Wozu heute noch Kunstkritik?

Plädoyer für eine Disziplin, die sich neu erfinden muss

13 Minuten
Zwei Frauen und ein Mann sitzen auf einer Bühne an einem Tisch.

Am 10. November 2018 lud der Kunstkritikerverband AICA nach Mannheim ein, um über die Herausforderungen des Berufs in Zeiten des Internets und der Sozialen Medien zu sprechen. Für Thomas Wagner, von 1992 bis 2007 Redakteur der FAZ im Bereich Bildende Kunst und Design, geht mit der digitalen Welt auch etwas verloren. Eine kompetente, unabhängige und von keinem Marketing beeinflusste Kunstkritik werde immer seltener, und es vermisse sie auch keiner. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – plädierte er dafür, an hohen Standards festzuhalten. DebatteMuseum veröffentlicht eine leicht gekürzte Version seines Vortrags „Kunstkritik in der Stammeskultur – Netzräume, Content-Management und die List des Igels“.

Vielleicht wird sich der eine oder andere gefragt haben: Wieso „Kunstkritik in der Stammes-kultur“? Ganz einfach: In der digitalen Stammeskultur ist einiges los. Und wenn wir über die gegenwärtige Praxis der Kunstkritik reden wollen, ist es aus meiner Sicht notwendig, sich die Bedingungen klar vor Augen zu führen, unter denen sie sich aktuell zu behaupten sucht – und zwar medial (hinsichtlich der Sender und Empfänger), institutionell (hinsichtlich Publikationsorganen und Institutionen), funktional und strategisch (hinsichtlich der Position der Kritik innerhalb der Öffentlichkeit). Da es bei unserer Tagung ja um eine „Bestandsaufnahmen aus dem Arbeitsalltag“ gehen soll, möchte ich Ihnen, bevor ich einige Schlaglichter auf die Veränderungen der genannten Kontexte werfe, einige Geschichten aus der Praxis erzählen.

Aus dem Alltag

Ein junger Künstler voller Potenzial, Strebsamkeit und Hoffnungen, inzwischen wohnhaft in Berlin, kommt zu Besuch, um für eine Woche Haus und Katzen zu hüten. Man isst zusammen, unterhält sich, fragt, wie es ihm so ergeht, wie er als Künstler vorankommt. Rasch beklagt er sich darüber, er gehe zwar zu vielen Eröffnungen, komme aber, was das eigene Ausstellen angeht, nicht voran. Stipendien hielten ihn im Moment zwar über Wasser, was ihm aber fehle, so erzählt er ebenso entschlossen wie enttäuscht, sei „der Diskurs“, seien aktuelle Debatten. Die Woche geht vorüber, man sitzt wieder beisammen. Die zwei überregionalen Zeitungen, die jeden Tag im Briefkasten gewesen sind, hat er fein säuberlich auf einen Stapel gelegt. Kein einziges Feuilleton hat er gelesen.

Bei einem Seminar über Bildpolitiken – alle Teilnehmerinnen studieren Kunst in einem höheren Semester – steht unter anderem auch Gerhard Richters Zyklus „Birkenau“ auf der Agenda. Niemand kennt die Gemälde, kann etwas mit dem Namen Birkenau anfangen. Auf die Frage, ob jemand denn andere Werke von Gerhard Richter kenne – Schweigen. Ich zeige mich verwundert, insistiere, frage nach: Gerhard Richter, der aktuell weltweit bekannteste Maler, der auf jeder Hitliste ganz oben steht? Keiner der Studierenden hat den Namen schon einmal gehört.

