Hauptsache steil: Auf der Suche nach dem Mauerläufer

Die prächtigen Mauerläufer leben verborgen im Hochgebirge. Doch im Winter ziehen sie in die Niederungen. Einzelne von ihnen sind dann auch in Siedlungen anzutreffen – theoretisch.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
11 Minuten
Ein Mauerläufer zeit an einer Felswand sitzend seine rot-schwarz-weissen Flügel.

Die absurde Seite des Vogelbeobachtens wird mir bewusst, als ich die Bahn verlasse. Etwas mehr als eine Stunde bin ich in eine Stadt gefahren, um einen etwa 16 Zentimeter grossen und rund 18 Gramm schweren Vogel zu finden. Die Stadt erstreckt sich auf immerhin 15 Quadratkilometer und zählt 16.000 Einwohner. Zudem hängt gerade eine dunkelgraue Hochnebeldecke über dem Land. Obwohl es erst Mittag ist, habe ich den Eindruck, dass bald die Dämmerung anbricht. Kalt ist es auch: die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt – nicht eben die besten Bedingungen für die Vogelbeobachtung.

Immerhin weiss ich, wo ich nach dem Vogel suchen muss. Vögel sind allerdings äusserst bewegliche Lebewesen. Sie können immer hier und anderswo sein. Und selbst wenn sie dort sind, wo man sie erwartet, bedeutet dies noch lange nicht, dass man sie auch sieht.

Ein perfekter Kletterer

Je stärker der Vogel auf einen bestimmten Lebensraum angewiesen ist, desto leichter fällt die Suche. Zumindest in der Theorie. Der Mauerläufer, den ich finden möchte, gehört zu diesen spezialisierten Vogelarten. Er hält sich am liebsten an Felswänden auf. Steil müssen sie sein. Dank seiner langen und spitzen Krallen erklimmt er problemlos senkrechte und sogar überhängende Felsen. An diesen geht der Mauerläufer auf die Jagd und stochert mit seinem feinen und gebogenen Schnabel in Ritzen und Spalten nach Insekten und Spinnen.

1000 bis 2500 Mauerläufer-Brutpaare leben in der Schweiz. Das entspricht 1,4 bis 3,5 Prozent des europäischen Bestandes; ziemlich viel für so ein kleines Land wie die Schweiz. Die grosse Mehrheit der Mauerläufer hält sich hier in einer Höhe zwischen 1600 und 2800 Metern auf, weshalb vor allem Bergsteiger und Freestyle-Kletterinnen zu den Glücklichen gehören, die den Mauerläufer zu Gesicht bekommen. Nicht-kletterfreudige „Unterländer“ und Städter wie ich warten am besten auf den Winter.

Denn ab dem Herbst, wenn die Nahrung in den hohen Bergen knapp wird, weichen Mauerläufer in die Niederungen aus. Die Mauerläufer gehören zu den Teilziehern unter den Zugvögeln. Nicht alle verlassen ihr Brutgebiet im Winter, aber ausreichend viele um sie dann ausserhalb ihres hochgebirgigen Stammgebietes zu sehen. Ab Oktober tauchen sie gar in Siedlungen auf und tauschen das Gebirge gegen Gemäuer ein.

Ein Turm des Schloss Burgdorf wird von einem grossen Berner Wappen geziert.
Im Winterhalbjahr ziehen die Mauerläufer in die Niederungen und halten sich immer wieder an historischen Gebäuden auf wie hier am Schloss Burgdorf in der Schweiz.
Ein Mauerläufer klettert eine steile Felswand hoch.
Wenn der Mauerläufer seine Flügel geschlossen hält, ist er in seinem grauen Kleid gut getarnt.
Die nördliche Seite des Schlosses von Burgdorf wird von einem Schlossgraben begrenzt.
Der kleine Vogel könnte überall und nirgends sein: Wenn er still sitzt, ist er in seinem grauen Gefieder kaum zu erkennen.
Die Felsabstürze bei Burgdorf sind rund 60 Meter hoch und von einem alten Wald umgeben.
Die Gysnauflühe bei Burdorf: ein ideales Winterquartier für den Mauerläufer.
Eine Wasseramsel steht auf einem Stein mitten in einem Gewässer.
Auch eisiges Wasser macht der Wasseramsel nichts aus. Mit ihrer rauen Stimme macht sie auf sich aufmerksam.
Das Städtchen Saint-Ursanne liegt am Doubs im Kanton Jura (Schweiz).
Saint-Ursanne, im Westen der Schweiz und nahe der französischen Grenze gelegen, ist bekannt als beliebter Aufenthaltsort des Mauerläufers.
Ein Mauerläufer fliegt einer Felswand entlang.
Im Flug erinnert der Mauerläufer wegen seiner runden Flügel an den Wiedehopf – wenn da nicht dieses Rubinrot wäre.
Ein graues, unverputztes Backsteingebäude beim Bahnhof in Saint-Ursanne, an dem immer wieder der Mauerläufer zu beobachten ist.
Viel schmuckloser als dieses Gebäude geht es nicht mehr, doch das stört den Mauerläufer in Saint-Ursanne nicht. Wie ein Gecko klettert er die Fassade hoch.