Gesinnung oder Haltung: Klärung in einer journalistischen Wertedebatte

In der Diskussion über „Haltung im Journalismus“ herrscht zu viel Verwirrung. Versuch einer Aufklärung

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Fernsehübertragungswagen vor dem Bundeskanzleramt

Über das Verhältnis von Haltung, Gesinnung und Faktendarstellung wird derzeit heftig gestritten. Das Thema hat die gesellschaftliche und die medienpolitische Diskussion in den vergangenen Monaten, sogar während der vergangenen fünf Jahre, ganz massiv bestimmt. Die Aufgabe von Neutralität und Objektivität als Leitidee für die Berichterstattung wird da mitunter gefordert.[1] Auf der anderen Seite wird der „Haltungsjournalismus“ kritisiert, der nur noch Meinungsbeiträge hervorbringe und die Faktenlage dabei überhaupt nicht mehr berücksichtige.[2]

Wir haben es in dieser Diskussion mit mehreren Fragen zu tun. Und es ist enorm wichtig, diese Fragen deutlich zu unterscheiden und auch die in diesen Fragekontexten auftauchenden Begriffe klar zu differenzieren.

Zunächst müssen wir in diesem Zusammenhang klären: Wie kam die Tendenz in den Journalismus? „Tendenz“ und „Gesinnung“ weisen zwar unterschiedliche Zusammenhänge auf, müssen aber sauber voneinander getrennt werden, obschon dies in der aktuellen Diskussion zu selten gemacht wird. Danach muss es um die Frage gehen: Wo und warum haben wir Gesinnungsjournalismus beobachten können?

Wie die Tendenz in den Journalismus kam

Ganz wesentlich ist in dem Zusammenhang dann die Klärung, was das Ganze mit journalistischer Haltung zu tun hat. Dabei muss dann deutlich zwischen der Gesinnung des Journalisten und einer journalistischen Haltung unterschieden werden. Denn allzu oft verläuft die Frontlinie der Diskussion hier in einem wirklich üblen Zickzack.

Wenn wir klären wollen, wie Tendenz in den bundesdeutschen Journalismus kam, dann haben wir es mit den Alliierten zu tun. Zwar wurde die Tendenzschutzbestimmung bereits in der Weimarer Republik eingeführt[3], doch ist die Tendenz-Situation unserer Tage im wesentlichen durch das Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahre 1972 bestimmt. Das Betriebsverfassungsgesetz wiederum wurde durchaus unter Berücksichtigung der Praxis der Presselizenzen verabschiedet, die die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, nach 1945 also, verteilt haben. Damit wollten die alliierten Militärbehörden sicherstellen, dass Tageszeitungen, Nachrichtenmagazine oder Zeitschriften von möglichst unbelasteten Verleger herausgegeben werden, und dass durch die Vergabe von Lizenzen an Verleger sehr unterschiedlicher politischer Coleur auch die verschiedenen politischen Tendenzen in der Presse zu Wort kommen.

Wenn in einer Stadt also ein ehemaliger Zentrumsnaher und ein (ehemaliger) Sozialdemokrat und der Liberale, auch meistens ein ehemaliger Liberaler war, eine Lizenz für eine Zeitung bekommen hatten, dann sollten sie auch vorgeben können, dass in ihren jeweiligen Blättern eben zentrumsnah, liberal oder sozialdemokratisch geschrieben wird, also ihr Blatt tatsächlich die entsprechende politische Linie vertritt.

Meinungsvielfalt und Tendenzschutz

Denn nur damit, so die Überlegung der Alliierten, bekämen sie Meinungsvielfalt hin. Nur dann würde entsprechende Pluralität auch innerhalb einer Stadt hergestellt. Durch diese Pluralität könne sich anhand der verschiedenen Meinungen, die ja veröffentlicht seien, die gelesen werden könnten, die Bürger dann ihre politische Meinung bilden und als mündige Bürger eben auch im Gemeinwesen mitwirken. Dafür brauchen Bürger aber Informationen und die Einordnung von Fakten.[4]

Dafür ist auch Meinungsjournalismus vonnöten. Deshalb sollte sichergestellt werden, dass verschiedene Perspektiven auf eine Stadtpolitik oder eine Landespolitik auch tatsächlich möglich sind und zu Wort kommen. Diese Perspektiven kamen zu Wort – so haben sich die Alliierten überlegt – indem sie unterschiedlichen Verleger, Persönlichkeiten mit unterschiedlichen politischen Einstellungen eine Presselizenz geben und mit diesen Lizenzen verbunden ist, dass in diesem Blatt eben genau die verlegerische Position auch durchgesetzt wird.

