Wie im Gehirn das Gefühl für die Zeit entsteht – und uns dabei ständig täuscht

Die Zeit, wie wir sie im Gehirn wahrnehmen, läuft alles andere als gleichmäßig ab: Sie rast im Alter immer schneller und tickt im Gedächtnis anders als im Moment des Erlebens. Zeit lässt sich durch Gefühle stauchen oder dehnen, wird vom Herzschlag beeinflusst und Erinnerungen können in der Reihenfolge vertauscht werden. Die Gegenwart dauert gerade mal 3 Sekunden und letztlich ist der scheinbar kontinuierliche Fluss der Zeit nichts als eine Illusion.

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Die Grafik zeigt vor einem blauen Himmel leichte Wolken, die von der Sonne orangefarben angeleuchtet werden. Über den Himmel schweben zahlreiche Uhren, von links nach rechts immer kleiner werdend, die wirken, als würden sie rechts ins helle Licht der Sonne stürzen.

Der Fall liegt schon etliche Jahre zurück und ist doch immer wieder irritierend: Eine 75 Jahre alte Rentnerin wurde in Frankreich von einer Freundin zum Arzt gebracht, weil sie ihren Mann vermisste. Sie hatte ihn überall gesucht und vermutet, er sei mit einer Bekannten ausgegangen. Doch dann stellte sich heraus: Sie wusste genau, dass er bereits Jahre zuvor an Krebs gestorben ist. Wie konnte das angehen? Eine neurologische Untersuchung der Patientin ergab: Ihr Zeitgefühl war völlig durcheinander geraten. Sie konnte weder Datum, Wochentag noch Uhrzeit nennen und auch nicht einschätzen, wie viel Zeit zwischen zwei Ereignissen vergangen ist. Sie brachte Erinnerungen in eine wirre, unlogische Reihenfolge. Den Tod ihres Mannes beispielsweise listete sie in einem Test auf, bevor er in Rente ging. Für sie waren die älteren Erinnerungen an ihren Mann jünger als die an seinen Tod. Und deshalb glaubte sie, er müsse irgendwo sein – und suchte nach ihm.

Die Frau, die ihren Mann suchte, obwohl sie wusste, dass er tot war

Weitere Untersuchungen, so schildert die Zeitschrift „Gehirn & Geist“ den Fall, zeigten eine kleine Verletzung des Gehirns durch einen Schlaganfall. Sie betraf den sogenannten Thalamus – diese Hirnregion leitet unter anderem Informationen aus den Sinnesorganen in die Hirnrinde weiter und gilt als „Tor zum Bewusstsein“ – und schränkte dort den Blutfluss ein. Dadurch, so die Diagnose, wurde die Kommunikation zwischen zwei Hirnregionen – dem Stirnlappen und dem rechten Scheitellappen – gestört und damit das Zeitempfinden durcheinander gebracht. Als Folge konnte die Patientin die Fakten in ihrem Kopf nicht mehr in die richtige zeitliche Reihenfolge bringen. Doch die alte Dame hatte Glück: Ihr Gehirn erholte sich nach einem Monat wieder, ihr Zeitgefühl kehrte zurück – und sie wartete nicht mehr vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes.

Der sehr seltene Fall zeigt: Erinnerungen werden im Gehirn nicht einfach übereinander abgelegt wie die Blätter eines Buches. Die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen im Gedächtnis kann sich verändern. Doch nicht nur, um die Erinnerungen säuberlich in der richtigen Reihenfolge zu ordnen, ist die Zeitwahrnehmung wichtig. Sie ist auch unerlässlich, um Handlungen für die Zukunft zu planen oder sich koordiniert durch einen Raum zu bewegen. Und eine komplexe, motorisch anspruchsvolle Tätigkeit – etwa das Spielen eines Musikinstruments – wäre ohne eine präzise Zeiteinschätzung unmöglich. Menschen ohne Zeitgefühl wären in vielerlei Hinsicht hilflos.

Die Uhr tickt in der Erinnerung anders als während des Erlebens

Die Zeit abschätzen zu können, ist im Reich des Lebens eine weit verbreitete Fähigkeit. Pflanzen besitzen innere Uhren, mit denen sie etwa im Tagesrhythmus ihre Photosynthese-Aktivität anpassen, Tiere wissen dank der inneren Zeitgeber, wann es am besten ist auf Futtersuche zu gehen und auch beim Menschen sind innere Uhren bekannt, die etwa unseren Tag-Nacht-Rhythmus bestimmen. Wie solche inneren Uhren funktionieren, ist heute recht gut untersucht. Ihr Zeittakt beruht darauf, dass in Zellen periodisch Proteine auf- und abgebaut werden. Dolche solche molekularen Mechanismen wären viel zu langsam für die Zeitwahrnehmung im Gehirn. Die zeitliche Steuerung in unserem Kopf muss auf ganz andere Weise erfolgen.

