Wie Ai die Gesellschaft regeln kann

Algorithmische Kontrolle: Ein Auszug aus Yvonne Hofstetters Buch „Das Ende der Demokratie: Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt“

8 Minuten
Innenansicht der Kuppel des Reichstagsgebäudes

15. Dezember 2016

„Womit müssen wir rechnen, wenn wir sie einschalten?“, hakt Scott nach.

Solange Ai im Labor eingeschlossen ist, kann sie gar nichts tun. Politisch handelnde Akteurin wird sie erst dann, wenn sie mit dem Leben verbunden wird. Wenn sie in den öffentlichen Raum hinaustritt. Wenn sie von den beiden Forschern in das Internet of Everything integriert und mit ihm vernetzt wird. Erst mit der Internetverbindung könnte sie mit der Überwachung der Gesellschaft beginnen. Dann würde sich auch ihr kybernetischer Regelkreis schließen.

Christian setzt sich wieder an seinen Bildschirm.

„In den letzten Wochen hat Ai gelernt, politische Anreize zu setzen, die proeuropäisch sind“, sagt er. „Natürlich nur solche Anreize, die dein Demokratiemodell überhaupt zulässt.“

Scott Muller hat seinen Multiagenten erlaubt zu wählen, um ihre ganz persönlichen Glücksmomente zu maximieren. Zulässig waren auch Informationsläufer. In der realen Welt würde Ai also bestimmte Nachrichten verbreiten und Informationsdynamik und -inhalte so einsetzen, dass die Wähler Europas stimuliert wären, eine „sichere“ Alternative zu wählen. Eine Alternative, die nicht antieuropäisch wäre. Mehr gibt Scott Mullers experimentelles Demokratiemodell aktuell nicht her.

„Wenn wir das Demokratiemodell weiter ausbauen würden, bekäme Ai mehr Handlungsspielraum“, sagt Scott.

„Du kannst dein Demokratiemodell um zig Variablen ergänzen. Zum Beispiel um die wirtschaftliche Gerechtigkeit. Dafür könntest Du sogar einen weltweit genutzten quantitativen Indikator beiziehen, den Gini-Koeffizienten. Er misst die Ungleichheit von Einkommen.“

„Oder auch die Wirtschaftsleistung Europas. Die Inflation. Einen Korruptionsindex. Die Reformbereitschaft politischer Institutionen, ihre Leistungsfähigkeit, den Grad sozialer Inklusion.“ Scott Muller hätte noch viel mehr Ideen.

Christian hat nur einen Einwand.

„Je mehr Variablen dein Demokratiemodell hat, desto länger wird es dauern, bis Ai im Simulator eine erfolgreiche politische Kontrollstrategie findet. Denn dein Modell kann plötzlich so viel mehr Varianten europäischer Zukünfte erzeugen. Der Suchraum einer optimalen Kontrollstrategie würde riesengroß. Bis Ai alle Zukunftsszenarien betrachtet und den Suchraum nach einer Lösung abgetastet hat, kann einige Zeit vergehen.“

Also Wochen, vielleicht sogar Monate. Dann müsste man eben die Serverfarm aufrüsten und in zusätzliche Supercomputer mit hoher Rechenleistung investieren. So könnten mehr Zukünfte parallel erzeugt werden, und Ai könnte schneller entscheiden lernen. Oder man müsste beide, Demokratiesimulator und Ai, auf die große Rechnerwolke auslagern, bei Amazon oder Google. Doch der Gedanke gefällt Scott Muller nicht. Die Rechnerwolke besteht aus nichts als Computern, die fremden Menschen gehören. Eine eigene europäische Rechnerinfrastruktur wäre viel sicherer, um strategisch wichtige Berechnungen für Europa anzustellen.

Blick auf den Bundestag
Sitz des Bundestags: Statt Demokratie künftig Demokratiesimulation per Rechner?