Der Mann als Schema F: Warum Medizinstudierende das Thema Geschlecht in ihre Lehrpläne holen wollen

Unser Geschlecht beeinflusst, wie wir krank werden. Aber erst an zwei Medizin-Fakultäten in Deutschland wird das systematisch gelehrt. Eine Initiative angehender Ärzt*innen will das ändern – einen Professor hat sie schon zum Umdenken gebracht.

vom Recherche-Kollektiv Der andere Körper:
7 Minuten
Das Foto zeigt zwei junge Frauen und zwei junge Männer. Sie alle tragen weiße Kittel. Der Mann ganz hinten schaut auf ein Mikroskop, die anderen drei schauen auf ein anatomisches Modell eines Menschen, das vor ihnen steht. Die Frau in der Mitte hält eines  seiner herausnehmbaren Organe in der Hand.

In den ersten zwei Semestern seines Medizinstudiums lernte Sebastian Paschen, wie sich die Zähne eines Menschen entwickeln, worin sich Lipide von Nukleinsäuren unterscheiden und wie man das Enzym Succinat-Dehydrogenase in der Leber einer Ratte nachweist.

Zu den Dingen, die in keiner Vorlesung und keinem Seminar auftauchten, gehörten Tatsachen wie diese: Die Geschlechtshormone eines Menschen beeinflussen sein Immunsystem. Die Forschungspraxis der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass viele Medikamente bei Frauen schlechter wirken oder stärkere Nebenwirkungen haben als bei Männern. Herzinfarkte können sich je nach Geschlecht unterschiedlich äußern, und Frauen überleben sie seltener als Männer.

Von all diesen Dingen hörte Sebastian Paschen zum ersten Mal in einem von Studierenden organisierten Onlineworkshop, so erinnert er sich heute. Und er hörte dort noch etwas: dass solche Themen an kaum einer Medizinfakultät in Deutschland systematisch gelehrt werden. »Das fand ich erschreckend, ich wollte gar nicht glauben, dass es hier in Greifswald auch so ist«, sagt Paschen, inzwischen im achten Semester. »Aber es stimmt. Man lernt alles am Beispiel des männlichen Patienten – der dient als Schema F für jede Person, die einem später einmal gegenübersitzt.«

Gendermedizin: nur an zwei Medizin-Fakultäten in Deutschland fester Teil des Lehrplans

Es ist nicht so, dass Paschen und seine Kommiliton*innen zu wenig Stoff zu lernen hätten. Der Lehrplan im Medizinstudium ist voll, in vielen Bereichen finden nur die Grundlagen Platz, der Rest soll in der Facharztausbildung gelehrt werden. Geschlechterunterschiede aber ziehen sich durch alle Bereiche der Medizin, ein Bewusstsein dafür ist somit für angehende Ärzt*innen aller Fachrichtungen relevant, das sagt nicht nur Paschen.

Im Jahr 2019 schickte ein Team um die Gendermedizinerinnen Ute Seeland und Gabriele Kaczmarczyk eine Umfrage an die Studiendekan*innen der damals noch 41 Medizinfakultäten in Deutschland. Von den 31, die antworteten, gaben fast alle an, geschlechterspezifische Inhalte seien für die berufliche Tätigkeit als Ärztin oder Arzt »wichtig« oder »eher wichtig«. Aber nur knapp 30 Prozent erklärten, in ihren Lehrplänen seien solche Inhalte in mehr als nur »einzelne« Lehrveranstaltungen integriert. Und nur an 40 Prozent der antwortenden Fakultäten konnten interessierte Studierende zumindest ein Wahlfach zum Thema belegen.