Wer schweigt, stimmt dagegen

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

Das Parlament in Straßburg wird am Mittwoch, wenn alles nach Plan geht, darüber abstimmen, ob nun nach Polen auch gegen Ungarn ein Artikel-7-Verfahren eingeleitet wird. Dass es dafür übergenug Gründe gibt, hatte die niederländische Grünen-Abgeordnete Judith Sargentini in einem ausführlichen Bericht dargelegt. Das Verfahren läuft so, dass das Parlament dem Rat einen „begründeten Vorschlag“ macht, mit Vierfünftelmehrheit festzustellen, dass von Ungarn die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Grundwerte der EU ausgeht. Im Fall Polens hatte diesen Vorschlag die Kommission formuliert, deren amtierender Präsident Jean-Claude Juncker aber offenbar den Narren, den er einst an dem jungen Christdemokraten Viktor Orbán gefressen hat, auch nach dessen Wandlung zum freundschaftlich beklapsten „Diktator“ nicht wieder ausgeschieden bekommt. Deshalb wäre es ein Riesenerfolg, wenn nunmehr das Parlament zur Verteidigung der Union aufsteht und den Artikel-7-Knopf drückt.

Das wäre das erste Mal. Und wie das so ist bei Premieren: Da kann viel schief gehen. Alles ist neu, alles ist unerprobt. Rechtsprechung, die Sicherheit verleiht, gibt es keine. Und es steht so viel auf dem Spiel.

Eine der Fragen, die dem Vernehmen nach in der Parlamentsverwaltung gerade heiß diskutiert werden, finde ich auch juristisch ziemlich interessant: Was passiert eigentlich, wenn sich ein erheblicher Teil der Abgeordneten bei der Abstimmung im Plenum der Stimme enthält? Sind das Stimmen, die nicht mitzählen? Oder Stimmen, die als Nicht-Ja-Stimmen und damit als Nein-Stimmen zu werten sind?

Damit der Antrag durchgeht, ist Zweidrittelmehrheit nötig. Doch wie die ermittelt wird, weiß offenbar im Moment kein Mensch mit Sicherheit zu sagen. Der Regelungswortlaut in Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europaparlaments scheint eher dafür zu sprechen, dass Enthaltungen faktische Nein-Stimmen sind: Wer schweigt, stimmt dagegen. Die bisherige, wenngleich spärliche Praxis spricht aber eher dafür, in diesem Fall wie sonst auch nur Ja- und Nein-Stimmen zu zählen, ebenso wie der Wortlaut von Art. 231 und 354 AEUV, die von „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ sprechen.

Der Unterschied kann entscheidend werden. Vor allem für die Europäischen Volkspartei, der auch Orbáns Fidesz angehört, ist die Stimmenthaltung eine wichtige Option. Die EVP-Fraktion tief gespalten: Viele skandinavische und Benelux-Abgeordnete kritisieren Orbán kein bisschen weniger hart kritisieren als die Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Linken auch. Ihnen steht ein harter rechter Flügel aus CSU, ÖVP, französischen Wauquiez-Republikanern und anderen Nationalkonservativen, die Orbán total super finden. Mit ihren Stimmen will Fraktionschef Manfred Weber (CSU) Spitzenkandidat und damit Kommissionspräsident werden, und da kann er weder eine Eskalation des Konfliktes gebrauchen noch den Verlust der ungarischen Stimmen.

++++++++A Note from MPIL+++++++++++

Am Freitag, den 14. September 2018, öffnet das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht im Rahmen des bundesweiten Max-Planck-Tages der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) seine Türen. Unter dem Motto „Forschen ist Neugier – wonachsuchstdu“ können sich Interessierte über Forschung, Geschichte und Akteure des Instituts informieren, die einzigartige Bibliothek erkunden und Wissenschaft diskutieren. https://wonachsuchstdu.mpg.de/event/heidelberg-3/

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Ich will mir gar nicht ausmalen, was es bedeuten würde, wenn der nächste Kommissionspräsident sein Amt Viktor Orbán verdanken sollte. Vielleicht hat die Unsicherheit um die Stimmenthaltung damit auch sein Gutes: Diese Abstimmung ist der Punkt, an dem die EVP mitsamt ihrem Fraktionschef endlich Farbe bekennen müssen. Sich vornehm zurückzuhalten, reicht nicht. Für Merkel? Oder für Orbán? Beides schließt sich wechselseitig aus, hat Frankreichs Präsident Macron dem Spitzenkandidaten-Kandidaten Weber zugerufen. Wo er Recht hat, der Franzose, da hat er Recht.