Ich bin vor rund zehn Jahren mit einigem Enthusiasmus von Print zu Online gewechselt, weil mich die Chancen und Möglichkeiten gereizt haben, die das Netz damals geboten hat. Erstens, so dachte ich, kann man Texten in einem Online-Magazin die Länge geben, die sie brauchen, ohne sie auf die auf einer Zeitungs- oder Magazinseite passende oder vom Layout vorgesehene Länge kürzen zu müssen. Zweitens sollte dem lesenden und schauenden Nutzer durch eine Vielzahl von Bildern – und, wenn sich das anbot, durch ein Videointerview mit dem Künstler oder der Künstlerin –, eine größere Anschaulichkeit geboten und der Leser des Textes darin bestärkt werden, sich aus den verschiedenen Facetten und Zugängen ein eigenes differenziertes Urteil zu bilden. Einige Jahre hat das ganz ordentlich geklappt. Als dann vor etwa drei Jahren ein Relaunch der auf einer Datenbank für Design basierenden Website und des Online-Magazins anstand, wurde schnell klar, dass die damit betrauten Programmierer und Webdesigner weder Ahnung von redaktionellen Abläufen noch von grafischen Standards hatten, ja diese für obsolet hielten.

Bei einem Treffen mit einem Fachmann für SEO – für „Search Engine Optimisation“, also für das Optimieren der Lesbarkeit einer Seite oder eines Artikels durch den Algorithmus einer Suchmaschine, wurde dann das verlockende Angebot gemacht: Wir, die keine Ahnung haben, worum es in Euren Texten geht, veranstalten gern einen Workshop mit der Redaktion und bringen Euch, den gestandenen Redakteuren, bei, wie man Überschriften macht und entsprechende Keywords von vorne herein in den Text einbezieht. Zu dem Workshop ist es nicht gekommen. Klar aber wurde: Es geht im Netz nicht um menschliche Leser, sondern um Maschinen. Nur was so aufbereitet wird, dass Maschinen es lesen können, bekommt die Chance, auch noch von Menschen gelesen zu werden. Man verfasst bei Texten im Netz eine Überschrift also zuallererst für einen Algorithmus.

Die letzte Geschichte ist ein Fundstück. Am 15. September 2018 stand auf der Seite von Spiegel Online ein Artikel von Kristin Haug mit folgender Überschrift und Teaser: „Welcher Nachwuchskünstler fasziniert Sie? Stimmen Sie ab! Sie malen Bilder, besprühen Rasenflächen und modellieren Skulpturen: Dutzende Kunststudenten haben dem SPIEGEL ihre Werke gezeigt. Hier sind sie.“ Im Text hieß es dann: „Stimmen Sie unter den Kunstwerken ab (zehn ist die höchste Punktzahl), wie diese Ihnen gefallen haben. Der Künstler, der das beste Abstimmungsergebnis hat, wird von uns interviewt.“

Ein Beispiel mag genügen: Unter der Fotografie eines etwas strapaziert wirkenden Rasens mit der Aufschrift „THIS IS PRETTY MUCH EXACTLY WHAT I DO BUT EVERYTHING CHANGES OVERNIGHT.“ war zu lesen: „Grünkunst: Auf einer Rasenfläche vor der Kunsthochschule hat Jonas Leichsenring, Jahrgang 1997, diese Wörter mit Kreidespray aufgesprüht. Seine Arbeit heißt, Schattenmann’. Leichsenring sagt:, Schattenmänner sind ständig in unserer Umgebung. Im Sport ist es der Platzwart, der sich um den Rasen kümmert und ihn bewässert. Mit Kreidespray teilt er das Spielfeld in verschiedene Zonen ein. Ohne diesen Aufwand könnte ein Fußballspiel nicht offiziell stattfinden.’ Der Student will den Schattenmännern mit seinem Werk mehr Aufmerksamkeit geben. Er studiert im 6. Semester Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel.“ Unter dem Text und über einer interaktiven Leiste mit einer Skala von 0 bis 10 stand: „Wie bewerten Sie die Arbeit von Jonas Leichsenring?“

Auch wenn das nicht mehr als Anekdoten sind, zeigt sich doch, dass sich in der Rezeption und in den Machtverhältnissen im Netz vieles verschoben hat. Wie und für wen also kann und soll die Kritikerin oder der Kritiker heute schreiben, wenn jeder Kunststudent selbst die guten Absichten erklärt, die er mit seiner schlechten Kunst verbindet, wenn jeder User über Kunst abstimmen kann?