Das ist dann in der jungen Bundesrepublik von den damaligen Regierenden, insbesondere von der Adenauer-Regierung, nur allzu gerne aufgenommen worden. So gelangte der Tendenzschutz später in das Betriebsverfassungsgesetz. Praktischerweise konnte bereits die Adenauer-Regierung damit bestimmte Betriebe teilweise aus der Mitbestimmung, die erkämpft worden war, wieder herausnehmen. Die nachfolgenden Bundesregierungen haben das gern weitergeführt. Kein Wunder, dass das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 in dieser Frage ausgesprochen kontrovers diskutiert wurde.

Verlegerschutz im Betriebsverfassungsgesetz

So regelt noch heute der Paragraph 118 des Betriebsverfassungsgesetzes, dass genau dieses Betriebsverfassungsgesetz in sogenannten Tendenzbetrieben und Religionsgemeinschaften in Teilen nicht gilt.

„Auf Unternehmen und Betriebe, die unmittelbar und überwiegend 1. politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder 2. Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung, auf die Artikel 5 Abs 1 Satz 2 des Grundgesetzes Anwendung findet, dienen, finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung, soweit die Eigenart des Unternehmens oder Betriebs dem entgegensteht.“

Das heißt also: Durch den Tendenzschutz im Betriebsverfassungsgesetz werden die Verleger nach wie vor geschützt. Die Mitbestimmungsrechte der Mitarbeiter und die Mitwirkung von Gewerkschaften wird erheblich eingeschränkt.

Dass dieser Tendenzschutz abgeschafft werden solle, haben natürlich die Gewerkschaften immer wieder gefordert. Dem wurde entgegengehalten, dass es selbst im öffentlich-rechtlichen Rundfunk diese Tendenzen geben müsse. Da sollten sie allerdings einer gewissen Binnenpluralität unterliegen.

Journalistische Haltung und die Tendenz

Vor diesem Hintergrund müssen wir die gegenwärtige Situation sehen. Wir sind hier aktuell mit Forderungen konfrontiert, Journalisten müssten eine Haltung haben. Zugleich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen diese Haltung dann häufig nicht von einer politischen Gesinnung unterschieden wird, mitunter werden die beiden Begriffe auch schlicht verwechselt.

Gleichzeitig haben sich aber die großen Zeitungen gesellschaftlich gesehen so stark angenähert, dass gelegentlich sogar von einer Auflösung der klassischen verlegerischen Tendenz gesprochen wird. Der Tendenzschutz ist – so gesehen – dann eigentlich nur noch ein Herrschaftsinstrument, um die Mitwirkung von Arbeitnehmern in Medienbetrieben ein Stück weit abzuwehren.

Entideologisierung und Gesinnung

Das ist natürlich eine ganz spannende Diskussion. Schauen wir uns hier zunächst die Auflösung der klassischen journalistischen Tendenz in der Presselandschaft an. In diesem Zusammenhang hat Dietrich Krauß in einem ziemlich bemerkenswerten Beitrag festgestellt: „Diese an sich begrüßenswerte Entideologisierung hat ihren Preis: Die Verengung und Homogenisierung der veröffentlichten Meinung – oft mit starker Nähe zur Perspektive der politischen Eliten. Das stabilisiert ein elitäres Weltbild und führt zu einer Berichterstattung, die mit den Lebenswirklichkeiten breiter Bevölkerungskreise immer weniger zu tun hat.“[5]

