudem sind indirekte Effekte denkbar, weil über längere Strecken die Schiene attraktiver würde. Agora Verkehrswende zufolge könnte das den Effekt des Tempolimits um die Hälfte steigern, also um etwa 1,5 Millionen Tonnen bei einer Begrenzung auf 120 km/h.

Die Deutsche Umwelthilfe argumentiert, mit dem vorgeschlagenen Limit von 100 km/h auf Autobahnen lasse sich der Effekt bei den Treibhausgasen auf 6,2 Millionen Tonnen CO2 steigern und damit mehr als verdoppeln.

Argument 2: Die Luftqualität verbessert sich

Auch bei Autobahntempo werden große Mengen von Schadstoffen frei. Es sind bei den Stickoxiden nicht ganz so viele wie bei Stop-and-Go im Stadtverkehr, aber vom Optimum bei etwa 80 km/h aus kann sich der Ausstoß bis zum Tempo 140 verdoppeln, zeigt eine Auswertung für das Handbuch der Emissionsfaktoren.

Um den Effekt zu einzuordnen, gibt es zwei Perspektiven: Zum einen der Blick auf die Rate einer möglichen Senkung: Eine UBA-Studie schätzten den Anteil, der sich mittels eines Tempolimits von 120 km/h reduzieren ließe, für das Jahr 2020 auf etwa drei Prozent der gesamten Verkehrsemissionen. Feinstaub der Größenklassen PM10 und PM2.5 ließe sich demnach vermutlich um jeweils ein Prozent senken. (Im Jahr 1999 war eine frühere Untersuchung mit Bezug auf 1996 auf etwa zwei Prozent weniger Emissionen und ebenfalls ein Prozent weniger Feinstaub gekommen.)

Zum anderen ist der Blick auf die absoluten Zahlen interessant, vor allem wegen der Grenzwerte, denn schließlich ist die Gesamtmenge der Stickoxide aus dem Verkehr von 1990 bis 2019 bereits um zwei Drittel gesunken. Auch deswegen werden die relevanten Grenzwerte bei den Stickoxiden seit kurzem und beim Feinstaub seit 2012 weitgehend eingehalten. Das Tempolimit würde daher für die Frage, ob die Limits erfüllt werden, kaum eine Rolle spielen.

Beide Schadstoffgruppen sind vor allem lokal wirksam, sie spielen aber nicht nur in Innenstädten eine wichtige Rolle. Fast 15 Millionen Menschen in Deutschland leben näher als zwei und fast die Hälfte der Bevölkerung näher als fünf Kilometer von einer Autobahn ohne Tempolimit entfernt, stellen Traxler und Bauernschuster in ihrer Analyse fest: „Diese Werte sind überraschend hoch und weisen darauf hin, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung unmittelbar von einem Emissionsrückgang profitieren könnte.“

Auch die belebte Natur hätte vermutlich einen Vorteil. In den Niederlanden hat die Regierung im Kampf gegen Stickoxide bereits ein Tempolimit von 100 km/h tagsüber verhängt. Sie war dazu nach einem Verfahren vor dem obersten Gericht gezwungen, bei dem es explizit um den Stickstoffeintrag in Naturschutzgebiete ging. Auch Deutschland muss Umweltrichtlinien der Europäischen Union erfüllen und tut sich schwer damit. Bei den Stickoxiden hat sich Deutschland verpflichtet, den Ausstoß zwischen 2005 und 2030 um 65 Prozent zu senken – davon sind bisher erst 31 Prozent geschafft.

Eine Studie des österreichischen Umweltbundesamts bescheinigte der Geschwindigkeitsbegrenzung übrigens, sie leiste „den größten Beitrag einer Einzelmaßnahme“ beim Reduzieren von Treibhausgas und schädlichen Stickoxid-Emissionen.

Argument 3: Auf den Autobahnen gibt es weniger tödliche Unfälle

Im Prinzip ist klar: Schneller zu fahren verlängert den Bremsweg und steigert die Energie, die bei einer Kollision zur Verfügung steht und Verletzungen verursacht. Aber Schilder aufzustellen, wo es belegte Gefahrenstellen gibt, erlaubt nur begrenzte Schlüsse über ein generelles Tempolimit. Besser wäre es, Strecken zufällig auszuwählen: das wurde in Deutschland zuletzt in den 1970er-Jahren gemacht.