Die Grafik zeigt vor blauem Hintergrund die Silhouette eines Kopfes mit einem gelb eingezeichneten Gehirn darin. Von links nach rechts durchlaufen Wellen den Kopf, die Hirnaktivitäten und die Zeit symbolisieren.
Mal rast die Zeit im Kopf, mal vergeht sie quälend langsam. Gefühle, das körperliche Befinden, Drogen und das Lebensalter können sie beeinflussen

Beim Erleben von Zeit lassen sich zwei ganz unterschiedliche Phänomene beschreiben: Das eine betrifft die Vergangenheit, indem wir auf Ereignisse zurückblicken, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind. Das andere bezieht sich auf die Gegenwart, wenn unser Bewusstsein sich im Hier und Jetzt befindet und wir vor unserem geistigen Auge sehen, wie die Momente verstreichen. Beiden Arten des Zeiterlebens ist eines gemeinsam: Im Gegensatz zu einer menschengemachten Uhr läuft das menschliche Erleben nicht mit stoischer Gleichmäßigkeit ab, sondern die „gefühlte“ Zeit kann sich ausdehnen oder verkürzen. Und das kann sogar beim Erleben und dem Erinnern desselben Ereignisses unterschiedlich geschehen.

Die gefühlte Zeit im Gehirn läuft mal schneller, mal langsamer

Starke Emotionen etwa beschleunigen die Zeitwahrnehmung. Das Date mit einem geliebten Menschen, ein beeindruckender Theaterabend oder ein erlebnisreicher Urlaub lassen die Zeit „wie im Flug“ vergehen. Doch in der Erinnerung nehmen wir solche Ereignisse dann als viel ausgedehnter wahr – weil das Gedächtnis sich zahlreiche Details gemerkt hat.

Umgekehrt ist es, wenn wir warten müssen, auf einen verspäteten Bus vielleicht oder während eines Arztbesuches: Die Zeit scheint quälend langsam zu vergehen. Doch in der Erinnerung sind solche Perioden oft viel kürzer – weil nichts passiert ist und das Gedächtnis wenig abgespeichert hat.

Im Zusammenhang mit Emotionen verwundert es nicht, dass auch der Botenstoff Dopamin – der etwa in Glücksmomenten als Belohnung freigesetzt wird – das Zeitempfinden beeinflusst. Wie ein Team von Forschenden aus Israel in einem Experiment feststellte, dehnte eine angenehme Überraschung die erlebte Zeit bei den Versuchspersonen, während eine negative Überraschung sie verkürzte.

Das Foto zeigt vor schwarzem Hintergrund drei Geigende eines Orchesters. Sie sind elegant gekleidet und von der Seite fotografiert. Kopf, Oberkörper, der rechte Arm mit dem Geigenbogen und die Geigen selbst sind groß zu sehen.
In einem Orchester Geige zu spielen, erfordert ein Höchstmaß an zeitlicher Präzision. Die Nervenimpulse für die Bewegungen der Finger muss das Gehirn losschicken, bevor das Ohr die Töne der anderen Musizierenden wahrnimmt – und das Spiel ständig mit deren Klängen synchronisieren
Das Bild zeigt in roter Farbe vor schwarzem Hintergrund die grafische Darstellung eines menschlichen Herzens und dazu horizontal durchlaufend die Rhythmuskurve – das EKG – des schlagenden Herzens.
Während sich das Herz beim Schlagen zusammenzieht scheint die Zeit im Gehirn etwas schneller zu vergehen als in den Pausen zwischen zwei Schlägen, ergab eine neue Studie
Auf dem Foto ist vor tiefschwarzem Hintergrund die Aufnahme einer Fledermaus zu sehen, die mit weit ausgebreiteten Flügeln direkt auf den Zuschauer zu fliegt.
Eine Fledermaus muss im Flug blitzschnell reagieren und benötigt dazu ein exaktes Timing im Gehirn. Der Ursprung für die innere Uhr im Kopf liegt vermutlich hunderte von Millionen Jahren zurück: In jener Epoche, als die Evolution den Körper erfand, der es den Tieren erlaubte sich gezielt im Raum zu bewegen – was ohne Zeitgefühl unmöglich ist