Das heißt, wer heute taz und FAZ liest, spürt beispielsweise mitunter gar nicht mehr, dass die sich in der Darstellung eines bestimmten Ereignisses stark voneinander unterscheiden. Beispielsweise zu Beginn der Corona-Krise wurde das sehr intensiv von Menschen erlebt, die urteilten, die Berichterstattung sei stark an die Regierungslinie angeschlossen worden. Da habe eigentlich überhaupt keine Kritik an der Regierungslinie oder einzelnen Maßnahmen stattgefunden.[6]

Geschäftspresse und Gesinnungspresse

Das ist dann später ein wenig aufgelöst worden. Aber diese Kritik, die zum Teil auch ihre Berechtigung hat, ist immer noch in der Diskussion. Ich denke, hier ist in der Corona-Krise eine Entwicklung deutlich geworden, gleichsam wie unter einem Brennglas, die wir schon seit einigen Jahren haben. Was diese Kritik mit der Diskussion um die Gesinnung und Haltung von Jounalisten zu tun hat, müssen wir noch genauer betrachten. Allerdings ist für die Einordnung eine historische Betrachtung nötig, nämlich die zwischen Geschäftspresse und Gesinnungspresse, die in den 1890er-Jahren besonders stark betont wurde.

Die Geschäftspresse gründete sich nämlich in dieser Zeit, weil sie wirtschaftliche Fakten darstellen wollte, zum Beispiel eine bestimmte technische Entwicklung mit ihren wirtschaftlichen Konsequenzen. Diese Entwicklung sollte möglichst ohne großartige, unter Umständen dahinterliegende – Ideologie dargestellt werden. Sie sollte so aufbereitet werden, dass jeder Leser im Wirtschaftsprozess agil sein kann, dort eingreifen kann, weil er eben über alle Informationen verfügt, die für diesen wirtschaftlichen Prozess notwendig sind und für die entsprechenden geschäftliche unternehmerische Entscheidungen.

Verleger, die derartige Zeitschriften bzw. Zeitungen herausgebracht haben – in erster Linie handelte es sich um Zeitungen – haben sich in Absetzung von der Gesinnungspresse, die eine gesellschaftliche oder politische Position vertreten hat, eben Geschäftspresse genannt. Das ist eine sehr interessante Abgrenzung, die auch zum Teil damit verbunden war, dass man der Gesinnungspresse einfach nicht mehr zutraute, die Probleme der Zeit sachadäquat darzustellen und abzubilden.[7]

Die Forderung nach Haltung von Journalisten

Heute wird gefordert, Journalisten bräuchten eine Haltung. Journalisten ohne Haltung könnten eigentlich gar nicht mehr richtig arbeiten. Es komme viel stärker als auf Fakten auf diese Haltung des oder der Journalisten an.

Das wird teilweise sehr problematisch gesehen. Aber dahinter steckt in der Tat eine ausgesprochen wichtige Frage: Was muss ein Journalist denn tatsächlich an ethischer Reflexion, zum Teil auch an aus der ethischen Reflexion abgeleiteten moralischen Orientierungen mitbringen, um in diesem Beruf arbeiten zu können?

Hier wird also nach einer journalistischen Haltung gefragt. Und da haben wir in erster Linie die Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit. Denn ohne eine Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit kann ich journalistisch nicht erfolgreich arbeiten. Dann bin ich vielleicht ein Gesinnungsjournalist, der eine bestimmte Position vertritt. Dann bin ich vielleicht ein Fachmann für Public Relations, eine Kommunikationsfachkraft, die eine bestimmte Auftragskommunikation zu erledigen hat, und mit dieser Auftragskommunikation eine Positionierung vertreten muss.

Diese Verpflichtung auf Wahrhaftigkeit unterscheidet Journalisten von anderen Kommunikationsfachkräften, die in der Propaganda, die in der PR arbeiten. Public Relations ist eben nicht eine Spielart des Journalismus, sondern eben Auftragskommunikation, also etwas ganz anderes.

