Wie Viren die Evolution des Menschen beflügelten
Die winzigen organischen Strukturen sind nicht nur schreckliche Krankheitserreger, sie haben aus biologischer Sicht auch ihre guten Seiten

Die Corona-Pandemie macht deutlich, welche Gefahren von Viren als Auslöser tödlicher Seuchen ausgehen. Doch die Winzlinge sind weitaus mehr: Sie sind uralte Überlebenskünstler und haben die Evolution der meisten Lebewesen, auch von uns Menschen, vorangetrieben. Ohne sie gäbe es wohl heute keine Sexualität, würden dem Menschen manche Gene fehlen und sein Abwehrsystem wäre weniger leistungsfähig.
Seit die Corona-Pandemie als gigantische Welle über den Erdball rollt, wird vielen Menschen erst bewusst, wie mächtig die Kräfte der Evolution sind und wie brutal sie über Leben oder Tod entscheiden können. Unerwartet und bedrohlich ist die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die neuen Coronaviren in unserer globalisierten Welt ausbreiten. Doch auch schon vorher hatten Viren – das lateinische Wort Virus bedeutet Gift oder Schleim – ein denkbar schlechtes Image. Denn sie sind als Ursache von Krankheiten wie Ebola, Grippe, Pocken, SARS oder Aids gefürchtet, aber auch als Auslöser lediglich lästiger Beeinträchtigungen wie Schnupfen bekannt.
Aus biologischer Sicht jedoch sind die winzigen Plagegeister weit mehr als nur Erreger von schrecklichen Seuchen. Sie sind raffinierte Überlebenskünstler, so alt wie das Leben selbst, und sie haben als Motoren der Evolution andere Lebewesen vorangebracht – auch den Menschen. Eine Jahrmillionen Jahre alte Wechselbeziehung verbindet sie mit dem Homo sapiens und seinen Vorfahren. Und die hinterließ bis heute ihre Spuren in uns.
Denn der Mensch enthält nicht nur mehrere Prozent Viren-DNA in seinem Erbgut, sondern er trägt auch einige von Viren eingeschleuste Gene – die etwa das Immunsystem unterstützen, in der Schwangerschaft helfen oder für das Gehirn wichtig sind. Wie aber konnten die Winzlinge solche Leistungen erbringen und seit Milliarden Jahren überleben, obwohl sie unglaublich simpel aufgebaut und eigentlich gar keine Lebewesen sind?
Viren sind die erfolgreichsten Kreaturen auf dieser Erde
Würde man den Erfolg einer Kreatur nur danach bemessen, wie viele Exemplare es davon gibt, dann wären Viren eindeutig die Sieger der Evolution. Sie sind zehnfach häufiger als Bakterien. In jedem Kubikzentimeter Meerwasser finden sich zehn Millionen Viren. Und ihre Gesamtzahl in den Ozeanen wird auf 1031 geschätzt. Das ist eine Eins mit 31 Nullen – eine unvorstellbar große Zahl. Wären einzelne Viruspartikel so groß wie ein Sandkorn, dann würde allein ihre Menge die gesamte Erdoberfläche mit einer 15 Kilometer dicken Schicht bedecken.

Doch in Wirklichkeit sind die Erreger so winzig, dass sie nur unter dem Mikroskop zu erkennen sind. Sie messen etwa ein Hundertstel der Größe eines Bakteriums, und eine durchschnittliche menschliche Zelle ist sogar tausendfach länger. Der Erreger der Grippe etwa kommt auf 0,12 tausendstel Millimeter. Einmalig ist auch die Vielfalt der Viren: Wissenschaftler vermuten, dass es 100 Millionen unterschiedliche Typen gibt. Und die Erreger kommen überall auf der Erde vor, wo es Leben gibt.
Das Prinzip Einfachheit: Ein paar Gene in einer Eiweißhülle
Eines haben alle Viren gemein: Sie bestehen lediglich aus einem Stück Erbsubstanz, das von einer Eiweißhülle umgeben ist, und sie können sich nicht ohne fremde Hilfe vermehren. Um sich zu reproduzieren, müssen sie in die Zelle eines anderen Lebewesens eindringen und sie manipulieren. Denn Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel; sie borgen sich sozusagen das Leben von anderen. Und daher ist auch die Frage, ob Viren denn nun Lebewesen sind oder nicht, schwer zu beantworten. Die meisten Biologen sehen sie heute eher an der Grenze zwischen belebter Materie und unbelebten chemischen Verbindungen.
Weil sie aber keine vollwertigen, eigenständigen Lebewesen sind, ist es für Viren von entscheidender Bedeutung, einen Wirt zu finden, in dem sie sich vermehren können. Erreger, die Schleimhautzellen insbesondere im Nasen-Rachen-Raum des Menschen oder von Tieren befallen, haben es da relativ einfach. Sie werden beim Niesen oder Husten mit den Speicheltröpfchen weit hinausgeschleudert und erreichen neue Opfer.
Zu ihnen gehören die Coronaviren ebenso wie die Erreger von Grippe, Schnupfen, Pocken, Masern, Röteln oder Herpes. Andere Viren infizieren Darmzellen und werden mit dem Kot ausgeschieden, manche lassen sich von tierischen Helfern – etwa Mücken oder Zecken – zum nächsten Wirt befördern, und wieder andere, etwa der Aids-Erreger, finden sich in verschiedenen Körperflüssigkeiten wie Blut oder Sperma.