Karenz für Krings

Noch kurz zu einer anderen Personalie: In der kommenden Woche wird sich wohl endlich entscheiden, wer am Bundesverfassungsgericht auf den demnächst ausscheidenden Richter Ferdinand Kirchhof im Ersten Senat und damit dann auch auf Andreas Voßkuhle als Präsident des Gerichts nachfolgt. Günter Krings scheint im Moment der Favorit der CDU-Bundestagsfraktion zu sein, auf die es bei dieser Stelle ankommt.

Ich kenne Krings von früher, aus meiner Zeit als Zeitungsjournalist, und schätze ihn als klugen, ehrenhaften, vernünftigen Juristen. Ich bin zwar vermutlich in wenig Dingen mit ihm einer Meinung, ganz bestimmt nicht in seiner Interpretation des Ehebegriffs in Artikel 6 Grundgesetz. Aber das wäre für mich noch kein hinreichender Grund, gegen seine Wahl zum Verfassungsrichter zu sein. Dass ich es trotzdem bin, liegt weniger an seiner Person als an seinem aktuellen Amt. Der Mann ist seit 2013 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Er muss sich schon von Amts wegen mit allem identifizieren, was dieses Haus an sicherheits- und migrationspolitischen Rechtsakten seither in die Welt gesetzt hat. Und wenn davon dann ein Teil in in Karlsruhe landet – soll er dann morgen mitprüfen, was er gestern in Berlin noch selbst mitentschieden hat?

Dass jemand aus der politischen Leitungsebene eines Schlüsselministeriums des Bundes ohne jegliche Karenzzeit nach Karlsruhe wechselt – hat es das überhaupt schon mal gegeben? Bei Ernst Benda vergingen immerhin zwei Jahre zwischen Amtszeit als Bundesinnenminister und Wechsel nach Karlsruhe. Landesinnenminister, auch Ministerpräsidenten, das gibt es immer wieder mal, aber Ländergesetze landen auch viel seltener auf dem Karlsruher Verhandlungstisch als Bundesgesetze. In der Wirtschaft hat sich mittlerweile durchgesetzt, dass man als Vorstandsmitglied, wenn überhaupt, dann jedenfalls nicht nahtlos in den Aufsichtsrat geht. Bei aller Unvergleichbarkeit der Konstellationen – was der Corporate Governance recht ist, sollte der State Governance billig sein.

Aufgestanden

So viel zur kommenden Woche. In der letzten war das wohl größte Verfassungsereignis das Urteil des indischen Supreme Courts, die Strafbarkeit von gleichgeschlechtlichem Sex als verfassungswidrig zu kippen und den vielen Millionen LGBTQ-Menschen in Indien ihre Freiheit und Menschenwürde zurückzugeben. Unsere Autorin MENAKA GURUSWAMY hat als Anwältin diese Entscheidung maßgeblich mit herbeigeführt – eine riesengroße Gratulation von uns! Berichte und Kommentare zu diesem epochalen Ereignis werden hoffentlich in der nächsten Woche folgen.

In Deutschland hat sich in Chemnitz über die letzten Tage und Wochen gezeigt, wie viele Leute überhaupt kein Problem mehr damit haben, sich in ihrem Hass auf Merkel und Migranten mit den härtesten Neonazis zusammenzurotten. Das gilt vor allem für die AfD. Während der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und der sächsische Ministerpräsident noch damit davonzukommen glauben, so zu tun, als könnten sie beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen, haben einige Landesämter für Verfassungsschutz die Jugendverbände der AfD unter Beobachtung genommen. Was das rechtlich bedeutet und was zu der Reaktion der AfD, die betroffenen Jugendverbände flugs aufzulösen, parteienrechtlich zu sagen ist, hat SEBASTIAN ROSSNER aufgeschrieben.

Parteienrechtlich ist auch Sarah Wagenknechts Sammlungsbewegung „Aufgestanden“ interessant, die in dieser Woche gegründet wurde – ein Vorgang, den CHRISTOPH GUSY zum Anlass nimmt, sich ganz grundsätzliche Gedanken über unser verknöchertes Parteienrecht zu machen.

In Spanien musste der Richter am Obersten Gerichtshof Pablo Llarena in dieser Woche nach Belgien reisen, weil ihn dort der flüchtige katalanische Separatistenchef Carles Puigdemont wegen des von Llarena ausgestellten Haftbefehls zu einem symbolischen Schadensersatz von 1 Euro verklagt hatte. Welchen rechtsstaatlichen und völkerrechtlichen Flurschaden die belgische Justiz anrichten würde, wenn sie diesem Ansinnen nachgibt, zeigt JORDI NIEVA-FENOLL.