Ergebnisoffene Recherchen

Wer journalistisch sauber arbeitet, muss zudem immer ergebnisoffen recherchieren. Zu Beginn eines Rechercheprozesses habe ich natürlich oft eine Arbeitshypothese. Mit dieser Arbeitshypothese gehe ich an die Recherchen heran und kläre, welche Interviewpartner ich brauche, welche Experten ich befragen, welche Quellen ich mir erschließen muss. Im Laufe der Recherche muss ich dann eben auch diese Arbeitshypothese immer mal wieder anpassen oder neu aufstellen, zum Beispiel weil die befragten Experten ihr widersprechen oder weil die Quellenlage auf etwas anderes hindeutet.

Wir hatten das vor einiger Zeit. Ich habe mit einem Kollegen über die Digitalisierung in der Landwirtschaft recherchiert.[8] Unsere Arbeitshypothese, von der wir ausgegangen sind, war recht schlicht: Fünf oder sechs große Firmen wollen die Digitalisierung in die Landwirtschaft bringen und machen das erfolgreich. Und damit schaffen sie neue Monopole. Soweit die Arbeitshypothese.

Im Laufe der Recherchen stellte sich nun aber heraus, dass die so skizzierte Entwicklung nur am Anfang der Projekte zur Digitalisierung in der Landwirtschaft stattgefunden hatte. Da haben einige große Unternehmen tatsächlich versucht, ein Oligopol aufzubauen, die waren also jedes für sich an einem Monopol interessiert.

Aber als dann immer mehr auch kleinere Genossenschaften und Maschinenringe erkannt haben, dass sie sich dem Werben dieser Monopolisten, dieser an einem Oligopol interessierten Unternehmen, nicht ausliefern dürfen, haben die etwas ziemlich Kluges gemacht. Sie haben nämlich die entsprechenden Strukturen für eine Digitalisierung selbst aufgebaut und als Genossenschaft ihren Genossen weitergereicht, so dass es eine Vielzahl von Digitalisierungsprojekten auf genossenschaftlicher Ebene gab und somit die Monopolisierungsbestrebungen dieser Unternehmen unterlaufen werden konnten.

Unsere erste Arbeitshypothese haben wir also klar falsifiziert. Sie lautete: Da baut sich ein Monopol in der Landwirtschaft auf, eben weil digitalisiert wird. Aus den dann recherchierten Fakten ergab sich ein anderes Bild: Wir haben es hier mit einer Digitalisierung auf mehreren Ebenen zu tun, die auch sehr stark von Genossenschaften getragen ist. Und dadurch ist eben genau diese Monopolisierung in Deutschland weitgehend vermieden worden. Wir haben unsere Arbeitshypothese also im Laufe der Recherche ganz massiv verändert.

Konstitution journalistischer Wirklichkeit

Etwas Drittes sollten Journalisten übrigens auch immer tun, wenn sie eine journalistisch überlegte Haltung einnehmen und mit dieser Haltung veröffentlichen und arbeiten wollen: Sie sollten bei ihren Geschichten stets darauf reflektieren, wie denn gesellschaftliche Wirklichkeit hier konstituiert wurde von den unterschiedlichen Menschen, auch von den unterschiedlichen pressure groups, sogar von den unterschiedlichen Eliten. Genauso muss reflektiert werden, welchen Weltentwurf andere Beteiligte dagegen gesetzt haben, wie es dann zu einem Kompromiss und somit zu einer vermittelten Konstituierung der Wahrnehmung gekommen ist.

Diese Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit, die vor allen Dingen in der Phänomenologie sehr stark immer wieder thematisiert wurde, schlägt sich natürlich nieder auf das, was wir an realistischer Abbildung dieser Wirklichkeit leisten.[9] Denn diese Abbildung ist ein intersubjektiv vermittelter Konstitutionsprozess. Diesen Konstitutionsprozess müssen wir erhellen und dabei immer folgende Fragen stellen: Wie haben wir denn tatsächlich diesen Prozess der Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit rekonstruiert? Wir haben wir darauf reflektiert? Und welchen Einfluss hatte das auf die journalistische Abbildung, auf das, was wir jetzt lesen, sehen oder hören?

