Die Obsession des Vogelbeobachtens treibt Noah Strycker um die ganze Welt
Wie man möglichst viele Vogelarten in einem Jahr beobachtet
![ein Mann, der in einem Wald steht [AI]](https://riff.media/images/oah-Strycker.jpg?w=2500&h=1406&fit=crop-45-49&s=d89780114afdd0e7271fc1bdd4dd9c12&n_w=3840&n_q=75)
Was braucht es, um in einem Jahr auf der ganzen Welt möglichst viele verschiedene Vogelarten zu sehen?
Nötig ist eine robuste körperliche Konstitution, um heiss-feuchte Regenwälder genauso unbeschadet zu überstehen wie die antarktische Kälte. Auch sollte man gut zu Fuss sein, da sich so manche Vogelart nur in äusserst zugänglichem Gelände versteckt. Von Vorteil ist zudem leichtes Gepäck, nicht nur, um den Rücken zu schonen, sondern auch um beim Reisen mit dem Flugzeug nicht unnötig Zeit mit dem Einchecken von Koffern zu verlieren. Klar, Geld ist auch notwendig, allerdings weniger als man vermuten würde: 60'000 Dollar oder rund 50'000 Euro genügen.
Über all das verfügte der Amerikaner Noah Strycker, als er sich am 1. Januar 2015 im Alter von 28 Jahren in der Antarktis aufmachte, sein „Big Year“, sein grosses Jahr zu erleben.
Was für Gläubige eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela ist, ist für viele Vogelbeobachter ein „Big Year“: ein Lebensziel. Ein Jahr lang tut man nichts anderes, als Vögel in einem bestimmten Gebiet, meistens in einem Land, zu beobachten. Oft ist damit auch ein Wettbewerb verbunden. Ein Rekord soll gebrochen werden. Vor allem in den USA gehört das Big Year zum festen Bestandteil der Birder-Kultur; dort fand es in den 1950er Jahren auch seinen Ursprung. Einem breiteren Publikum wurde es durch die Verfilmung des lesenswerten Buches von Mark Obmascik „The Big Year: A Tale of Man, Nature, and Fowl Obsession“ bekannt. Darin versuchen drei charakterlich sehr verschiedene Männer zur selben Zeit in den USA einen neuen Big-Year-Rekord aufzustellen. Bei aller Differenz der Lebensumstände verbindet die Männer etwas: die Obsession, Vögel zu beobachten.
Zur Spezies der Besessenen zählt auch der in Oregon geborene Noah Strycker. Spätestens seit seine Lehrerin ein Vogelhaus am Fenster des Klassenzimmers anbrachte und darauf die an- und abfliegenden Vögel Noah eine ideale Ablenkung vom Unterricht boten, bestimmen Vögel sein Leben. In seiner Jugend gewann er den in den USA prestigeträchtigen Preis „Young Birder of the Year“, studierte Fischerei und Wildtiere, betrieb in verschiedenen Ländern Feldforschung – unter anderem an Pinguinen in der Antarktis – und wurde Kolumnist für Vogelbeobachter-Zeitschriften sowie Autor von Vogelbüchern. Strycker ist gemäss seiner Selbstbeschreibung ein „full-time bird nerd“, ein „Vollzeit-Vogelstreber“, den der Drang vorwärtstreibt, immer neue Vogelarten aufzuspüren. Man nennt ihn auch schlicht: „Bird Man“.
Durchaus glücklich in seiner Besessenheit schoss ihm eines Tages ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Das Leben ist zu kurz, um alle Vogelarten dieser Welt zu sehen! Aus dieser Einsicht wuchs die Idee, ein Jahr nur dafür zu verwenden, rund um den Globus zu reisen, um möglichst viele Vögel auf der über 10'000 Stück zählenden globalen Artenlisten abzuhaken. Strycker hatte sich das Ziel von 5000 Vogelarten gesteckt, am Ende wurden es 6042, womit er den damals bestehenden Rekord um 1701 Arten hinter sich liess. Einen strengen Beweis für jede seiner Beobachtungen gibt es nicht; unter Birdern ist es Ehrensache, nicht zu schummeln. Seine Erlebnisse hat Strycker nun in einem unterhaltsamen und flott geschriebenen Reisebuch erzählt: „Birding Without Borders: An Obsession, a Quest and the Biggest Year in the World“.
41 Länder auf allen sieben Kontinenten besuchte Strycker. Er startete in der Antarktis mit der Sichtung eines Kapsturmvogels, dann ging es nach Süd- und Nordamerika, es folgten Europa – in Deutschland kam bei einem Zwischenstopp in Frankfurt am Main lediglich eine neue Art dazu: eine Nilgans –, weiter führte die Reise nach Afrika, Asien, Australien und nochmals Asien, wo das Jahr mit einem Würgerbreitrachen in Indien endete. Wie es sich für ein „Biggest Year“ gehört, ist Stryckers Buch voller Superlative sowie miss- und geglückter Beobachtungen: In Ecuador sah er innerhalb von 12 Tagen 625 Arten, gefolgt von Uganda, wo es 517 Arten in elf Tagen waren, in Australien erlebte er eine Hitzewelle von 43 Grad Celsius, und während sich in Brasilien das stundenlange Warten auf die Harpyie auszahlte, war ihm in den Philippinen mit dem Philippinenadler kein Glück beschieden. Dafür konnte er die äusserst seltene Goldeule in Neu-Britannien seiner Liste zufügen: Er erblickte sie mitten in einer Palmölplantage.
