Der Vogelfragebogen: „Nach einer Beobachtung des wunderschönen Eichelhähers war's um mich geschehen“

Heute mit David Marques, Kurator Wirbeltiere am Naturhistorischen Museum Basel

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
6 Minuten
Ein Eichelhäher sitzt auf einem Ast.

Er ist Herr über das grösste Vogelreich der Schweiz. Über 35.000 Exemplare von mehr als 4400 Arten zählt es. Und seit letztem Jahr steht es in der Obhut von David Marques. Der Evolutionsbiologe ist Kurator am Naturhistorischen Museum Basel, zu dem die umfangreichste Vogelsammlung der Schweiz gehört.

Marques ist aber nicht nur für die Vogelpräparate zuständig, sondern für alle Wirbeltiere, also noch für 10.000 Säuger, 32.000 Reptilien und Amphibien sowie für über 6500 in Alkohol aufbewahrte Fische.

Ornithologisches Gewissen der Schweiz

So breit wie die Basler Sammlung ist auch die Expertise von Marques. Seine Doktorarbeit schrieb er über die Populationsgenomik eines Fischs (den Dreistachligen Stichling) und seine Masterarbeit über ein Gehirngrössen-Gen in Orang-Utans.

Zudem ist Marques ein ausgezeichneter und weitgereister Ornithologe. Sein Wissen gibt er nicht nur Nachwuchs-Birdern weiter. Er war auch Mitglied der Schweizerischen Avifaunistischen Kommission, dem ornithologischen Gewissen der Schweiz: Meldet jemand eine aussergewöhnliche Vogelbeobachtung, also etwa den Einflug eines sehr seltenen Irrgastes, wird diese von den Kommissionsmitgliedern auf Plausibilität geprüft. Sie achten zudem darauf, dass die Beobachtung ordentlich dokumentiert wird, damit sie die Forschung verwenden kann.

Gründe genug, um David Marques zu bitten, den Vogelfragebogen der „Flugbegleiter“ auszufüllen.

Porträt von David Marques.
David Marques betreut seit letztem Jahr die Wirbeltier-Sammlung des Naturhistorischen Museums Basel.

1. Wie haben Sie den Zugang zur Vogelwelt gefunden?

In der Primarschule habe ich von Buchfink und Eichelhäher erfahren. Ersteren habe ich kurz darauf im Wald wiedererkannt. Nach einer nahen Beobachtung des wunderschönen Eichelhähers auf dem Schulweg war’s dann um mich geschehen.

2. Was bedeutet Ihnen Vogelbeobachten im Alltag – und was hält Sie vom Beobachten ab?

Als Kurator im Naturhistorischen Museum Basel begegne ich im Alltag wenigen lebenden Vögeln, dafür darf ich mich täglich an deren Vielfalt in unserer Sammlung erfreuen. Auf dem Weg zur Kita mit meinem Sohn oder zur Arbeit schaffen es aber unerwartete, meist akustische Zufallsbeobachtung immer wieder, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

3. Teilen Sie ein besonders schönes Beobachtungserlebnis mit uns?

Das letztes Mal, als ich vor Staunen den Mund kaum schliessen konnte, schraubte sich ein adulter Bartgeier etwa zwanzig Meter vor mir, von unten kommend, gemächlich in die Höhe. Das Schöne am Vogelbeobachten: Solch überwältigende Momente gibt es immer wieder.

4. Bei welchen Vögeln tun Sie sich bei der Bestimmung schwer?

Teich- und Sumpfrohrsänger im Herbst – ich schwanke jeweils zwischen „Unmöglich, die zu bestimmen!“ und „Zeit, den Kollegen zu fragen, der’s kann“.

Der Sumpfrohrsänger – der Maestro unter den Vögeln

5. Welchen Gesang hören Sie am liebsten?

Den des Sumpfrohrsängers – der Maestro unter den Vögeln, König der Imitatoren mit einem Repertoire von über 70 Arten, die ein durchschnittliches Männchen zu imitieren vermag. Je mehr Gesänge man kennenlernt, desto spannender wird es, dem Sumpfrohrsänger zuzuhören.

6. Gibt es eine Vogelart, die Sie nicht ausstehen können?

Nein.

7. Wenn Sie sich CO2-frei an einen beliebigen Ort der Erde zum Vogelbeobachten beamen könnten, wohin?

Zurück nach Neuguinea – der heilige Gral der Ornithologie. Nicht nur, um Paradiesvögel bei der Balz beobachten zu können, sondern weil die gesamte Avifauna dort spektakulär ist.

8. Was machen Sie mit Ihren Beobachtungen?

Ich melde diese auf Ornitho in Mitteleuropa und auf eBird anderswo – wenn vorhanden mit Tonaufnahme und Foto – damit meine Beobachtungen möglichst vielen anderen Beobachtenden, dem Naturschutz und der Wissenschaft zu Gute kommen.