Minderheitsmeinungen sind wichtig

Dabei entspricht es auch in diesem Zusammenhang der reflektierten journalistischen Haltung, Minderheitsmeinungen zuzulassen und ihnen sogar aktiv Raum zu geben. Journalistische Haltung verlangt, nicht nur immer die Mehrheitsmeinung zu vertreten und mit der Mehrheitsmeinung mitzuschwimmen, mit dem sogenannten berühmten Mainstream, sondern eben auch Minderheitsmeinungen mit all ihren Perspektiven, ihren möglichen Perspektivwechseln, in all ihrer Buntheit eben auch tatsächlich abzubilden. Und das setzt natürlich den Schutz der Minderheitenmeinung voraus, für die Journalisten und Journalistinnen sehr stark eintreten müssen.

Wir Journalisten verpflichten uns zudem, sehr umfassend die Fakten zu prüfen. Das heißt: Wir misstrauen erst einmal jedem und allem. Wir misstrauen dem, was die Experten, was die Politiker, was die Wissenschaftler, was die Menschen uns erzählen und prüfen das alles noch einmal nach. Erst wenn diese Prüfung ergeben hat, dass die genannten und benannten Fakten zumindest nicht falsifiziert werden konnten, dann gehen wir davon aus, dass wir nach dieser Faktenprüfung auch veröffentlichen können.[10]

Aber das können wir dann eben auch nur tun, indem wir sehr unvoreingenommen an die ganze Geschichte herangehen, das heißt an die gesamte Recherche, an die gesamte Arbeit mit einem journalistischen Produkt und eben kein erkenntnisleitendes Interesse haben, das dann einfach in ein Produkt gegossen und im journalistischen Produkt direkt eins zu eins umgesetzt wird. (Was im journalistischen Alltag leider viel zu oft geschieht.)

Unsere Verpflichtung lautet: Ganz unvoreingenommen nehmen wir verschiedene Standpunkte wahr. Ergebnisoffen setzen wir tatsächlich auch diese Standpunkte in Beziehung zu dem, was wir an Quellen aufgetan haben, zu den Meinungen und Darstellungen der Experten und anderen Interviewpartner, und kommen dann zu einer Gesamtbetrachtung.

Das Objektivitätsideal als Grenzwert

Diese Gesamtbetrachtung sollte eben auch möglichst unterschiedliche Perspektiven auf das aufzeigen, was gerade gesellschaftlich diskutiert wird. Dabei hilft uns das Objektivitätsideal (mit der Betonung auf „Ideal“). Wir berichten natürlich nicht vollkommen objektiv und unvoreingenommen. Wir sind auch niemals neutral. Wir bringen stets unsere gesellschaftliche Positionierung mit ein.

Auch wenn wir von unserer politischen Vorliebe, von unserer politischen Meinung absehen, so wirkt sie sich natürlich auch immer konkret im Alltag aus. Aber indem wir genau darauf reflektieren, indem wir uns noch einmal klarmachen, dass Objektivität als Ideal für unsere Arbeit konstitutiv ist, setzen wir diese Hinsicht als gedankliches Korrektiv ein.

Wir wollen verhindern, dass wir zu stark subjektiv an die Berichterstattung herangehen. Da können wir dann eben auch genau diesen Perspektivwechsel hinbekommen. Denn das Objektivitätsideal ist deshalb enorm wichtig für unsere Arbeit. Folgen wir ihm, müssen wir möglichst unterschiedliche Perspektiven und Meinungen zur Geltung zu bringen.

„Audiatur et altera pars“ – immer auch den anderen Teil hören, lautet deshalb das erste Arbeitsprinzip im Journalismus. Das hat sehr konkrete Auswirkungen: Wir dürfen uns nicht nur auf eine Quelle stützen. Wir dürfen uns auch bei strittigen Themen nicht darauf beschränken, nur das einzubringen, was den eigenen Standpunkt bestätigt, sondern auch das berücksichtigen, was diesen Standpunkt unter Umständen in Zweifel zieht, in Misskredit bringt. Kurzum: Wir müssen die Faktenlage umfassend prüfen.