Einen halbwegs sauberen Versuch gab es hierzulande vor etwa 20 Jahren. Auf der A24 Hamburg-Berlin wurde Ende 2002 wegen etlicher Todesfälle auf einem Teilstück Tempo 130 eingeführt. Die Auswertung der Jahre davor und danach zeigte: Die Zahl der Unfälle ging um 48 Prozent, die der Verunglückten um 57 Prozent zurück. Allerdings verbesserte sich die Sicherheit auf vergleichbaren Autobahnstücken ohne Limit ebenfalls. Das schmälert den rechnerischen Effekt des Eingriffs von der Hälfte auf ein Viertel.

Ältere und ausländische Studien deuten auf die gleiche Größenordnung. Die Zahl aus Brandenburg passt auch zu der Auswertung von Traxler und Bauernschuster, die mit einem Rückgang der Getöteten um 15 bis 47 Prozent rechnen. Das wären 34 bis 108 gerettete Leben bezogen auf das Jahr 2021, in dem 229 Menschen auf Autobahnabschnitten ohne Geschwindigkeitsbegrenzung starben.

Abrunden lässt sich das Bild durch einen Blick in die offizielle Unfallstatistik für 2021. Demnach kamen auf den Autobahnen insgesamt 318 Menschen ums Leben und wurden 4682 schwer verletzt – überproportional viel, wenn man es am Anteil der Straßenkilometer misst, aber eher wenig beim Vergleich mit dem Verkehrsaufkommen. Und der zweittiefste Stand in der Statistik, unterboten nur von 2020. Erste Zahlen aus dem laufenden Jahr 2022 deuten allerdings darauf hin, dass die Unfallzahlen, und damit auch die Todesfälle auf Autobahnen, dieses Jahr wieder deutlich ansteigen könnten.

Nicht-angepasste Geschwindigkeit auf einer Strecke ohne Begrenzung spielte bei 85 Todesfällen eine Rolle, stellte die Polizei fest. 1316 Unfallopfer erlitten bei solchen Kollisionen schwere Verletzungen. „Nur bei diesen Menschen könnte ein generelles Tempolimit überhaupt etwas bewirken“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Die tatsächliche Zahl ist aber vermutlich niedriger, weil auch Tempo 80 bei Nebel „nicht-angepasst“ sein kann.

Darum ist der Blick auf die etwa 38 Prozent der Autos hilfreich, die tatsächlich schneller als 130 km/h fahren. Laut einer Detail-Analyse der UDV-Datenbank, die „zwar nicht repräsentativ, aber sehr realistisch ist“, wie Brockmann sagt, sind diese Fahrzeuge in 41 Prozent der Unfälle mit Personenschaden verwickelt, und der Anteil der Getöteten und Schwerverletzten beträgt 47 Prozent. Beide Werte sind also überproportional erhöht. Auch das spricht alles dafür, dass ein Tempolimit Leben retten könnte.

Um aus dieser begründeten Vermutung eine verlässliche Aussage zu machen, fehlt es an Daten. Wenn allerdings nun wegen der Energieknappheit ein Tempolimit eingeführt werde, so der Unfallforscher Brockmann, „wäre das in Hinblick auf Verkehrssicherheit ja gleichzeitig der von mir geforderte Großversuch, wie er besser nicht gehen könnte“.

Als Gegenstimme argumentiert der ADAC: Europäische Nachbarn hätten trotz ihrer Limits höhere Todesraten pro Kilometer Strecke: etwa Belgien oder Italien. Andere wie Frankreich oder Dänemark weisen auch aber niedrigere Zahlen aus. Ein umfassender Blick enthüllt zudem: Charakteristika wie die Strenge der Kontrollen müssen eine Rolle spielen, wenn die Schweiz mit Tempo 120 wesentlich weniger Todesfälle hat als die Niederlande mit Tempo 100 (und beide weniger als Deutschland). Das Argument des Verkehrsklubs ist daher kein Vergleich von Äpfeln mit Birnen, sondern mit Melonen.

