1950er Jahre: Kunst aus dem Geist der Mathematik

Treibende Kraft der Avantgarde – Waldemar Cordeiro entwickelte erste Verfahren der Medienkunst in Lateinamerika

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Ein Mann kniet am Boden. Vor ihm sind Publikationen zu seiner Computergrafik ausgebreitet.

Schwerpunkt Militärdiktatur in Brasilien: Während der Film Für immer hier und der Roman Die Liebe vereinzelter Männer von Victor Heringer zeigen, wie das Regime über zwei Jahrzehnte die Gesellschaft lähmte, trieben Netzwerker wie Waldemar Cordeiro eine ideologiefreie Kunst voran.

Waldemar Cordeiro war kein Künstler, der von morgens bis abends im Atelier stand und malte. Er erfand sich immer wieder neu und war als Verfechter der Konkreten Kunst und Pionier der Medienkunst immens einflussreich. Das zeigt eine Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe, die überraschenderweise auch von vielfältigen Verbindungen brasilianischer Künstlerin:innen in den Südwesten Deutschlands und andere Teile Europas berichtet. Wie es dazu kam, erzählen Briefe, Fotografien und Publikationen im neu eingerichteten Projektraum der neuen ZKM-Sammlungsausstellung.

Wer sich über die Vitrinen mit den Drucksachen aus den 1950er bis 1970er Jahren beugt, beginnt zu verstehen, wie wichtig der internationale Austausch war. Damals trafen die Anhänger:innen der Konkreten Kunst aus Brasilien, Deutschland, Jugoslawien und anderen Ländern auf Festivals zusammen. Die auf rationalen Prinzipien basierende, auf Rhythmus, Kontraste und gezielte Störungen dieser Ordnung setzende abstrakte Kunst schien bestens geeignet für einen universalen kulturellen Neustart nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kunst sollte weder persönliche Empfindungen spiegeln noch sich in akademischer Schönmalerei erschöpfen oder einer politischen Weltanschauung dienen.

Den Begriff Konkrete Kunst prägte der niederländische Maler und Architekt Theo van Doesburg (1883–1931) bereits im Jahr 1924. Mit seinen Ideen einer auf elementare Elemente reduzierten Gestaltung war er allerdings nicht allein. Bereits im Schwange waren seit einigen Jahren die Ideen des Russischen Konstruktivisten, die in den Grundfarben Gelb, Blau und Rot die Gebäude der Zukunft entwarfen, in Formen ohne Ornament bestehend aus Kuben und Kreisen.

Die Künstler:innen der 1950er Jahre knüpften an diese frühe Phase der geometrischen Abstraktion an, zeigten sich aber gegenüber Ideen aus Wissenschaft und Gesellschaft ihrer Gegenwart offen. „Ein Grund für die große Wirksamkeit von Cordeiro war, dass er in seiner Rolle als Kunsttheoretiker viel geschrieben hat und sehr streitbar war. Er suchte die öffentliche Auseinandersetzung und war ein begeisterter Leser. Alles, was an neuen Theorien aufkam, hat er verschlungen, Umberto Eco, Informationstheorie, Kybernetik“, sagt Margit Rosen, Leiterin der Abteilung Wissen am ZKM.

Schwarzweißaufnahme eines weitläufigen Terrains mit einem Spielplatz aus geometrischen Formen.
Waldemar Cordeiro studierte unter anderem in Brasilien Architektur und arbeitete als Landschaftsarchitekt: 1966 wurde der Spielplatz Clube Esperia in São Paulo eröffnet.

Waldemar Cordeiro wurde 1925 in Rom als Sohn einer Italienerin und eines Brasilianers geboren. Er absolvierte eine eher klassische Malerei-Ausbildung an der Akademie, war aber nach Ende der Mussolini-Ära offen für die Experimente der Avantgarde. 1948 siedelte er nach Brasilien über und arbeitete als Kunstkritiker. Eine gute Idee, denn mit der ersten Biennale von São Paulo 1951 zog das lateinamerikanische Land die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstszene auf sich.

Das Manifest Ruptura forderte eine mathematische Kunst

Ein Bindeglied waren die Ideen der Konkreten Kunst, die über die Grenzen hinweg Gültigkeit erlangten. 1952 trat Cordeiro als Mitglied der Gruppe Ruptura (Bruch) und federführender Verfasser des gleichnamigen Manifests hervor. „Darin forderten die Unterzeichner eine Hinwendung zu einer mathematischen Kunst. Es war ein Diskurs, der bereits von Vertreter:innen der Konkreten Poesie, der Gruppe Noigandres in Rio de Janeiro geführt wurde“, sagt Philipp Ziegler, leitender Kurator am ZKM.