Emil Dovifat als Protagonist des Gesinnungsjournalismus

Genau das tun nämlich Gesinnungsjournalisten nicht. Die reflektierte journalistische Haltung gebietet aber genau das. Deshalb müssen wir Gesinnung und Haltung im Journalismus präzise voneinander unterscheiden. Das aber geschieht allzu oft nicht. Oft wird Gesinnung gefordert und für Haltung ausgegeben.

Ein wesentlicher Vertreter des Gesinnungsjournalismus, der auch auf heutige Journalisten, Verbandsfunktionäre und Journalismus Lehrende eine gewisse Attraktivität ausübt, ist Emil Dovifat.[11] Dieser Journalismuslehrer ist bereits in den 1920er Jahren sehr aktiv gewesen, er hat in der Weimarer Zeit als Medienmann der Zentrumspartei, als Zentrumspublizist sehr stark die damals jüngere Journalistengeneration geprägt. 1933 ist er dann auf die Linie der neuen Machthaber, also auf die der Nationalsozialisten eingeschwenkt und hat durch seine Lehrtätigkeit wiederum starken Einfluss auf junge Journalisten und Journalistinnen (wie zum Beispiel Elisabeth Noelle-Neumann) ausgeübt. Nach 1949 wiederum hat er sich sehr stark an Adenauer und dessen Christenunions-Regierung gehängt.[12]

Emil Dovifat hat in unserer Zeit offenbar wieder eine gewisse Attraktivität für Journalisten entwickeln können, auch in der Journalistenausbildung. Plötzlich taucht der alte Emil mit seinen gesinnungsjournalistischen Prinzipien und Strukturen wieder auf. In der Diskussion über eine Journalistenausbildung, in der auch journalistische Haltung vermittelt werden soll, beziehen sich einige Protagonisten wieder auf ihn und predigen einen neu aufgelegten Gesinnungsjournalismus.

Gesinnungsjournalismus aus Tradition

Dovifat ist also wieder ein diskutiertes Thema in der Journalistenausbildung, und zwar nicht im Sinne einer kritischen Betrachtung, wie das in den 1980er Jahren der Fall war. Das Journalistenzentrum Herne mit ihrem Vorsitzenden, der zugleich Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes ist, bezieht sich auf Dovifat als Vorbild, als gute Tradition, von der man profitieren kann.

Beispielsweise hat das Journalistenzentrum Herne am 15. Februar 2020 sogar auf Twitter damit geworben, in der Tradition Emil Dovifats auszubilden. „Wir bilden Journalistinnen und Journalisten weiter unabhängig und tarifgerecht aus. Seit Januar 2020 gibt es mit @jzherne eine neue Journalistenschule in Herne, die sich in die Tradition der Volontärskurse von Dovifat stellt.“

Daraufhin wurde eine ziemlich intensive Diskussion darüber geführt, welche Tradition von Dovifat denn hier wohl gemeint sei. Und es folgte eine Debatte, ob Gesinnungsjournalismus das sei, was wir gegenwärtig wirklich brauchen. Es gab natürlich eine Diskussion über die NS-Vergangenheit von Emil Dovifat und über die Ansprüche an „Traditionsgeber“ für eine moderne Journalistenausbildung.

Deutlich kam heraus, wie problematisch es ist, wenn dann der Gesinnungsjournalismus Dovifats als konstitutiv empfunden wird, den dieser nicht nur in der Zeit von 1933 bis 1945 vertreten hat, sondern auch für die Medien und die dort tätigen Journalisten in der Bundesrepublik forderte. Wenn man diesen Gesinnungsjournalismus als wichtig für die heutige Zeit in die Diskussion einbringt und als Tradition bezeichnet, auf die man sich in der Journalistenausbildung beziehen will, wird das spätestens dann hochproblematisch, wenn das vor der Folie der Diskussion über den Haltungsjournalismus geschieht.