Ist ein Virus in den Körper gelangt, braucht es etwas Glück, um in die richtige Zelle zu kommen – denn es kann nur ganz bestimmte Zelltypen befallen. Auf seiner Protein-Hülle besitzt der Erreger spezielle Zucker-Eiweiß-Moleküle, die wie ein Schlüssel ins Schloss zu Strukturen passen, die sich auf der Oberfläche der Wirtszelle finden. Stößt das Virus auf ein solches „Rezeptormolekül“ und kann sich daran anheften, öffnet es mit seinem Schlüssel quasi die Tür in die Zelle – und wird von ihr aufgenommen.
Wie das Virus die molekulare Maschine der Zelle umprogrammiert
Im Inneren der Wirtszelle verliert der Erreger seine Eiweißhülle und die nackte Erbsubstanz bleibt zurück. Weil die Zelle die virale Erbsubstanz nicht von ihrer eigenen unterscheiden kann, beginnt sie deren Anweisungen auszuführen. So wird die Zelle umprogrammiert und stellt in der Folge massenhaft Kopien der Erbsubstanz der Viren sowie der viralen Hüllproteine her. Hüllen und Erbsubstanz fügen sich zu neuen Viren zusammen, so dass am Ende Tausende von Exemplaren entstehen. Das kann die Zelle nicht verkraften, sie stirbt ab, löst sich auf und entlässt Massen von Tochterviren in die Umgebung. Diese infizieren neue Zellen und ein Schneeballeffekt kommt in Gang. Die Infektion nimmt ihren Lauf.
Letztlich sind Viren also Parasiten, die den Stoffwechsel ihrer Wirte manipulieren, um sich selbst zu vermehren. Und sie dürften die ältesten Parasiten auf der Erde sein. Möglicherweise entstanden sie schon vor mehr als 3,5 Milliarden Jahren, am Beginn des Lebens selbst. Nachzuweisen ist das schwer, weil es keine Fossilien von Viren gibt.
Doch die winzigen Parasiten kommen in allen Lebewesen vor: In Tieren, Pflanzen, Pilzen, Algen, Einzellern mit Zellkern, Bakterien und Archaeen (das sind den Bakterien ähnliche Einzeller, die heute einer eigenen Großgruppe von Lebewesen zugeordnet werden). Deshalb nehmen die meisten Molekularbiologen an, Viren seien sehr früh entstanden, indem sich Teile der zellulären Erbmoleküle von Lebewesen freisetzten und selbständig machten. Sie sind sozusagen außer Kontrolle geratene Schnipsel von Nukleinsäuren, den Trägern der Erbinformation.

