„Zu viel Kosmetik in der Agrarpolitik“
Der Vogelfragebogen: Heute mit Raffael Ayé, dem neuen Geschäftsführer von Birdlife Schweiz
Raffael Ayé beschäftigte sich in seiner Doktorarbeit mit der Tuberkulose in Tadschikistan. Das hat nun so gar nichts mit Ornithologie zu tun. Doch während seiner epidemiologischen Feldforschung in diesem zentralasiatischen Land konnte Ayé seiner Leidenschaft nachgehen, die ihn seit seiner Kindheit begleitet: der Vogelkunde. Zusammen mit zwei Kollegen setzte er sich das Ziel, die dort lebenden Vogelarten zu bestimmen. Ihr ornithologischer Führer „Birds of Central Asia“ erschien 2012.
Nach der Rückkehr aus Tadschikistan machte Ayé sein Interesse für Ornithologie und Naturschutz zum Beruf und trat bei Birdlife Schweiz eine Stelle in der Artenförderung an. Seit dem 1. Januar 2021 ist er nun Geschäftsführer dieser Naturschutzorganisation, mit rund 67.000 Mitgliedern der drittgrössten in der Schweiz.
Die Arbeit wird Ayé so schnell nicht ausgehen. Vor allem die Vogelarten des Kulturlandes stehen in der Schweiz stark unter Druck. Die Schweizer Landwirtschaftspolitik hat Ayé auch schon einmal als „Schlamassel“ bezeichnet. Gerade wurde eine dringend notwendige Agrarreform gestoppt. Während seiner Zeit als Artenförderer konnte Ayé Beziehungen zu vielen Landwirtinnen und Landwirten knüpfen. Jetzt muss er in der Politik Verbündete suchen.
Für die „Flugbegleiter“ hat er den Vogelfragebogen beantwortet.
1. Wie haben Sie den Zugang zur Vogelwelt gefunden?
Verschiedene Erlebnisse haben dazu beigetragen. Ganz prägend war eine Sommerwanderung mit meinem Vater als ich rund 10 Jahre alt war. Überraschend entdeckte ich unerwartet nahe der Waldgrenze ein Pirol-Männchen: knallgelb, plötzlich da. Und natürlich war ich stolz. Das Unerwartete reizt.
2. Was bedeutet Ihnen Vogelbeobachten im Alltag – und was hält Sie vom Beobachten ab?
Vogelbeobachten bedeutet mir sehr viel. Ich nehme fast überall und immer den Feldstecher mit (Fernglas für die deutschen Leserinnen und Leser, aber für mich halt doch der Feldstecher). Bei Birdlife kann ich zwar für die Vögel und die Natur arbeiten – zu viel Arbeit hindert mich aber gleichzeitig daran, mehr zu beobachten.
3. Teilen Sie ein besonders schönes Beobachtungserlebnis mit uns?
Es gab Tausende tolle Erlebnisse. Für mich persönlich sind und bleiben aktiv ziehende Vögel das Grösste: zum Beispiel sieben Wespenbussarde, die in der Morgensonne auf Augenhöhe an unserem Standort auf einer Jurafluh vorbeizogen, oder ein lockerer Trupp von vier ziehenden Blauracken bei Montpellier.
4. Bei welchen Vögeln tun Sie sich bei der Bestimmung schwer?
Bei Grossmöwen frage ich gerne ein paar Bekannte um Rat.
Göttliches Vogelkonzert im mesopotamischen Auenwald
5. Welchen Gesang hören Sie am liebsten?
Vogelstimmen sind ein Lieblingsthema von mir in der Ornithologie; ich könnte stundenlang davon schwärmen. Das Vogelkonzert im mesopotamischen Auenwald, wo Sie zehn Turteltauben gleichzeitig hören und dazu unzählige Grasmücken, Spötter und den überlauten Braunliest – göttlich. Auch die Tonkulisse eines Feuchtgebiets in der Dämmerung mit Uferschnepfen, meckernden Bekassinen und dem Liebesruf von Brachvögeln. Als Jugendlicher habe ich das im Vorarlberger Rheindelta mehrfach erleben dürfen; heute müssen wir dafür weit reisen. Oder einfach die erste Amsel, die ich oft um Weihnachten herum wieder singen höre und die ankündigt, dass die dunkle Winterzeit von beschränkter Dauer ist…
6. Gibt es eine Vogelart, die Sie nicht ausstehen können?
Nein.
7. Wenn Sie sich CO₂-frei an einen beliebigen Ort der Erde zum Vogelbeobachten beamen könnten, wohin?
Neu-Guinea für die Paradiesvögel, Laubenvögel, Drosselflöter und viele weitere Arten. Ich war schon dort und habe mein Gewissen mit einer teuren Spende für den Tropenwald getröstet. Ich würde mich gerne jedes Jahr wieder hinbeamen lassen.
8. Was machen Sie mit Ihren Beobachtungen?
Geniessen! Und mindestens zur Brutzeit auch fleissig auf ornitho.ch melden.
9. Wenn Sie sich in einen Vogel verwandeln dürften, welcher wäre das?
Ein Baumfalke. Der kann alles: stundenlang den wendigen Libellen hinterherjagen, in horrendem Tempo eine Schwalbe einholen, den Marathon bis ins tropische Afrika zurücklegen, aber eben auch 'mal eine Stunde regungslos auf seinem trockenen Ast ruhen.