Auf dem Weg zum strukturellen Gesinnungsjournalismus

Der Medienforscher Horst Pöttger hat das am 22. Februar 2020 auf WDR 5 als geradezu gefährlich bezeichnet. Er hat allerdings Unwissenheit der Verantwortlichen dahinter vermutet.[13] In der Diskussion über den „Traditionsgeber“ Emil Dovifat, nach dem das Journalistenzentrum Herne einen Seminarraum benannt hatte, ist hauptsächlich auf dessen Tätigkeit im Sinne nationalsozialistischer Journalistenaus- und -fortbildung in der Zeit von 1933 bis 1945 Bezug genommen worden.[14]

Im Zuge dieser Diskussion haben die Verantwortlichen des Journalistenzentrums Herne um den DJV-Bundesvorsitzenden Frank Überall zwar die Widmung des Seminarraumes an Dovifat aufgehoben[15], sich aber vom Gesinnungsjournalismus Dovifats zu keiner Zeit distanziert. Im Gegenteil: Einige Indizien sprechen durchaus für einen strukturellen Gesinnungsjournalismus, dem hier nachgegangen wird.

So hat der Vorsitzende des Trägervereins des Journalistenzentrums Herne, Frank Überall, zugleich DJV-Bundesvorsitzender, gegenüber dem WDR am 19. Februar 2020 den am Journalistenzentrum Herne vermittelten Gesinnungsjournalismus wie folgt begründet:

„Letztlich beziehen wir uns aber auch nicht auf das ‚Lebenswerk‘, sondern auf die objektive Richtungsentscheidung in den 1960er Jahren, eine qualitativ hochwertige und tarifvertraglich mit den Zeitungsverlegern fest vereinbarte Ausbildung von Volontärinnen und Volontären zu organisieren. In diesem Sinne spreche ich persönlich auch lieber von der „Düsseldorfer“ Tradition, die dann über Hagen nach herne (sic!) gekommen ist. Die in Teilen der Öffentlichkeit jetzt vorgenommene Zuspitzung auf den Namen Dovifat hat mit der Realität im Journalistenzentrum Herne nichts zu tun: Es geht um die Struktur und nicht um die Person.“[16]

Diese Struktur beschreibt Emil Dovifat in seinem Aufsatz „Die Gesinnungen in der Publizistik“[17] im Jahr 1963 sehr ausführlich. Dabei wird die Gesinnung des Journalisten zum „Mittel publizistischer Führung“[18], die sich „in alle Produktionsphasen“ einschalte, und zwar „unabdingbar“[19]. Das hat natürlich weitreichende Folgen für die journalistische Vermittlung: „In dieser Vermittlung spielen technisches und publizistisches Können eine ebenso große Rolle wie die Gesinnungen.“[20] Dovifats Schlussfolgerung lauten deshalb auch: „Auf die Gesinnung also kommt es an.“[21]

Das schlägt sich als Struktur auf die Journalistenausbildung nieder und wird infolgedessen den journalistischen Alltag dann auch bestimmen, und zwar letztlich als politische Publizistik, die gesinnungsbestimmt ist.[22]

Gesinnung ist nicht Haltung

Wer aufbauend auf dieser Tradition Journalismus vermitteln will, mit dieser Struktur Journalismus gestalten will in unseren heutigen Zeiten, tut dies nicht aus Unwissenheit, sondern macht die klare Vorgabe: Der Journalist möge mit seiner Gesinnung vorangehen und durch die Gesinnung ein Beispiel geben, und zwar im Sinne eines paternalistischen Staates.[23] Das ist natürlich äußerst problematisch! Denn letztlich lösen Journalismus Lehrende die drei wesentlichen Funktionen auf, die Journalismus in der rechtsstaatlich organisierten Demokratie wahrzunehmen hat. Wächterfunktion, Vermittlungsfunktion und Einordnungsfunktion werden damit unmöglich gemacht. Journalismus wird also kurzerhand abgeschafft.