In Argentinien arbeitet das Parlament daran, das rigide Abtreibungsrecht zu liberalisieren, was HELENA GUIMARÃES DE OLIVEIRA mit dem entsprechenden Vorgang in Irland vergleicht.

In Frankreich wird zwischen den beiden Parlamentskammern um das umstrittene Gesetz gegen Fake News gerungen. THOMAS HOCHMANN hält die Art und Weise, wie das Gesetz Fake News definiert, für völlig verfehlt, aber dafür geeignet, daraus eine Menge zu lernen.

In Deutschland verlangen viele, abgelehnten Asylbewerbern den Gang vor die Verwaltungsgerichte zu erschweren. REINHARD MARX hält das Sonder-Verwaltungsprozessrecht im Asylverfahren zwar in vielerlei Hinsicht für hoch problematisch, aber Transitzentren mit eingeschränktem Rechtsschutz hält er schon aus europarechtlichen Gründen überhaupt nichts.

In Italien blickt MARIO SAVINO auf die Diciotti-Affäre und die ebenso brutale wie erfolgreiche Flüchtlingspolitik von Innenminister Marco Salvini zurück und stellt sie in den Kontext der europäischen Flüchtlingskrise seit 2011.

In Irland hat der High Court mittlerweile über das Schicksal von Herrn Celmer – dem Polen, dessen EU-Haftbefehl vor dem EuGH kürzlich Rechtsgeschichte geschrieben hat – entschieden und dabei die Vorgabe aus Luxemburg, im Dialog mit der polnischen Justiz deren Unabhängigkeit zu klären, exemplarisch umgesetzt. CILLIAN BRACKEN berichtet.

Anderswo

In Hessen steht immer noch eine Menge überholtes, rechtlich unschädliches, aber zum Teil eklatant rechtsstaatswidriges Zeug in der Landesverfassung. Das soll jetzt bereinigt werden, wenngleich nur halbherzig, wie STEPHAN KLENNER kritisiert.

MANUEL MÜLLER untersucht die Chancen von Manfred Weber, als Spitzenkandidat der EVP für die Europawahlen „Kommissionspräsident von Orbáns Gnaden“ zu werden.

GAUTAM BHATIA analysiert das schon erwähnte Urteil des indischen Obersten Gerichtshofs zur Kriminalisierung von gleichgeschlechtlichem Sex.

BOB BAUER glaubt, dass Trumps Supreme-Court-Nominee Brett Kavanaugh trotz aller gegenteiligen Beteuerungen in der Frage der Immunität des US-Präsidenten befangen ist.

MARIA BERTEL fragt, ob der Präsident von Peru das Recht hat, ein Verfassungsreferendum zu initiieren.

BRIAN CHRISTOPHER JONES schlägt einen dreiteiligen Test vor, wie man Gerichtskritik von Angriffen auf die Herrschaft des Rechts unterscheidet.

Das war’s für diese Woche. In der nächsten werden wir uns viel mit der EU-Kommission beschäftigen: Kommissionspräsident Juncker war als Spitzenkandidat für ein „politisches Mandat“ angetreten. Jetzt, zum Ende seiner Amtszeit, wird es Zeit Bilanz zu ziehen: War die „politische Kommission“ ein Erfolg? Hat sie der Funktion der Kommission als Hüterin der Verträge genutzt oder, wie viele befürchtet hatten, geschadet? Gemeinsam mit MARK DAWSON von der Hertie School of Governance veranstalten wir dazu ein Online-Symposium mit Beiträgen von ALBERTO ALEMANNO, DIMITRY KOCHENOV, CATHRYN COSTELLO, ELSPETH GUILD, KENNETH ARMSTRONG, MARCO GOLDONI, DANIELA SCHWARZER und JORIS LARIK. Das wird sehr spannend.

Und noch in eigener Sache: EVIN DALKILIC verstärkt seit dieser Woche zu unserer großen Freude unser Team als Redaktionsassistentin und hat ihr Können schon mit ihrer wunderbaren Idee für eine Überschrift zu Cillian Brackens Artikel unter Beweis gestellt: Talk to me like Lawyers do! (Ich krieg den Ohrwurm seither nicht mehr aus dem Kopf…)

Ihnen alles Gute!

Ihr Max Steinbeis

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