9. Wenn Sie sich in einen Vogel verwandeln dürften, welcher wäre das?

Ein Kolkrabe – der ist schlau und sozial, recht weit oben in der Nahrungskette und hat vermutlich Spass im Leben, wie man vielleicht aus dem sporadischen Auf-dem-Rücken-Fliegen schliessen könnte.

10. Wenn Vögel unsere Sprache verstehen könnten, was würden Sie ihnen gerne sagen?

Dass sie vor mir als Beobachter keine Angst haben müssen und sich auch mal etwas näher beobachten lassen dürften. Und: Sorry für all die Umweltzerstörung durch meine Art.

Verschiedene Papageien aus der Sammlung des Naturhistorischen Museums Basel.
Die Vogelsammlung des Naturhistorischen Museums Basel umfasst über 35.000 Exemplare von rund 4400 Arten.

11. Wenn Sie sich einen Begleiter zum Vogelbeobachten aussuchen dürften, wer wäre das?

Da kämen viele meiner bisherigen Mitbeobachtenden und Reisebegleitenden in Frage.

12. Wer ist Ihr Held, Ihre Heldin in Biologie und Naturschutz?

Persönlichkeiten sind immer komplex und widersprüchlich, so dass ich mich nicht auf‘s Glatteis wagen möchte. Aber natürlich gibt es viele Menschen, die auch mich sehr geprägt haben und immer noch prägen, für deren Schaffen in Wissenschaft oder Naturschutz ich enorm dankbar bin und einen immensen Respekt habe.

13. Auf welche ornithologische Frage hätten Sie gerne eine Antwort?

Welche Faktoren sind wichtig bei der Entstehung einer neuen Vogelart und weshalb entstehen in gewissen Familien viel schneller neue Arten als in anderen? Ich hoffe, mit meiner Forschung Antworten auf diese Fragen zu finden.

14. Was tun Sie persönlich zum Schutz der Vogelwelt?

Leute mit meiner Begeisterung für die Vogelwelt und die Natur anstecken, indem ich mein Wissen in Kursen oder im Museum weitergebe.

15. Wie macht Umwelt- und Naturschutz Ihnen am meisten Freude?

Wenn ich sehe, wie sich ehemalige Kursteilnehmende und Jugendliche aus Naturschutzgruppen mit Herzblut für den Naturschutz engagieren. Wenn der Funke übergesprungen ist und ich die Leidenschaft und das Engagement um mich herum spüre, sich für den Naturschutz stark zu machen.

Alle heute jagdbaren Arten, welche auf der Roten Liste oder der Vorwarnliste stehen und somit in ihrem Fortbestand bedroht sind, unter Schutz stellen.

16. Was ist Ihre grösste Umweltsünde? Unter welchen Umständen würden Sie darauf verzichten?

Flugreisen in ferne Weltgegenden. Ein klassischer Trade-off zwischen meiner Passion für die Diversität der Vögel, deren Schutz durch Ökotourismus, und dem unnötigen Ausstoss von Treibhausgasen. Die Pandemie und meine junge Familie helfen beim momentanen Verzicht darauf. Längerfristig hoffe ich aber auf klimaneutrale Treibstoffe in einer nicht allzu fernen Zukunft, um diesen Konflikt zu lösen.

17. Wenn Sie für einen Tag in der Schweizer Regierung sässen und eine Massnahme zum Schutz der Vogelwelt umsetzen könnten, was wäre das?

Alle heute jagdbaren Arten, welche auf der Roten Liste oder der Vorwarnliste stehen und somit in ihrem Fortbestand bedroht sind, unter Schutz stellen. Ist ja eigentlich völlig logisch, in der Schweiz aber noch nicht der Fall bei Waldschnepfe, Alpenschneehuhn und weitere Arten.

18. Was beunruhigt Sie für die Zukunft der Artenvielfalt am meisten?

Das rasende Tempo, in welchem auch noch die wenigen, letzten Primärlebensräume der Erde verschwinden, zum Beispiel die letzten alten Küstenregenwälder Kanadas oder die Regenwälder des Amazonas oder Indonesiens – und wie klein, wenn es sie überhaupt geben sollte, die übrigbleibenden Reste davon sein werden.

19. Woher nehmen Sie Hoffnung für die Zukunft der Vogelwelt?

Von der wachsenden Zahl an Menschen, die sich für die Natur und für Vögel interessieren und sich für sie und ihre Lebensräume einsetzen. Das wachsende Bedürfnis vieler Menschen, die Natur besser kennenzulernen, ist vielleicht die positive Kehrseite eines vermehrt urbanen Lebens und der Entfernung von einer naturnahen Umgebung.

20. Wenn Sie sich von der Evolution eine neue Vogelart wünschen dürften, wie würde sie heissen?

Zum Glück produziert die Evolution laufend neue Vogelarten, wenn auch meist viel, viel langsamer, als dass ich diese Frage jetzt gleich beantworten müsste. Da lasse ich mir lieber etwas mehr Zeit, um mir einen originellen Namen inklusive Wortwitz einfallen zu lassen…

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