Evolution: Weshalb wir schlafen und träumen müssen

Der Schlaf ist so alt wie die Tierwelt. Ohne den seltsamen Zustand in der Nacht würde unser Gehirn nicht funktionieren. Er dient dazu, Nervenzellen zu regenerieren, das Gedächtnis zu optimieren und den Körper zu stärken.

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Auf den glatten, braunen Ästen eines Eukalyptus-Baumes hat es sich ein Koala – der einem Teddybären sehr ähnelt – gemütlich gemacht. Er hat braun-graues, dichtes Fell und eine dicke schwarzglänzende Nase, ruht mit geschlossenen Augen, den Rücken an die Äste gelehnt. Die Beine sind angezogen wie bei einem Baby, der rechte Arm ruht auf dem Bauch, der linke hängt schlaff herunter.

Alle Menschen und auch Tiere müssen schlafen. Doch warum hat die Evolution den Schlaf hervorgebracht? In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben Forschende darauf Antworten gefunden: Während der Nachtruhe entsorgt das Gehirn Abfallstoffe, stärkt Gelerntes, verarbeitet Emotionen und entrümpelt überflüssige Erinnerungen. Wie das alles funktioniert und weshalb es unterschiedliche Schlafstadien gibt, ist inzwischen großenteils geklärt.

Rund ein Drittel unseres Lebens befinden wir uns in einem körperlichen Ausnahmezustand: Die Sinne sind stark eingeschränkt, der Stoffwechsel ist heruntergefahren, das Bewusstsein weitgehend abwesend. Aus der Perspektive der Evolution ist Schlafen eine höchst gefährliche Angelegenheit, weil sie ein Lebewesen gegenüber Feinden extrem verletzlich macht. Und doch sind Schlaf und Traum so nötig wie Essen und Trinken. Schlafentzug führt auf Dauer zu Halluzinationen, wird sogar als Foltermethode eingesetzt und endet im Extremfall mit dem Tod. Zudem fördert der Mangel an nächtlicher Ruhe Herz-Kreislauf-Krankheiten, Übergewicht, Diabetes und die Anfälligkeit für Infektionen. Der Schlaf ist ganz offensichtlich so ungeheuer wichtig, dass die Natur ihn einfach erfinden musste.

Und es sind ja nicht nur Menschen, die schlafen. Auch Tiere benötigen regelmäßige Ruhephasen – und das unter teils abenteuerlichen Umständen. Seltsam etwa wirkt der Anblick schlafender Pottwale, die durchschnittlich zwölf Minuten lang senkrecht stehend unter der Wasserlinie verharren, bevor sie endlich an die Meeresoberfläche kommen, um einen Atemzug zu nehmen. Rund sieben Prozent ihrer Zeit verbringen die grauen Meeresriesen in solchen Ruhephasen. Delfine und manche Robben schlafen mit nur einer Hirnhälfte (und schließen das entsprechende Auge). Währenddessen wacht die andere Hirnhälfte, steuert den Körper, lässt ihn zum Atmen auftauchen und beobachtet die Umgebung. Selbst in der Luft wird geschlafen: Fregattvögel, die monatelang über das Meer fliegen, ohne zwischendurch auf dem Wasser zu ruhen, nutzen Aufwinde, um sich kilometerweit tragen zu lassen und sich dabei ein paar Minuten Schlaf zu gönnen.

Sogar Quallen müssen ruhen

Um herauszufinden, wann die Evolution den Schlaf hervorgebracht hat, haben Forschende sich im gesamten Tierreich umgeschaut – und dabei Erstaunliches entdeckt. Nicht nur Säugetiere sondern auch Reptilien, Fische und Insekten, ja selbst so einfach gebaute Wesen wie Fadenwürmer, Süßwasserpolypen (Hydra) oder Quallen benötigen schlafähnliche Ruhephasen. Das lässt im Grunde nur einen Schluss zu: Schlaf gibt es so lange wie die Tiere selbst (also seit mindestens 700 Millionen Jahren), vielleicht sogar schon seit mehr als einer Milliarde Jahren. Und er muss mit etwas zu tun haben, das allen tierischen Lebewesen gemeinsam ist. Denn bei anderen Organismen – etwa Pflanzen, Pilzen oder Bakterien – ließ sich ein entsprechender Zustand nicht nachweisen.