Der Gründer der Gruppe Ruptura war Geraldo de Barros, ein Pionier der abstrakten Fotografie in São Paulo, der schon vor Cordeiro Kontakte zu Frankreich und der Schweiz unterhielt. Er traf unter anderem den Grafikdesigner Otl Aicher in Ulm, der mit dem Bildhauer Max Bill 1953 die Hochschule für Gestaltung gegründet hatte. Aicher und Bill knüpften an die Ideale des legendären Bauhauses der 1920er Jahre an. Angeregt von seinem Besuch in Ulm gründete Geraldo de Barros 1954 in São Paulo die Unilabor Community. Das war eine Kooperative für einfache, funktional gestaltete Möbel, die den Niedergang der Wirtschaft während der Militärdiktatur seit 1964 aber nicht überlebte.

Waldemar Cordeiro war also nicht der Einzige, der Verbindungen nach Europa unterhielt. Doch entdeckte er als erster in Lateinamerika den Computer als Werkzeug der Kunst für sich. „Wir haben nach Verbindungen von Cordeiro zu Personen im Archiv gesucht und einige Geschichten herausarbeiten können, die seine Rolle im Kontext der frühen Computerkunstszene zeigen“, erklärt Archivar Felix Mittelberger. Er nennt sie „Netzwerk-Aufspannungen von Begegnungen und Gesprächen“. Die ausgestellten Dokumente belegen, wie es zu den Begegnungen zwischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen kam.

Cordeiro traf den Philosophen Max Bense

In einer der Vitrinen liegt ein Buch mit dem Titel Brasilianische Intelligenz. Es handelt sich um einen philosophischen Reisebericht von Max Bense und Elisabeth Walther. Die beiden Stuttgarter Intellektuellen, in deren Werk sich Physik und Mathematik mit Aspekten der Philosophie und Sprachwissenschaft vereinten, arbeiteten seit den 1950er Jahren zusammen. Vermittelt über den Lyriker Eugen Gomringer nahmen sie Kontakt mit der einflussreichen Gruppe Noigandres in Brasilien auf, die sich der Konkreten Poesie verschrieben hatte. Ein Foto aus dem ZKM-Archiv von Elisabeth Walther-Bense belegt das Treffen. Auch Künstler:innen späterer Generationen wie Lenora de Barros beziehen sich auf die Dichtergruppe.

Nur wenige Künstler und Künstlerinnen hätten den Übergang von der Konkreten Kunst zur Computerkunst in ihrem Werk vollzogen, sagt Philipp Ziegler. Cordeiro gehöre dazu. An der Universität von São Paulo entwickelte er in den späten 1960er Jahren gemeinsam mit dem Physiker Giorgio Moscati an großen Computern seine Form der Computergrafik. Eine dieser Computerzeichnungen heißt A mulher que não é B.B. [Die Frau, die nicht B.B. ist]. Sie entstand 1971 und lässt aus einem Netz programmierter Zeichen das Antlitz einer indigenen Frau aufscheinen.

Hochformatige Computergrafik. Aus einzelnen Zeichen ergibt sich das Bildnis einer indigenen Frau.
Kunst aus dem Drucker: 1971 programmierte Waldemar Cordeiro die Grafik „A mulher que não é B.B. [Die Frau, die nicht B.B. ist]“.

Sein Besuch des Festivals Tendencies 4. Computers and Visual Research 1969 in Zagreb sei der Moment gewesen, so Ziegler, bei dem er auf die Community getroffen sei und sich mit ihr vernetzt habe. Cordeiro prägte den Begriff Arteônica und organisierte 1971 eine Ausstellung gleichen Namens. Sie sollte die Chancen der „kreativen Nutzung elektronischer Medien in der Kunst“ aufzeigen und war ungemein erfolgreich. Die ZKM-Schau zeigt, dass die Geschichte der Medienkunst vielfach verzweigt ist. Ein Weg führte über die Verfahren der Konkreten Kunst. Einzelne Personen agierten wie Drehkreuze der Kunstszene. Waldemar Cordeiro war eine davon.

Waldemar Cordeiro. Konstellationen, Von Konkreter Kunst zur Computerkunst, ZKM Karlsruhe, bis 06.07.2025

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