Es gibt sogar Biologen, die annehmen, dass Viren älter sind als alle anderen Lebewesen. Die Winzlinge seien Überbleibsel aus einer Welt, in der es noch keine Zellen gab, wie wir sie heute kennen. Die Viren könnten sogar die DNA „erfunden“ haben, also jenes Erbmolekül, das heute die Gene, den Bauplan eines Lebewesens, speichert und weitervererbt. Und womöglich haben sie auch dazu beigetragen, dass sich der Zellkern jener komplexer gebauten Zellen (Eukaryoten) entwickelte, aus denen alle heutigen, größeren Lebewesen bestehen. Doch werden diese Hypothesen nicht von allen Wissenschaftlern geteilt.
Weshalb es den Sex und zwei Geschlechter gibt
Fest steht, dass Viren als Parasiten ihre Wirte schädigen und krank machen. Und deshalb haben sie schon früh in der Geschichte des Lebens einen Selektionsdruck auf andere Organismen ausgeübt, haben deren Evolution beeinflusst nach dem Motto: Wer die richtige genetische Ausstattung hat, wird besser mit dem Erreger fertig und überlebt. Wahrscheinlich sind die Viren deshalb ein wesentlicher Grund, weshalb es überhaupt zwei Geschlechter und die Sexualität gibt. Denn die sexuelle Fortpflanzung bewirkt, dass sich die Gene zweier Individuen – in der Regel ein weibliches und ein männliches Exemplar – bei ihren Nachkommen neu vermischen.
Wenn also eine Frau und ein Mann Kinder bekommen, dann erhalten diese ein genetisches Mischmasch aus beiden Elternteilen. Das erhöht die genetische Vielfalt enorm und beschleunigt die Anpassung an neue Umwelten – auch an Parasiten. Die größte Bedrohung aber geht von Krankheitserregern wie Bakterien und Viren aus.
Weil die sich rasend schnell vermehren und dabei verändern, stellen sie unser Abwehrsystem vor immer neue Herausforderungen. Besteht jedoch in einer Bevölkerung eine große genetische Vielfalt, sind immer auch Menschen dabei, die mit Erregern leichter fertig werden als andere – und im Zweifelsfall überleben. In dieser Anpassung an bakterielle und virale Krankheitserreger sehen die Biologen den Hauptgrund, weshalb wir heutzutage zwei unterschiedliche Geschlechter haben – und die damit verbundenen vielen Komplikationen zwischen Frauen und Männern.

Doch Viren beschleunigen die Evolution nicht nur, indem sie als Krankheitserreger Pflanzen, Tiere oder Menschen unter Druck setzen und sie zwingen, sich anzupassen. Weil sie Meister darin sind, sich für ihre Vermehrung die Gene einer Zelle untertan zu machen, können sie fundamental in das Erbgut eingreifen. Und damit haben sie auch den Menschen verändert.
Wie kamen die fremden Gene in das Erbgut des Menschen?
Als Molekulargenetiker im Jahr 2003 erstmals die Buchstabenfolge des kompletten menschlichen Genoms entziffert hatten und dann begannen, die Erbsubstanz genauer zu analysieren, gerieten sie ins Staunen: Mehr als acht Prozent der Erbsubstanz stammt offensichtlich von Viren ab. Noch verblüffender ist das Ergebnis einer Studie, die eine Gruppe von Forschern aus dem englischen Cambridge im Jahr 2015 veröffentlichte. Demnach waren 145 Gene des Menschen ursprünglich in gänzlich anderen Organismen heimisch gewesen: In Bakterien, Protisten (das sind Einzeller mit Zellkern), Archaeen, Pflanzen oder Pilzen etwa.
Wie kann das angehen, wie kommt das fremde Erbmaterial ins Genom der Menschen? Die „Übeltäter“ sind offenbar Viren, die vor allem ihr eigenes Erbgut, zuweilen wohl auch Genschnipsel fremder Organismen, in ihre Wirte bringen. Eine besonders raffinierte Art, sich in den Zellen ihrer Wirte festzusetzen, haben die sogenannten Retroviren entwickelt. Denn sie sind nicht unbedingt darauf aus eine Zelle zu infizieren, um dann möglichst viele Kopien ihrer selbst herzustellen.
Stattdessen vermögen sie die molekulare Maschinerie der Zelle auf besondere Weise zu manipulieren: Sie bringen die Zelle dazu, Kopien der Virus-Erbsubstanz in Form von DNA herzustellen – also jener Nukleinsäure, die die Erbinformation im Zellkern aufbewahrt – und sie dann in die DNA des Zellkerns einzubauen. Im Gegensatz dazu findet die Replikation anderer Viren außerhalb des Zellkerns statt, im sogenannten Zytoplasma, oder aber im Zellkern, ohne dass das Viren-Erbgut ins Genom des Wirtes integriert wird.
Von Viren, die sich im Inneren ihrer Wirtszellen verstecken
Dieser Trick bringt den Viren einen großen Vorteil: Als Bestandteil der Erbsubstanz im Zellkern gehören sie nun zum Genom des Wirtes. Dadurch sind sie bestens getarnt und werden nicht vom Immunsystem des Wirtes angegriffen. Stattdessen schlummern sie dort unerkannt und gut geschützt. Teilt sich die Zelle, verdoppelt sie mit der eigenen auch die Viren-Erbsubstanz und gibt sie an die Tochterzelle weiter.

