Niger: Bildung als Waffe gegen Armut, hohes Bevölkerungswachstum und Terror

Niger gilt als Stabilitätsanker im Sahel, leidet aber selbst zunehmend unter Terror. Das Land kämpft mit vielen weiteren Problemen, darunter den Folgen der Klimakrise.

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
4 Minuten
Eine Schülerin blickt die Betrachterin/ den Betrachter direkt an, um sie herum sind weitere Schülerinnen zu sehen. Alle tragen weiße Kleidung und farbige Kopftücher.

Habsed Abdulkarim hat Hunger. Es ist kurz vor 12 am Mittag, die 12-Jährige hat heute noch nichts gegessen. Immerhin – sie weiß, dass es gleich etwas geben wird. In ihrer Schule im Lager für Binnenvertriebene in Ouallam, einem Ort etwa 100 Kilometer von der nigrischen Hauptstadt Niamey entfernt, wird mittags regelmäßig gekocht, die rund 770 Mädchen und Jungen bekommen etwas zu essen. Heute köchelt Hirsebrei in neun großen Töpfen, die unter freiem Himmel auf Feuerstellen stehen. Dazu wird gleich eine Sauce aus lokal angebautem Blattgemüse verteilt.

„Ich lerne gerne“, beteuert Habsed auf Französisch, das sie leidlich gut versteht, obwohl sie erst in der vierten Grundschulklasse ist und die fremde Sprache noch nicht lange lernt. Sie käme auch zum Unterricht, wenn die tägliche Mahlzeit nicht locken würde, versichert sie. Ihre Lehrerin Bibata Gada bezweifelt das: „Dass sie hier zu Essen kriegen, ist für die Kinder ein starker Anreiz“, meint die 58-Jährige. „Hungrig könnten sie sich sowieso nicht konzentrieren.“ Außerdem würden sie ihre Zeit mit leerem Magen vermutlich für die Suche nach Geld oder Essen nutzen.

Die Lehrerin ist seitlich von hinten zu sehen, sie steht in einer Klasse aus Strohmatten. Die Schülerinnen und Schüler sitzen an Schulbänken aus Holz mit Metallgerüsten, der Boden ist ebenfalls fest, er ist zementiert. Im Anschnitt ist auch eine Tafel zu sehen.
Die Lehrerin Bibata Gada vor ihrer Grundschulklasse im Vertriebenenlager bei Ouallam.

Um das zu verhindern und die Kinder im Unterricht zu halten, unterstützt das UN-Ernährungsprogramm WFP die nigrische Regierung in ihrem Ziel, den Schülerinnen und Schülern wenigstens einmal täglich eine möglichst nährstoffreiche Mahlzeit anzubieten. Denn viele Eltern schaffen das nicht aus eigener Kraft, rund 40 Prozent der etwa 25 Millionen Nigrerinnen und Nigrer leben in extremer Armut.

Zu den Gründen gehört neben dem sehr hohen Bevölkerungswachstum von 3,9 Prozent und dem Wechsel von Dürreperioden und Überschwemmungen infolge der Klimakrise die desaströse Sicherheitslage, die sich ständig weiter verschlechtert. In Niger sind mehrere islamistische Gruppen aktiv, vor allem im Dreiländereck mit Mali und Burkina Faso, aber auch im Südosten Nigers in der Region des Tschadsees. Rund 300.000 Flüchtlinge aus den Nachbarländern und fast 380.000 Binnenvertriebe sind innerhalb der Landesgrenzen auf der Suche nach einer sicheren Bleibe.