Auch wenn bereits vor Strycker etliche Vogelbeobachter ein globales Big Year unternahmen, so unterscheidet sich seines durch einen besonderen Umstand: Strycker, Jahrgang 1986, ist ein „digital native“. Und dies zeigt sich auch bei der Art, wie er unterwegs ist. Strycker hält nicht nur andauernd nach Vögeln Ausschau, sondern auch nach einem Wifi-Zugang. Zwei Applikationen erleichterten seine Reise erheblich. Mithilfe von eBird, einer auf dem Smartphone frei zugänglichen Datenbank über aktuelle Vogelbeobachtungen auf der ganzen Welt, plante er seine effizienten Reiserouten durch die Länder, immer gemäss der Vorgabe: möglichst viele Arten in möglichst kurzer Zeit. Strycker bezeichnet eBird als den „global hub“ für aktive Birder.
Die zweite Webseite, die für Strycker unumgänglich war, heisst BirdingPal. Dort findet man in fast jedem Land Birder, die einem nicht nur an die jeweils besten Orte für Vogelbeobachtungen führen, sondern die oft auch einen Platz zum Übernachten anbieten können. So war Strycker Tag für Tag mit den besten Birdern des Landes unterwegs und vermied es, in teuren Hotels absteigen zu müssen, womit er seine Reisekosten tief halten konnte. Üblich ist es, die Spesen für die „Birding-Kumpels“ zu übernehmen. Kontakt zu den Vogelbeobachtern hatte Strycker bereits in den Monaten vor dem Start des Big Year per Email aufgenommen. Ausnahmslos stiess er auf grosse Begeisterung für sein Abenteuer. Selbst in abgelegenen Gegenden konnte er auf die Hilfe erfahrener einheimischer Vogelkenner zählen.
Neben Fernglas und Spektiv waren das Smartphone, auf dem Strycker Dutzende von Bestimmungsbüchern gespeichert hatte, sowie das Notebook die ständigen Begleiter von Strycker. Es sei verlockend anzunehmen, dass das steigende Interesse fürs Vogelbeobachten eine Gegenbewegung zum neuen digitalen Lebensstil sei, schreibt Strycker. Doch es sei wohl gerade umgekehrt. Die Digitalisierung habe die Art und Weise verändert, wie die Menschen Vögel und Natur genössen: „Ironischerweise inspiriert uns der Gang in die Onlinewelt dazu, nach draussen zu gehen.“ Das Informationszeitalter habe die Kommunikation unter Birdern revolutioniert. Dank Email, Diskussionsgruppen, eBird und BirdingPal sei die Vogelbeobachtung nicht mehr ein Zeitvertrieb für reiche Rentner, sondern sie sei zu einer internationalen und populären Beschäftigung geworden, gerade auch in Afrika und Asien, die noch über keine so lange Birder-Tradition wie die USA und Europa verfügten.
Das Internet bietet einem zwar Kontakte in die ganze Welt, doch es erreichen einen auch Nachrichten, auf die man nicht gewartet hat. Und so musste Strycker während seinem Big Year immer wieder Notiz nehmen von einem Niederländer namens Arjan Dwarshuis, der offenbar die Reiseroute Stryckers Schritt für Schritt verfolgte, schrieb Strycker doch für die amerikanische Umweltorganisation „Audubon Society“ einen Reise-Blog. Dwarshuis schien ebenfalls ein globales Big Year ins Auge gefasst zu haben. Und wirklich: Kaum war Stryckers Big Year am 31. Dezember 2015 zu Ende gegangen, startete der nur vier Monate jüngere Dwarshuis. Ende 2016 zählte dieser 6852 Vogelarten auf seiner Liste. Stryckers Rekord hielt lediglich ein Jahr.
Sind es solche Rekorde, die Männer wie Strycker zu einem globalen Big Year antreiben? Strycker stellt dies zwar immer wieder in Abrede. Doch gänzlich abnehmen will man ihm das nicht. Ohnehin ergründet er seine Motivation nicht allzu tief. Neben seiner Vogel-Verrücktheit und dem Wunsch, möglichst viele Arten zu sehen, spielt die Lust aufs Reisen und auf Abenteuer in fremden Ländern eine grosse Rolle. Einen etwas schalen Nachgeschmack hinterlässt seine Rechtfertigung dafür, Tausende von Kilometern mit dem Flugzeug zu reisen und damit Tonnen von Kohlendioxid in die Atmosphäre zu schleudern. Er wolle mit seinem Bericht den Leserinnen und Lesern die Vielfalt der Vögel sowie die Zerstörung der Natur, die ihm an vielen Orten begegnete, vor Augen führen, meint Strycker. Nun, über beides wusste man auch schon vor seiner Weltreise Bescheid.
In guter Erinnerung bleiben aber Stryckers Porträts von Vogelbeobachtern, die er rund um den Globus antrifft. Das Vogelbeobachten ist eine menschenverbindende Obsession. Allerdings schleicht sich auch hier eine bittere Note ein. Denn während die Gemeinde der Vogelbeobachter so gross und lebendig ist wie nie zuvor, geht es den Vögeln immer schlechter und ihre Bestände schrumpfen vielerorts dramatisch.