Polens Justiz ist auch unsere Justiz

Erdogan, Böhmermann, Kaczynski und andere Verfassungsnews der Woche von Max Steinbeis

von Maximilian Steinbeis
5 Minuten
Hochhäuser in Warschau im Gegenlicht bei tiefstehender Sonne.

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Recep Tayyip Erdoğan, der türkische Präsident, ist bekanntlich immer noch sehr zornig über Jan Böhmermanns berüchtigtes „Schmähgedicht“. Das hat zwar das Landgericht Hamburg im Februar zu großen Teilen verboten, aber das geht ihm nicht weit genug: alle Teile des Textes sollen verboten sein, und diesen Anspruch verfolgt er jetzt in der Berufungsinstanz weiter. Die Hamburger Presserichter sind nicht für ihren Humor bekannt, aber wer weiß, wie sie am Ende urteilen – und ganz zum Schluss gibt es ja immer noch das Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls sind das alles unabhängige Richter_innen, denen niemand unterstellt, dass sie auf Erdoğans oder sonst irgendwessen Kommando hören.

Müsste sich Böhmermann vor türkischen Gerichten verantworten, dann könnte er sich da wohl nicht (mehr) so sicher sein. Solange das so ist, sind wir doch froh, dass die Türkei kein EU-Mitgliedsstaat ist. Denn wäre sie einer, dann wäre nach europäischem Zivilprozessrecht für Erdoğans Klagen auf Unterlassung – und womöglich dann auch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld und whatnot – die Justiz des Landes zuständig, in dem Erdoğans „Mittelpunkt seines Interesses“ liegt. Also die der Türkei. Und was das Gericht in Ankara entscheidet, wäre in Deutschland prinzipiell erst einmal anzuerkennen und zu vollstrecken. Womöglich hätte Erdoğan dem Spaßmacher dann auch seine Staatsanwälte auf den Leib gehetzt; in der Türkei geht man ja im Augenblick für viel, viel weniger ins Gefängnis. Das Instrument des EU-Haftbefehls sähe dann vor, dass Deutschland ihn ausliefert.

Die Türkei ist kein EU-Mitglied. Polen aber schon. Vielleicht hat Böhmermann irgendwann ja mal Lust, sein satirisches Talent an Jarosław Kaczyński zu erproben? Sollte er sich gut überlegen.

Kaczyńskis Regierungspartei PiS hat in dieser Woche einen Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass alle Richter_innen des Obersten Gerichtshofs ab Inkrafttreten in den Ruhestand geschickt werden, ausgenommen diejenigen, die Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro für die weitere Amtsausübung für geeignet hält. Ein weiteres Gesetz hat das Parlament bereits passiert, das der Regierungsmehrheit die Kontrolle über den Nationalen Justizrat verschafft, wo über die Karrieren der Richter_innen im Lande entschieden wird. Das Verfassungsgericht ist bereits fest in der Hand der PiS. Wenn das alles so kommt bzw. stehen bleibt, dann wird man womöglich schon bald sagen können: In Polen wird man in der Justiz nur noch dann etwas, wenn man in der Tat auf Kaczyńskis Kommando hört.

Worauf ich hinauswill: Unabhängigkeit der Justiz klingt erst einmal technisch, unsexy, nach Juristenkram – nichts, was einen als ganz normale Bürger_in so unmittelbar interessieren müsste wie, sagen wir mal, Meinungsfreiheit oder Diskriminierung. Dass das eine fatale Täuschung ist, ist fast schon trivial: Man muss nicht lange nachdenken, um zu der Einsicht zu gelangen, dass einem die schönste Meinungsfreiheit und das schönste Gleichheitsgebot nichts hilft, wenn keine unabhängigen Gerichte einem diese Rechte durchsetzen. Nicht ganz so trivial ist es, die zu überzeugen, die finden, dass die armen Pol_innen zwar sehr zu bedauern sind, wenn sie jetzt ihrer unabhängigen Justiz verlustig gehen, aber das doch am Ende deren Problem sei und nicht unseres.

Dass sie unrecht haben, zeigt das Gedankenexperiment mit Böhmermann. Wenn in Polen die Justiz vor die Hunde geht, dann wirkt sich das in Deutschland auf die freie Meinungsäußerung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen aus. So ist das im vereinten Europa.

Deshalb hätten die EU-Institutionen eigentlich auch keinerlei Anlass zur Schüchternheit, wenn es darum geht, Polen an seine Pflichten aus Art. 2 EUV zu erinnern. Dass Polen ein Rechtsstaat bleiben muss, ist nicht nur ein Gebot einer flauschigen gemeinsamen Wertebasis nach dem Motto: sonst passt ihr irgendwie kulturell nicht mehr zu uns, sondern eine knallharte Funktionsbedingung europäischer Integration insgesamt. Das ist absolut unverzichtbar. Die EU ist kein völkerrechtliches Vertragswerk, das Staaten aller demokratischer Couleur zum eigenen Vorteil miteinander abschließen, sondern eine Rechtsgemeinschaft. Wenn das Rechtssystem in einem Mitgliedsstaat kaputt geht, dann geht das Rechtssystem in der ganzen EU kaputt, und das nicht zuzulassen, das ist die EU-Kommission mir und Ihnen und uns allen schuldig. Das ist ihr Job.