Am Rande eines riesigen Heuhaufens, inmitten von Getreidegarben, die in leuchtenden rotbraunen Farben gemalt sind, ruhen eine Frau und ein Mann in hellblauen Kleidern, offenbar erschöpft von der Erntearbeit. Im Hintergrund sind vor einem weiteren Haufen ein Karren und zwei Ochsen zu sehen, dahinter leuchtet der blaue Himmel. Im Vordergrund ein paar Schuhe und zwei Sicheln.
Egal ob im Mittagsschlaf – wie hier auf dem Gemälde von Vincent von Gogh aus dem Jahr 1890/91 – oder in der Nacht, der Mensch genießt und braucht die Ruhephasen. Und das ist gut so für Gehirn, Gedächtnis und Gesundheit

Die Spur führte zu den Nervenzellen (Neurone), die nur Tiere besitzen. Diese hochspezialisierten Zellen kommunizieren untereinander mithilfe elektrischer Impulse. Auf diese Weise vermögen sie Sinneseindrücke zu verarbeiten, Gedanken und Gefühle zu erzeugen sowie Bewegungen zu steuern. Viele Forschende vermuten, dass die Nervenzellen immer wieder Phasen reduzierter Aktivität brauchen, um sich zu regenerieren. Eine Art Wartung, nach der sie wieder voll einsatzfähig sind.

Forscher beobachteten in einem Experiment schlafende Nervenzellen

Und das ließ sich tatsächlich im Experiment bestätigen: Es gelang, im Labor isolierte Nervenzellen in einen schlafähnlichen Zustand zu bringen. Dazu ließen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Neuronen (zusammen mit so genannten Gliazellen, die unter anderem für die Ernährung der Nervenzellen wichtig sind) auf einer mit Messfühlern ausgestatteten flachen Schale wachsen und sich miteinander vernetzen.

Sobald die Nervenzellen gereizt wurden, sendeten sie Signale an ihre Nachbarn, die diese wiederum weitergaben. Wurden die Neuronen aber lange genug traktiert, dann geschah Erstaunliches: Die Nervenzellen begannen plötzlich langsamer und im Gleichtakt zu feuern, mit regelmäßigen Pausen dazwischen. Sie zeigten somit ähnliche Erregungsmuster wie ein Gehirn im Schlaf. Offenbar waren die Neuronen erschöpft und ruhten sich auf diese Weise aus.

Träume kamen erst sehr viel später in die nächtlichen Ruhephasen

Doch eine Regeneration der Nervenzellen ist nicht die einzige biologische Funktion des Schlafes. Denn bei Tieren mit komplexer gebauten Gehirnen und bei Menschen zeigen sich unterschiedliche Phasen des Ruhebedürfnisses. Schon lange ist bekannt, dass sich in einer dieser Phasen die Augen unter den geschlossenen Lidern wild hin und her bewegen. Deshalb wird sie heute REM-Schlaf (vom englischen „Rapid Eye Movement“) genannt. In ihr ist auch die elektrische Aktivität des Gehirns – gemessen als EEG (Elektroenzephalogramm) – recht hoch und ähnelt der im Wachzustand. Ganz anders verläuft der sogenannte Non-REM-Schlaf, der zusätzlich in Leicht- und Tiefschlaf unterteilt wird. Leichtschlaf ist ein Übergangsstadium zwischen Wach- und Schlafzustand, in dem wir immer mal wieder kurz aufwachen ohne uns später daran zu erinnern. Im Tiefschlaf aber geschieht etwas Merkwürdiges: Dann feuern die Nervenzellen langsam und synchronisieren ihre Aktivität. Das EEG zeigt eine deutliche und vergleichsweise langsam auf und nieder schwingende Aktivität.

