Nationalmannschaft im Exil

In Syrien gehörten die vier Männer zu den besten Radsportlern des Landes. Dann machte der Krieg sie zu Flüchtlingen. In Deutschland wollen sie nichts als zurück auf den Sattel. Eine Reportage von Andrew Curry (Text) und Timm Kölln (Foto)

29 Minuten
Syrische Radsportler fahren an einem Flugzeug entlang.

04. Dezember 2016

15. August 2015. In Latakia werden die syrischen Meisterschaften im Radrennfahren ausgerichtet. Die Hafenstadt mit etwa 100 000 Einwohnern am Mittelmeer ist zu dieser Zeit noch einer der wenigen Orte in Syrien, die von dem seit Anfang 2011 andauernden Krieg einigermaßen verschont geblieben ist.

Die Szenerie wirkte surreal. Einige Dutzend Männer – Mitglieder der Nationalmannschaft sowie Sportler aus den wenigen Städten, die das Regime noch kontrollierte – traten in gespenstisch leeren Straßen gegeneinander an. Soldaten mit Sturmgewehren bewachten jede Kreuzung. Stille. Nur wenige Kilometer entfernt errichteten russische Truppen einen neuen Flughafen, um das syrische Regime aus der Luft zu unterstützen.

Die Gewinner des Tages überraschten niemanden: Nazir Jaser, 26, ein Sprintspezialist, und sein WG-Genosse Yalmaz Habash, 30, ein drahtiger Experte für Bergstrecken. Die beiden waren seit Jahren die Stars der syrischen Nationalmannschaft gewesen, sie waren für ihr Land bei internationalen Rennen in Florenz und Südkorea angetreten.

Zwei Wochen später waren die beiden weg. Mit ihnen verließen auch Nabil Allaham, der Gewinner des U23-Rennens, und der frisch gekürte Jugendchampion Tarek Al Moakee das Land. Zusammen mit einem weiteren Junior-Radsportler und zehn Freunden und Verwandten machten sie sich aus dem kriegsgebeutelten Land auf den Weg nach Europa. Sie nahmen kaum etwas mit außer ihren Pässen, ihren Smartphones und der Hoffnung, dass sie ihre Karriere als Profi-Radsportler irgendwie in Europa fortsetzen könnten.

Sechs Wochen nach dem Rennen in Latakia fanden sich die Syrer an einem Nebeneingang des Berliner Velodroms ein, einem Betonbau, in dem mehr Konzerte als Radrennen stattfinden. Sie klopften an die Tür von Dieter Stein, einem früheren ostdeutschen Bahnrennfahrer, der das traditionelle Sechstagerennen organisiert.

Nabil Allaham – ein hochgewachsener Mann mit einem Abschluss in Buchhaltung und einem entspannten Lächeln – trat als Sprecher der Gruppe auf. Er erzählte Stein in einwandfreiem Englisch, dass er die Worte „cycling headquarters Berlin“ gegoogelt hätte und gerne mit einem Verantwortlichen sprechen würde. Die Männer zeigten Stein ihre Papiere und hielten ihm ihre Smartphones vor die Nase, voll mit Bildern von Siegerehrungen, Rennen und Selfies an der Startlinie. Sie sagten, sie seien Radsportprofis aus Syrien.

Und sie wollten nun in Deutschland Rennen fahren. Die talentiertesten der syrischen Radrennprofis waren inmitten der größten Flüchtlingskrise in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gekommen.

Allein 2015 gelangten fast eine Million Menschen aus bekannten Konfliktgebieten (wie Syrien oder Afghanistan) und weniger bekannten (Eritrea) nach Deutschland, zusammen mit Menschen aus ökonomisch zerrütteten Ländern wie Albanien, dem Kosovo und Mazedonien. Die Frage, wie man mit den Flüchtenden umgehen soll, treibt seither sehr viele Deutschen um – auch die Offiziellen des Radrennsports.

Eine Hand hält ein Smartphone, auf dem Display sieht man ein Foto, auf dem ein Mann im Schutt eines zerstörten Hauses steht.
Auf ihrem Smartphones erleben die Syrier die Schrecken des Krieges.
Tarek Al-Moakee sitzt in Radlerhosen auf einem Stuhl im Berliner Velodrom und ruht sich aus. Im Hintergrund zwei weitere Radfahrer.
Tarek Al-Moakee verschnauft kurz bei einem Training im Berliner Velodrom.
Ein Mann hält ein Papier mit dem Wort Aufenthaltsgestattung in die Kamera.
Von der Aufenthaltsgestattung bis zur Aufenthaltsgenehmigung ist es ein langer Weg.
Nazir Jaser schaut von einem Balkon eines mehrstöckigen Wohnblocks nach draußen.
In dieser ehemaligen Jugendherberge lebt Nazir Jaser.
Vier syrische Radsportler und ihr Trainer posieren für ein Gruppenfoto.
Gruppenfoto mit Trainer: Tarek al-Moakee, Yalmaz Habash, Frank Röglin, Nazir Jaser, Nabil Allaham (von links).
Drei Männer muslimischen Glaubens knien auf einem Teppich und beten.
Drei der syrischen Radsportler beim Gebet.
Ein syrischer Radprofi bei einem Rennen in Berlin.
Die Radprofis nahmen in diesem Sommer jedes Rennen mit, das Berlin zu bieten hatte.
Yelmaz Habash hält seine neugeborene Tochter auf dem Arm. Neben ihm steht sein Trainer.
Das Leben geht weiter: Yalmaz Habash hält seine neugeborene Tochter auf dem Arm.