50 starke Frauen, 50 Perspektiven auf das Deutschland der Zukunft
Was wir während der Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock von #50Annalenas für den Dialogjournalismus gelernt haben
Es ist Juni 2021. Annalena Baerbock könnte die erste “grüne” Kanzlerin werden. Das sagen Meinungsforscher:innen. Sie könnte Regierungschefin eines Landes werden, in dem die Vorgänger bisher Konrad, Ludwig, Kurt Georg, Willy, Helmut, Helmut, Gerhard und Angela heißen. Grundsolide, aber irgendwie auch bieder.
Aus Angela-Land könnte – so scheint es – die Annalena-Republik werden. Bei ihrer Nominierung ruft die Grünen-Chefin in den Saal: „So beginnt heute ein neues Kapitel für unsere Partei. Und wenn wir es gut machen, auch für unser Land.“ Der Sender Pro7 interviewt die Spitzenkandidatin zur Primetime. Bild am Sonntag meldet, 30 Prozent der Deutschen würden Baerbock direkt zur Kanzlerin wählen. Mit Annalena Baerbock führt auf einmal eine junge Mutter, die den Klimawandel bekämpfen will, die Umfragen. Das ist neu. Und unerwartet.
Diese Stimmung, das Momentum der Veränderung, wollten wir einfangen. Und suchten dafür nach einer ungewöhnlichen Community.
Währenddessen starten andere Redaktionen erste Dialogprojekte zur Bundestagswahl. Der Spiegel befragt für seine “Republik 21” B- und C-Promis, die Zeit bringt “Die 49” in einen Dialog, eine repräsentative Gruppe als möglichst genaues Mini-Deutschland.
Von Ostfriesland bis Oberbayern
Wir wollten etwas anderes. Wir wollten 50 Perspektiven auf die mögliche Annalena-Republik. Und haben dafür 50 Frauen gesucht, die Annalena, Anna-Lena oder Anna Lena heißen. Gefunden haben wir sie in sozialen Netzen, über Freunde, um drei Ecken. In Ostfriesland und Oberbayern. Am Ende besteht unsere Community aus 50 Frauen, die zwischen 20 und 58 Jahren alt und keineswegs immer einer Meinung sind.
Drei Monate lang haben wir #50Annalenas befragt, nicht nur zu Wahlkampfthemen, sondern auch zu ihren persönlichen Erfahrungen. Wir wollten wissen, was sie denken und was sich aus ihrer Sicht in unserem Land verändern muss. Das Gespräch haben wir über 100eyes geführt, unsere Dialogtechnologie, die wir seit 2020 entwickeln. 100eyes verknüpft verschiedene Messenger-Apps und Maildienste zu einer starken Dialogzentrale.
Vertrauensvolles Gespräch mit vielen Menschen
Der Clou: 100eyes ist ein Gespräch mit vielen, ohne ein Gruppenchat zu sein. Denn nur wir konnten lesen und hören, was jede Annalena uns schreibt oder sagt. Die anderen Community-Teilnehmerinnen haben nicht mitgelesen und -gehört. So wurde niemand von den Antworten der anderen abgelenkt oder beeinflusst, und jede konnte sich frei und ungezwungen äußern. Diese Art Dialog hat es uns ermöglicht, tief in Themen einzutauchen.
Wir haben hier im Riff immer wieder aus unserer Community berichtet, haben einen neuen Podcast mit #50Annalenas kreiert und sind auf Instagram und Twitter auch über die Community hinaus mit Menschen in Kontakt gekommen. Es war ein Experiment.
Dieses vertrauensvolle Gespräch mit vielen Menschen gleichzeitig nennen wir Dialogjournalismus. Er basiert auf echten Begegnungen, auch digital. Er hilft uns, andere besser zu verstehen und eigene Filterblasen aufzustechen. Und er funktioniert nur, wenn zwischen uns Journalist:innen und unserer Dialog-Community ein vertrauensvolles Verhältnis herrscht. Das herzustellen und aufrechtzuerhalten, war unser wichtigstes Ziel. Im Gegenzug haben uns die #50Annalenas auf neue Ideen gebracht, uns berührt, erheitert, mal verwirrt und inspiriert.
Wir haben gelernt:
1. Schubladen ausräumen
50 Annalenas sind Frauen. Aber das heißt nicht, dass sie uns die Frauensicht auf die Welt erklären. Sie sprechen nicht als Vertreterinnen eines Geschlechts, sie sprechen nur für sich selbst. Und jede einzelne persönliche Stimme ist es wert, gehört zu werden.
2. Persönlich werden
Über Wochen haben wir eine persönliche Bindung zu den #50Annalenas aufgebaut. Anders als in Interviews haben wir nicht nur Fragen gestellt, sondern auch von uns erzählt. Und uns dabei immer wieder kritisch gefragt, wie viel Nähe sich mit journalistischer Sorgfalt verträgt.
3. Einfach bleiben
Einfache, klare Fragen sind die besten. Abstrakte Fragen sind Gesprächskiller. “Ist der Verkehr in Deutschland frauenfeindlich?” funktioniert nicht als Frage. Aber: “Mit welchen Verkehrsmitteln bewegst du dich heute fort?” gefolgt von “Fühlst du dich im Verkehr benachteiligt?” klappt.
4. Kontroverse suchen
Auch wenn #50Annalenas denselben Vornamen tragen, sind sie nicht immer einer Meinung. Es gab zum Teil sogar große Meinungsunterschiede. Einer der größeren Streitpunkte war: das Auto. Und ob es zum Verkehr der Zukunft dazu gehört oder nicht.
Wir sagen den 50 Frauen, die uns ihr Vertrauen und ihre Zeit geschenkt haben, noch einmal von Herzen Dankeschön. Die #50Annalenas sind hier zu Ende. Der Dialogjournalismus ist es nicht. Im Gegenteil, er fängt gerade erst an, spannend zu werden.
Unsere Podcast-Abschiedsfolge heißt „Abschied – wie geht’s weiter mit der Annalena-Republik?“
Unsere weiteren Episoden findet ihr bei Spotify, Apple Music oder der Podcast-Plattform (podcast.de, Soundcloud, Deezer) eurer Wahl.
Wen sollen wir in unsere nächste Dialog-Community einladen? Welches Thema sollten wir mit dem Wissen der Crowd unter die Lupe nehmen? Schreib uns doch deine Vorschläge an kontakt@tactile.news