„Viele Unfälle passieren ja, und sind deswegen so schwer, weil die Tempounterschiede auf den Autobahnen so groß sind“, erklärt Annette Stolle von der DUH. „Wenn wir diese durch ein allgemeines Gebot beschränken, bekommen wir einen großen Effekt in der Unfallstatistik.“ Er falle noch viel deutlicher aus, wenn die Höchstgeschwindigkeit auch auf Landstraßen und innerorts gesenkt werde. Ohne Tempolimits, ist die Verkehrsexpertin überzeugt, lasse sich die „Vision Zero“ keinesfalls erreichen. Demnach soll die Zahl der Verkehrstoten bis 2030 auf Null sinken, das hat auch die Bundesregierung verkündet; die momentanen Trends machen da wenig Hoffnung.

Argument 4: Der Verkehr fließt besser

Über eine dreispurige Autobahn können etwa 100 Autos oder Lastwagen pro Minute rollen. Diese maximale Verkehrsstärke lässt sich bei einer optimalen Geschwindigkeit im Bereich von 70 bis 90 km/h erreichen, wie Verkehrsmodelle oft zeigen. Daten von sogenannten Streckenbeeinflussungsanlagen, also Brücken mit variabel einzustellenden Limits, bestätigen das. Die Begrenzung des Tempos kann helfen, instabil werdenden, dichten Verkehr zu beruhigen. Die höchsten Minutenwerte erreichte zum Beispiel der Streckenabschnitt an der A9 von München Richtung Nürnberg bei Messungen in den frühen 2000er-Jahren, wenn das tatsächliche Tempo unter 100 km/h lag. Ist die Geschwindigkeit begrenzt, fließt der Verkehr mit geringeren Unterschieden zwischen den Fahrzeugen, sodass beim Überholen weniger Brems- und Beschleunigungsmanöver nötig sind, die einen Stau aus dem Nichts auslösen können.

Argument 5: Die Kosten für die Volkswirtschaft sind umstritten

65 Millionen Stunden Zeitverlust würde ein Tempolimit 130 bedeuten, hat der Ökonom Ulrich Schmidt vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel ausgerechnet. Das macht auf den gefahrenen Kilometer weniger als zwei Sekunden aus, es addiere sich aber und sei auch für Menschen bedeutsam, die in ihrer Freizeit unterwegs sind, sagt Schmidt. Darum hat er die verlorenen Stunden mit dem durchschnittlichen Lohn auf dem Arbeitsmarkt multipliziert und kommt zum Schluss: „Das kostet die Volkswirtschaft 1,3 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Summen liegen sehr hoch im Verhältnis zu anderen Möglichkeiten, Emissionen zu senken.“

Diese Aussage trifft auf erhebliche Kritik. Schmidt stützt sich zwar auf die UBA-Studie und BASt-Untersuchungen, entnimmt den Vorlagen aber nicht überall die korrekten Zahlen. So übersieht er den Anteil des Schwerverkehrs an der Fahrleistung, der durch ein Tempolimit ja nicht langsamer vorankommt. So bleiben vielleicht 48 Millionen Stunden Zeitverlust durch ein Tempolimit 130 übrig.

Auf ein weiteres Problem macht Schmidts Fachkollege Christian Traxler von der Hertie School aufmerksam. Bei einem Tempolimit würden mit den Unfällen auch die Staus und Umleitungen zurückgehen, der Verkehr insgesamt flösse besser. Das heißt, dem Zeitverlust der Schnellen steht ein Zeitgewinn aller gegenüber. „Insbesonders die Lastwagenfahrer sind doch froh um jeden Stau weniger. Es gibt da also Verteilungskonflikte zwischen Gewinnern und Verlierern des Tempolimits“, sagt Traxler. In seiner Studie macht er die sehr vorsichtige Annahme, dass die Zeitgewinne ein Zehntel der 53 bis 70 Millionen Staustunden vor Unfallstellen ausmachen könnten.