Im Namen der Republik

Die fünf ehemaligen Präsidenten des polnischen Verfassungsgerichtshofs haben zur Unterwerfung der Justiz in ihrem Land durch die Regierung eine Protestnote verfasst, deren englische Version wir hier veröffentlicht haben – eine Reform, die in den Augen von fünf der angesehensten Juristen des Landes (und wohl vieler anderer auch) „die Position der Republik als Rechtsstaat dauerhaft zerstören“ könnte. Die Details der verabschiedeten und vorgeschlagenen Reformen erklärt MAGDALENA OKONSKA. Zu den Hintergründen dieses Vorgangs erwarten wir in den nächsten Tagen einen Bericht von MARCIN MATCZAK.

In Deutschland war der Höhepunkt der Woche das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz. Was dieses komplexe Stück Rechtsprechung alles für interessante Aspekte enthält, arbeiten FLORIAN RÖDL und ANDREAS LEIBINGER in einer gründlichen Urteilsbesprechung heraus.

Die Debatte um die Ehe für alle hat auch in dieser Woche nicht an Schwung verloren: MATHIAS HONG schiebt, wie zuvor Uwe Volkmann, seiner Intervention aus der Vorwoche einen vertiefenden und erläuternden Beitrag hinterher, der auf Einwände seiner Kritiker antwortet. Was das Bundesverfassungsgericht bei seiner allfälligen Überprüfung dieses Vorgangs in der Rechtsprechung anderer Verfassungsgerichte, vor allem des spanischen, für Inspirationen finden könnte, erläutert DANIEL TODA CASTÁN.

In Russland scheint für gleichgeschlechtliche Paare die Ehe unendlich weit entfernt – stattdessen ist dort „Propaganda“ für Homosexualität gesetzlich verboten. Das jüngste Urteil des Straßburger Menschenrechts-Gerichtshofs dazu analysiert SERGEJ PROKOPKIN und weist auf ein weiteres anhängiges Verfahren in Straßburg hin – gegen die Verweigerung der Ehe für alle. Bis es zum Urteil kommt, wird es wohl noch dauern. Aber immerhin.

Um das Recht, mit seiner Familie zusammenzuleben, geht es auch in den jüngsten Vereinbarungen zwischen Griechenland und Deutschland zum Schutz von Flüchtlingen. Wer in Griechenland anlandet, aber Familienmitglieder in Deutschland hat, bekommt nach dem Dublin-III-Abkommen vielfach sein Asylverfahren in Deutschland, und das soll diese Vereinbarung erschweren. Wie, und ob das rechtmäßig ist, ergründet VINZENT VOGT.

Beim G20-Gipfel in Hamburg mussten 32 Journalist_innen feststellen, dass ihnen die Akkreditierung entzogen worden war – wegen angeblicher und nicht näher beschriebener „Sicherheitsbedenken“. Noch weiß keiner genau, was da los war, und wir werden es vielleicht nie erfahren. Wohl aber erfahren wir von EIKE MICHAEL FRENZEL, wie problematisch der „leistungsverwaltungsrechtliche Schleier über der Presseberichterstattung über staatlich organisierte Großereignisse“ ist.

Die Kolumne des Glossators FABIAN STEINHAUER musste diese Woche leider ausfallen. Montag dann wieder, hoffentlich.

Anderswo

VALÉRIE VON SUHR und DANA VALENTINER befördern ebenfalls die Debatte um die Ehe für alle weiter (eine argumentative Übersicht über den Streitstand findet sich hier).

CHRISTIAN ERNST ruft als Konsequenz aus dem G20-Debakel nach „neutralen und objektiven Versammlungsbeobachtern“.

TOM GERALD DALY sucht nach Kriterien, mit denen man unterhalb der Schwelle eines Zusammenbruchs der Demokratie bloße politische Probleme von fortschreitendem „demokratischen Verfall“ unterscheiden kann.

PIETER CANOOT und CLAIRE POPPELWELL-SCEVAK analysieren das EGMR-Urteil zum russischen „Gay-Propaganda“-Gesetz, und LAURENS LAVRYSEN schaut sich das „empörend homophobe“ Sondervotum des russischen Richters Dmitry Dedov genauer an.

JAKOB CORNIDES ist entsetzt über das „Euthanasie“-Urteil des EGMR im Fall des britischen schwer kranken Kleinkinds Charlie Gard, dessen lebenserhaltende Behandlung auf Verlangen der Ärzte und gegen den Widerstand der Eltern abgebrochen werden soll.

LUCY MOXHAM berichtet über den wachsenden Trend, Urteile des Straßburger Gerichtshofs zu missachten.

Nächste Woche, am Dienstag, gibt es bei uns mal wieder einen Livestream zu verfolgen: An der FU Berlin werden Arnd Bauernkämper, Tomer Broude, Anne Peters und Helmut Aust über „Human Rights Law in Crisis“ diskutieren. Stay tuned!

Bis dahin alles Gute,

Max Steinbeis

VGWort Pixel