Gleichzeitig mit den unterschiedlichen Schlafphasen brachte die Evolution ein neues Phänomen hervor: den Traum. Beides hat wahrscheinlich mit dem Gedächtnis zu tun: Am Tag Erlebtes wird verarbeitet, neu gemachte Erfahrungen werden sortiert, unwichtige Erinnerungen gelöscht – und auf diese Weise Kapazitäten für neue Inhalte geschaffen.

An durchsichtigen Zebrafisch-Larven ließen sich unterschiedliche Schlafstadien nachweisen

Nicht nur Menschen, auch Säugetiere, Vögel und Reptilien zeigen solche unterschiedlichen Schlafphasen. Und offenbar kommt die komplexere Schlafstruktur selbst bei Fischen vor, deren Gehirne deutlich primitiver sind als die der landbewohnenden Wirbeltiere. Denn im Juli 2019 veröffentlichte ein Team um Louis Leung von der Stanford University die Ergebnisse von Studien an Zebrafisch-Larven, die die Forschenden zunächst unter Schlafentzug gesetzt und dann in der Ruhephase beobachtet hatten. Weil die jungen Fische durchsichtig sind, ließen sich deren Muskel- und Gehirnaktivität sowie der Herzschlag mithilfe eines Spezialmikroskops beobachten.

Das Foto zeigt zwei grau gefärbte Pottwale, die mit ihren mächtigen tonnenförmigen Köpfen von rechts nach links durch tiefblaues Meerwasser pflügen. Voran schwimmt die Mutter, dahinter das etwa halb so große Kalb.
Normalerweise bewegen sich Pottwale waagerecht durchs Meerwasser, wie diese Mutter mit Kalb. Doch wenn man das seltene Glück hat, sie einmal reglos und senkrecht im Wasser schweben zu sehen, dann ist man Zeuge eines Wal-Nickerchens
Das Foto zeigt Kopf, Arm und Schulter einer jungen Frau, die eingekuschelt in ihre Bettdecke friedlich schlummert. Die Szene ist in blaues, dämmrig wirkendes Licht getaucht.
Für uns Menschen ist Schlaf Labsal: Er regeneriert den Körper, stärkt das Immunsystem, entgiftet das Gehirn und bearbeitet Erinnerungen
Das Foto zeigt vor fast weißem Hintergrund ein grünes Wesen, das eher an eine Pflanze als ein Tier erinnert. Von rechts unten nach links oben zieht sich ein langer Schlauch, von dessen Ende links sechs tentakelartige Gebilde abgehen. Weiter rechts zweigt von dem grünen Schlauch eine Art Knospe ab.
Süßwasserpolypen (Hydra) gehören zu den am einfachsten gebauten Tieren. Sie besitzen zwar Nervenzellen, aber kein Gehirn. Dennoch benötigen sie Ruhephasen – in einem Experiment etwa waren sie nach „Schlafentzug“ nur schwer mit einem Lichtimpuls zu wecken
Zu sehen ist eine graphische Darstellung mit einer blauen Kurve, die sich auf hellgelbem bis hellblauem Untergrund hinzieht. Sie zeigt den Ablauf eines Schlafzyklus vom Einschlafen, über Leichtschlafstadien zum Tiefschlaf und schließlich dem Traumschlaf. Die Grafik steht auf schwarzem Hintergrund, am Rand stehen weiße Beschriftungen (etwa zu den Stadien und zur zeitlichen Dauer).
Die Nachtruhe beginnt mit Leichtschlafstadien, die dann in eine Tiefschlaf-Phase übergehen und in einer REM- oder Traumschlaf-Phase enden. Vier bis fünf solcher Zyklen folgen hintereinander
Vor tiefschwarzem Hintergrund sind in leuchtenden Regenbogen-Farbtönen zwei groteske Gestalten zu sehen – beide mit mehreren Gesichtern, Augen, Mündern, die offenbar einander zugewandt sind und bedrohlich, geisterhaft, bizarr wirken.
Im Traum begegnen uns phantastische, groteske und häufig furchteinflößende Gestalten – wie hier in der Darstellung des Bremerhavener Künstlers Wolfgang Künker. Vermutlich sind sie Folge einer Bearbeitung von Erinnerungen und Emotionen im Schlaf