Außerdem sei der Ansatz, solche Stunden mit dem vollen Bruttolohn zu bewerten, „völlig überzogen und in der Fachliteratur unüblich“, sagt Traxler. Das bestätigt Axel Friedrich, der sich seit Jahrzehnten mit Verkehrspolitik beschäftigt: „Die meisten Zeitverluste bemerken die Leute in den Autos überhaupt nicht und bewerten sie darum auch nicht. Sie werden zudem dadurch aufgewogen, weniger oft tanken zu müssen. Die Zeitgewinne im Güterverkehr zählen hingegen real.“

Eine Hand mit einem Radiergummi löscht das blaue Quadrat aus, darunter kommt der rote Kreis mit der schwarzen 120 zum Vorschein.
Wer am Verkehrsschild 393 herumradiert, das an den Grenzen Deutschlands auf die allgemeinen Tempolimits an der Richtgeschwindigkeit für Autobahnen hinweist (weiße 130 auf blauem Rechteck), findet dort demnächst womöglich das Verbot, schneller als 120 km/h zu fahren.

Argument 6: Über die langfristigen Folgen für den Automarkt kann man nur spekulieren

Wer auf deutschen Autobahnen nicht mehr 150 km/h fährt, braucht auch keine Radlager, Bremsen, Airbags oder verstärkte Karosserien für das höhere Tempo. Rational betrachtet könnten also durch ein Limit alle Autos kleiner und leichter werden. Sie würden dann auch abseits der Autobahnen Benzin sparen sowie weniger Treibhausgase ausstoßen. Das könnte 20 bis 30 Prozent des Energieverbrauchs ausmachen, schätzte im Jahr 2007 Karl Otto Schallaböck vom Wuppertal-Institut. Auch das Umweltbundesamt schreibt: „Rückwirkungen auf den Kauf von Autos würde aller Voraussicht nach langfristig zu noch höheren Potentialen bei den Treibhausgas-Minderungen“ führen.

Annette Stolle von der DUH ergänzt: Der Effekt würde nicht nur diejenigen Autofahrerinnen und Autofahrer betreffen, die heute selbst regelmäßig die Geschwindigkeit von 130 km/h überschreiten und sich um die eigene Sicherheit sorgen. „Es muss dann auch niemand mehr ein großes Auto kaufen, der bei niedrigerem Tempo Angst davor hat, dass ihm jemand reinfährt.“

Für Elektroautos würde zudem ein Faktor wegfallen, der den momentanen Trend zu immer größeren Batterien anfeuert: Wollen sie auf der Autobahn „mithalten“, verbraucht sich ihr Energievorrat zu schnell. Böse Zungen behaupten darum schon, das Tempolimit solle die Attraktivität der Stromer steigern.

Diese Argumentation setzt indes eine Rationalität der Autokäuferinnen und -käufer voraus, an der man zweifeln kann. Als solcher Realitätscheck kann auch das Argument des AvD gelten: In der Schweiz und Österreich gebe es ja Tempolimits, trotzdem seien die Autos dort nicht kleiner.

Sorgen um die Absatzchancen der deutschen Autoindustrie, die nicht mehr damit werben könnte, ihre Produkte für die Tempolimit-freien Autobahnen zu entwickeln, zerstreuen Auto- und Börsenexperten (SZ vom 6.9.2021). „Ein, Image-Schaden‘, der die Position deutscher Hersteller im Ausland schwächen würde, erscheint – anders als im Fall des VW-Emissionsskandals – wenig plausibel“, stellt auch Christian Traxler fest.

Zusammenfassung

Ein Tempolimit auf Autobahnen hätte vermutlich viele Vorteile und nur wenige Nachteile. Eine rationale Debatte darüber, ob es eingeführt werden und auf welche Höhe es dann gelegt werden soll, ist dennoch nicht zu erwarten. Die Daten sind in vielen der Aspekte zwar brauchbar, aber nicht zwingend. Und selbst wenn sie besser wären: Die Positionen der politischen Kontrahenten sind dermaßen festgefahren, dass jede Seite im Wesentlichen nur noch das zur Kenntnis nimmt, was die eigene Meinung stützt. Beide wollen einen symbolischen Sieg in dieser Frage erringen – und das ist dem Ernst der Frage sicherlich nicht angemessen.

Hinweis: Dieser Artikel beruht auf einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung aus dem Herbst 2021. Wo es neue Studien, Zahlen oder Aussagen gibt, wurde der Text aktualisiert.

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