In der aktuellen Debatte fordern Protagonisten wie Frank Überall und andere Verantwortliche des Journalistenzentrums Herne, die auch gleichzeitig als Funktionäre im Deutschen Journalisten-Verband tätig sind, journalistische Haltung ein, beziehen sich – zumindest für die Journalistenausbildung – dann aber in der Struktur auf die gesinnungsjournalistische Tradition Dovifats.[24]

Deshalb ist es auch so wichtig, journalistische Haltung und die Gesinnung des Journalisten deutlich und präzise zu differenzieren. Das hat Claus Richter in seinem Gastbeitrag „Wer predigen will, sollte in die Kirche gehen“ auf cicero.de am 28. Juni 2020 auch getan.[25] Er weist darauf hin, dass der neue Journalismus Haltung ins Feld führe, wenn Gesinnung gemeint sei.

Journalistische Haltung als Arbeitseinstellung

Haltung unterliegt Richter zufolge ständiger Prüfung und auch der Selbstkritik, Gesinnung hingegen nicht. Diese Verwechslung von journalistischer Haltung und Gesinnung im Journalismus hat Konsequenzen. Denn wer auf diese Weise Gesinnung und Haltung verwechselt, der will Interessen durchsetzen – klare politische Interessen.

Wer das tut, will gerade nicht das Ergebnis ergebnisoffener Recherchen präsentieren, bei denen sich unter Umständen noch einmal im Verlauf der Recherche auch die Arbeitshypothese geändert hat. Wer Gesinnung und Haltung verwechselt, der will ideologisch, der will gegebenenfalls sogar moralisch verbrämt über gute und schlechte, erwünschte und unerwünschte Inhalte bzw. Positionen entscheiden und Wirklichkeit zum Teil ausblenden, nämlich die Wirklichkeit, die nicht in seine Position passt. Er will ideologisch als Moralist urteilen, statt ethisch zu reflektieren.

Die ethische Reflexion leitet uns dann zwar zu einem moralischen Urteil, aber das ist dann, wenn es gut ethisch reflektiert ist, ideologiefrei. Wer jedoch Gesinnung und Haltung verwechselt, der verwechselt das Einordnen von Fakten mit dem Kommentieren von Fakten. Wer das tut, arbeitet meinungsbasiert, nicht faktenbasiert.

Verzicht auf Volkspädagogik

In diesem Zusammenhang liefert Gabriele Krone-Schmalz, für die ARD lange Jahre unter anderem in Moskau unterwegs, eine sehr gute Zusammenfassung: „In letzter Zeit ist viel von ‚Haltung‘ die Rede. Man brauche eine Haltung als Journalist, die auch durchscheinen oder gar die Arbeit bestimmen dürfe. Ich bin skeptisch. Wenn Haltung darauf hinausläuft, dass ich mich als Journalist berufen fühle, die Mediennutzer auf den ‚richtigen‘ Weg zu führen, dann ist Haltung aus meiner Sicht unprofessionell und im Grunde auch reichlich arrogant.“[26]

So sind wir also gut beraten, auf diesem unsicheren Terrain deutlich, präzise und begründet die verlegerische Tendenz, die sich mitunter als journalistische tarnt, die belehrende Haltung des volkspädagogisierenden Journalisten und den strukturellen Gesinnungsjournalismus von der journalistischen Haltung abzugrenzen. Die journalistische Haltung ist etwas ganz anderes als der Gesinnungsjournalismus.

Letzterer ist immer ideologisch bestimmt, teilweise moralisch verbrämt und führt in eine fatale Engführung des Journalismus. Deshalb müssen wir sehr aufpassen, wenn wir von Haltung sprechen und diese sogar für Journalisten einfordern, dass wir nicht in einen Gesinnungsjournalismus (womöglich Dovifatscher Prägung) verfallen.

Denn nur wenn wir diese Unterscheidungen sorgfältig treffen, dann kann es uns auch gelingen, faktenbasiert zu berichten und unseren Aufgaben als Journalistin, als Journalist auch gerecht zu werden – unvoreingenommen und der Wahrhaftigkeit verpflichtet und dabei die eigene Berichterstattung auf ihre Konstitutionsbedingungen reflektierend.