20 Prozent des Budgets für Bildung

Angesichts der vielen Krisen nimmt die nigrische Regierung unter Präsident Mohamed Bazoum Bildung nicht weniger, sondern ganz im Gegenteil besonders wichtig. 20 Prozent des Budgets sind laut Bildungsminister Ibrahim Natatou für sein Ressort vorgesehen. Damit hätte Präsident Bazoum, der sein Amt im April 2021 übernahm, den Anteil im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt. Denn die Chancenlosigkeit vor allem der jungen Menschen sei einer der wesentlichen Gründe dafür, dass sie sich bewaffneten Islamisten anschlössen, erklärte Präsident Bazoum im September in einer Rede in New York, dort weilte er anlässlich der UN-Vollversammlung. Deshalb wolle die nigrische Regierung die Schulen unter allen Umständen offenhalten. Oder sie an anderer Stelle möglichst bald wieder öffnen, falls sie wegen der Gewalt der Terrorgruppen in einer Region hätten schließen müssen.

Das Ziel ist nicht leicht zu erreichen. Anfang November waren nach Angaben von Bildungsminister Natatou mehr als 800 Schulen in Niger geschlossen, weil sie aufgrund des Terrors nicht mehr zugänglich waren. Für 72.000 Schülerinnen und Schüler fällt damit der Unterricht aus, Tendenz steigend. Die Regierung versuche alles, um den Trend zu brechen, versichert Natatu. Bis er im Mai 2022 sein Ressort übernahm, lehrte er Chemie an der Universität von Niamey. In dem einstündigen Interview hat er alle wichtigen Daten zum nigrischen Bildungssystem und seinen Schwächen aus dem Kopf parat, nicht einmal sechsstellige Zahlen muss er runden.

Von schräg oben sind Mädchen zu sehen, die rund um eine Metallschüssel auf dem Boden sitzen und gemeinsam aus der Schüssel essen. Im Anschnitt sind eine weitere Schüssel und mehr Schülerinnen zu sehen.
Mittagessen in der Grundschule im Vertriebenenlager bei Ouallam, der Ort ist etwa 100 Kilometer von der Hauptstadt Niamey entfernt.

Die Probleme liegen nicht nur in der angespannten Sicherheitslage, sondern auch in fehlender Infrastruktur, fehlenden Ressourcen: Zwei Drittel der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben, rund vier Millionen Jungen und Mädchen gehen nicht in die Schule, obwohl sie im entsprechenden Alter wären. Die nigrische Bevölkerung ist jung, alle 18 Jahre verdoppelt sich die Bevölkerung – eine Anforderung an den permanenten Ausbau des Schulsystems, der selbst für ein reiches Land kaum zu leisten wäre.

Trotzdem wolle seine Regierung bis 2026 viel erreichen, sagt Natatou und zählt auf: Für Kinder aus Konfliktgebieten sollen 76 neue Schulzentren entstehen. Um die Bildung vor allem der Mädchen zu fördern, will die Regierung 100 Mädcheninternate bauen. Präsident Bazoum und Minister Natatou sehen in Bildungsförderung von Mädchen den wichtigsten Weg, um die hohe Geburtenrate zu senken. Außerdem sollen 36.000 Klassenräume aus Strohmatten in permanente Strukturen verwandelt werden, die auch Starkregenfälle überstehen. Als wolle er sich nicht einmal angesichts dieser Ziele entmutigen lassen, verweist der Minister auf das, was schon geschehen sei: „Neun Mädcheninternate stehen kurz vor der Einweihung.“

In dem Vertriebenenlager von Ouallam, in dem auch Habsed Abulkarim lernt, leben rund 5000 Menschen, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. „Jeden Tag suchen hier mehr Menschen Zuflucht“, sagt Schuldirektor Lawali Mahamadou. Weil alle Räume für den Unterricht gebraucht werden, hat er in einer der Klassen einen Bereich als Büro für sich abgeteilt. Dort geht er hinter seinem Schreibtisch zwischen Heften und nicht ausgepackten Bücherstapeln fast unter. „Die Bücher sind für die Vertriebenen, die wir noch erwarten“, sagt der Direktor.

Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen unterstützt.

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Artikels wurde zunächst über den Evangelischen Pressedienst verbreitet.

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