10. Wenn Vögel unsere Sprache verstehen könnten, was würden Sie ihnen gerne sagen?
Ich würde sie gerne davor warnen, welcher Acker demnächst gepflügt und welche Wiese viel zu früh geschnitten würde.
11. Wenn Sie sich einen Begleiter zum Vogelbeobachten aussuchen dürften, wer wäre das?
Die Mehrheit meiner bisherigen Begleiterinnen und Begleiter würde ich sofort nochmals mitnehmen!
Die Fakten werden sich durchsetzen
12. Wer ist Ihr Held, Ihre Heldin in Biologie und Naturschutz?
Mein Held ist der Fakt. Er wird verleugnet und verkannt. Er wird durch Partikularinteressen verdreht und marginalisiert. Aber er ist so geduldig oder stur, dass er irgendwann in ferner Zukunft doch zu den Gewinnern zählen wird.
13. Auf welche ornithologische Frage hätten Sie gerne eine Antwort?
Warum die eurasischen Vogelarten beinahe durchgehend weniger farbig sind als die amerikanischen in denselben Klimazonen.
14. Was tun Sie persönlich zum Schutz der Vogelwelt?
Ganz bewusst Produkte bei Landwirten kaufen, von denen ich persönlich weiss, wie viel sie zugunsten der Biodiversität umsetzen. Das sind z. B. Landwirte aus dem trinationalen BirdLife-Steinkauzprojekt oder vom Farnsberg. Ausserdem gehe ich Neophyten jäten, Hecken pflegen, Bäume pflanzen – und leiste viele unbezahlte Überstunden im Büro.
Der Naturschutz macht nicht immer Freude
15. Wie macht Umwelt- und Naturschutz Ihnen am meisten Freude?
Nun, manchmal macht er gar keine Freude, weil die Widerstände in der Politik und von Interessengruppen enorm sind und jeden Fortschritt verzögern, schmälern oder gar verhindern. Aber der Naturschutz ist notwendig. Freude macht es, wenn alle Beteiligten die Bedeutung der Biodiversität und Notwendigkeit ihres Schutzes erkannt haben und entsprechend handeln. Und im Kleinen macht der Pflegeeinsatz in Arbeitskleidern natürlich auch Spass.
16. Was ist Ihre grösste Umweltsünde? Unter welchen Umständen würden Sie darauf verzichten?
Ich gebe mir Mühe, umweltbewusst zu leben, Gebrauchsgegenstände so lange wie möglich zu nutzen und trotz günstigerer Alternativen reparieren zu lassen. Ich versuche auch, den Konsum tierischer Produkte zu reduzieren, fahre Velo und Zug. Meine grössten Sünden sind Flugreisen. Wenn ich zwei Monate Ferien pro Jahr hätte, würde ich mit dem Schiff über den Ozean fahren.
17. Wenn Sie für einen Tag in der Schweizer Regierung sässen und eine Massnahme zum Schutz der Vogelwelt umsetzen könnten, was wäre das?
Ich würde die Agrarpolitik endlich ernsthaft reformieren, da wurde bisher zuviel Kosmetik und geschickte Kommunikation betrieben. Meine liberale Agrarpolitik würde sich auf die echten Staatsaufgaben und damit auf die Themen Allgemeingüter und Externalitäten konzentrieren. Biodiversität und Klima wären damit an vorderster Stelle.
Die Mehrheit der Politiker ignoriert die Biodiversitätskrise
18. Was beunruhigt Sie für die Zukunft der Artenvielfalt am meisten?
Dass die Mehrheit der Politikerinnen und Politiker gerade mal halbwegs (halbwegs, sic!) die Klimakrise wahrnimmt, aber die Biodiversitätskrise noch komplett ignoriert. Und dazu womöglich noch Naturschutz mit Tierschutz gleichsetzt.
19. Woher nehmen Sie Hoffnung für die Zukunft der Vogelwelt?
Hier würde ich drei Hauptaspekte nennen. Erstens spüre ich im Birdlife-Verband, bei der Klimajugend und in vielen weiteren Kreisen ein riesiges Engagement. Zweitens sehe ich in unseren Projekten, dass mit gar nicht so grossen finanziellen Mitteln tolle Resultate möglich sind. Eine biodiversitätsverträgliche Landwirtschaft ist möglich. Und drittens können wir uns den Erhalt der Biodiversität problemlos leisten: Die heutigen Ausgaben für Naturschutz sind im Promillebereich des Staatshaushalts; für eine Einzelperson ist die Investition in die Biodiversität nicht gewinnbringend, aber für die Gesellschaft extrem lohnend!
20. Wenn Sie sich von der Evolution eine neue Vogelart wünschen dürften, wie würde sie heissen?
Mir genügen die heute existierenden Vogelarten vollauf. Führen Sie sich die Leistung eines zehn Gramm schweren Fitis vor Augen, der von Nordostsibirien mindestens 12.000 km nach Ostafrika ziehen muss. Bewundern Sie das Geschick eines Goldflügelhäherlings, der trotz seiner Grösse und leuchtend rotgoldenen Flügeln mehrmals um Sie herum hüpfen kann, ohne dass Sie das Tier einmal in den Feldstecher kriegen. Schauen Sie sich ein Sommergoldhähnchen genau an, besonders die leicht bronze-schimmernden Halsseiten!