Ein Beispiel für diese Taktik ist der Aids-Erreger HIV, der seine Gene in das Erbgut menschlicher Abwehrzellen integriert, wo sie über Jahre unbehelligt ruhen können. Doch schlummert in den Zellen eine genetische Zeitbombe. Denn irgendwann – etwa wenn sich der Gesundheitszustand des Betroffenen verschlechtert – werden die viralen Gene wieder aktiv und zwingen die Zelle, massenhaft neue Viren herzustellen. Das ist für das Virus wichtig, denn würde es permanent im Ruhezustand verharren, würde es mit dem Tod seines Wirtes untergehen. So aber bricht die Krankheit aus und der Infizierte überträgt die HI-Viren zum nächsten Opfer; der Erreger verbreitet sich.
Es gibt eine alternative Möglichkeit, die es den Viren noch bequemer macht. Manchen von ihnen gelingt es, ganz besondere Zellen zu infizieren und ihre Gene in deren Kerne einzubauen. Dabei handelt es sich um die Keimzellen: Die Eizellen der Frau, die Spermien des Mannes. Ist das einmal geschehen, wird die Virus-DNA bei der Zeugung eines neuen Kindes automatisch weitergegeben. Die Viren müssen keinen neuen Wirt suchen – die Menschen selbst verbreiten sie.
Ein Virus-Eiweiß schützt den Embryo im Mutterleib
Das ist für die Viren-DNA ein äußerst komfortables Dasein. Weil sich das Virus nun nicht mehr selbst vermehren muss, gibt es auch keinen Grund mehr, Virus-Partikel herzustellen. Im Gegenteil: Seinen Wirt zu schwächen, wäre eine schlechte Idee, weil sich die ins Genom integrierte Viren-DNA umso erfolgreicher verbreitet, je gesünder der Wirt ist. Daher wird jene virale Erbinformation, die etwa für die Produktion der Hüllproteine zuständig war, überflüssig und kann – variiert durch Mutationen – neue Aufgaben im Menschen übernehmen. Ein Gen mit neuen Funktionen für den Menschen ist geboren.

Dass so etwas tatsächlich geschehen ist, konnten Forscher nachweisen. So gibt es zwei Gene, die in der menschlichen Plazenta aktiv sind und ursprünglich von Viren stammen. Sie stellen zwei Eiweiße her, die Syncytin-1 und Syncytin-2 heißen. Ursprünglich halfen sie dem Virus-Partikel, seine Hüllmembran mit der Zellmembran der Wirtszelle zu verbinden und so in die Zelle einzudringen. Heute verbinden diese Proteine Zellen in der Plazenta. Diese bilden dadurch eine abschirmende Barriere, die das mütterliche Immunsystem daran hindert, zum Embryo vorzudringen und ihn anzugreifen.
Aus Krankheitserregern wurden nützliche Helfer
Andere ehemals virale Gene produzieren Eiweiße, die für die Entwicklung des Embryos wichtig sind, das Immunsystem unterstützen oder die Leistung des menschlichen Gehirns verbessern. Es gibt auch ausrangierte Viren-Gene, die nun in die Aktivität anderer menschlicher Gene eingreifen und sie regulieren. Ein solches virales Element hilft etwa bei der Herstellung eines Bestandteiles des menschlichen Blutfarbstoffs Hämoglobin.
Hunderte von Genschnipseln sind mittlerweile bekannt, die einst zu Viren gehörten und eine neue Funktion übernommen haben. Letztlich haben sich also die eingeschleusten Viren von Krankheitserregern zu Helfern im Körper des Menschen gewandelt.
Für Menschen, die heute von einer Virus-Infektion betroffen sind, ist das kein Trost. Und die jetzige Corona-Pandemie wird nicht weniger bedrohlich, wenn wir hören, dass die Viren dem Homo sapiens im Verlauf der Urgeschichte auch Gutes gebracht haben. Doch die Evolution hat uns Menschen zu etwas ganz Besonderem gemacht: Wir verfügen über Mitgefühl, Vernunft und einen scharfen, einfallsreichen Geist. Und diese Eigenschaften helfen uns, die Pandemie zu bewältigen: Indem wir mit den richtigen Maßnahmen die Ausbreitung des Virus eindämmen, indem wir Medikamente finden, die die Symptome lindern, und indem wir einen Impfstoff entwickeln, der das Virus endgültig besiegen wird.