Die Slowakei – das Nadelöhr für die Flucht aus der Ukraine

Viele Kriegsflüchtlinge weichen von der polnischen auf die slowakische Grenze. Das Grenzdorf Vyzhne Nemecke ist zu einem wichtigen Übergang geworden.

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
5 Minuten
Menschen stehen und bewegen sich an der slowakisch-ukrainischen Grenze. Sie warten darauf, in die EU einreisen zu können.

150.000 Menschen sind bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine in das EU-Land Slowakei geflüchtet. Im Grenzort Vyzhne Nemecke arbeiten die Hilfsorganisationen auf Hochtouren.

Lenka steht am kleinen Straßengrenzübergang von Vyzhne Nemecke und schaut sich jede aus der Ukraine einreisende Frau ohne Kind auf dem Arm genau an. Doch keine wollte bisher zu ihrem Handyfoto passen. Und Frauen ohne Kinder sind in der Minderheit. Trotzdem ist die Lage unübersichtlich, denn neben PKW können nun auch Fußgänger die Grenze passieren.

Auf der slowakischen Seite warten Zelte des Roten Kreuzes und der Malteser auf die ankommenden Flüchtlinge. Viele haben sich erst einmal dort hingesetzt und bekommen eine warme Suppe. Lenka wartet deshalb am Straßenrand möglichst nahe der Zollkontrolle. Sie hat einen Namen und die Passnummer der jungen Frau aus Kiew. Der letzte Kontakt kam vor zwei Stunden zustande. «Nun ist ihr Smartphone offenbar tot», sagt die Mittdreißigerin aus Bratislava.

Fünfeinhalb Stunden hat sie zusammen mit ihrem Freund in den frühen Morgenstunden zurücklegt, 510 Kilometer, um eine ihr wildfremde 22-jährige Studentin aus Marokko an der Grenze zur Ukraine zu treffen und in Sicherheit zu bringen. Mitten in der Nacht habe plötzlich das Telefon geklingelt, ein ehemaliger Arbeitskollege aus Paris habe sie um diesen Freundschaftsdienst gebeten. «Wir müssen einander helfen in dieser schwierigen Situation», sagt Lenka. Sie seien deshalb am frühen Morgen sofort losgefahren.

Im Grenzdorf Vyzhne Nemecke arbeiten die Helfer auf Hochtouren

Auf der slowakischen Seite des Straßenübergangs am Rande der ukrainischen 120.000-Einwohnerstadt Uschgorod stehen an diesen frühen Nachmittag weit mehr Personen als das Grenzdorf Vyzhne Nemecke (dt. Oberdeutschdorf) Einwohner zählt. «So schlimm war es hier noch nie, das ist die Katastrophe», sagt Gemeindepräsident Peter Suza und verwirft überfordert die Hände. Gleich soll eine Regierungsdelegation aus dem fernen Bratislava in seinem 232-Einwohnerdorf aufkreuzen. Suza fühlt sich unvorbereitet für den hohen Besuch, hat keine Zeit für die hier im Gegensatz zu Polen noch ganz spärliche Presse.

Auf der Wiese hinter dem Grenzübergang stellt die örtliche Feuerwehr derweil das dritte alte Militärzelt auf. Noch fehlen Feldbetten und Öfen, noch sitzen die Flüchtlinge aus der Ukraine auf ihren Koffern und Taschen in der Sonne. Doch die Nacht kommt bald, und sie ist bitterkalt.

Mehrere Männer bauen im Grenzdorf Vyzhne Nemecke ein Zelt auf, um Geflüchtete aus der Ukraine unterzubringen
Noch fehlen Öfen und Feldbetten – aber die Hilfsorganisationen arbeiten mit aller Kraft

Auffallend viele Flüchtlinge in Vyzhne Nemecke sind keine Ukrainer, sondern Studierende aus Ghana, Nigeria, dem Maghreb oder Indien. Nur gut zwei Kilometer von hier hat auch die Universität von Uschgorod ihr Budget mit englischsprachigen Studiengängen aufgebessert. Von den Hörsälen der erhöht gelegenen Uni konnte man den Blick immer wieder über das slowakische Tiefland streifen lassen.

«Ukrainische Frauen und Kinder werden an der Grenze mit Prioriät abgefertigt, das ist ja klar und das versteht jeder»

Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die zwei Kilometer bis zur EU-Außengrenze zu einem Nadelöhr für Geduldige geworden. In Vyzhne Nemecke an diesem Nachmittag angekommene Studenten erzählen von über zwölf Stunden Wartezeit, nur um die ukrainische Passkontrolle in Uschgorod zu passieren. Weitere sechs Stunden brauchten fünf Marokkaner, die aus Sicherheitsgründen zusammen reisen, um es von dort die rund hundert Meter in die Slowakei zu schaffen.

Drei Geflüchtete aus Charkiw in der Ostukraine sitzen und stehen warm bekleidet an einem Häuschen an der slowakischen Grenze
Auf der Flucht aus Charkiw in der Ostukraine: Marokkaner warten an der Grenze

«Ukrainische Frauen und Kinder werden an der Grenze mit Prioriät abgefertigt, das ist ja klar und das versteht jeder», berichtet Salma, die im fünften Jahr Medizin studiert hat. Salma ist durchfroren und desorientiert. Die marokkanische Botschaft hat der Gruppe empfohlen, sich auf den Flughafen von Budapest durchzuschlagen und von dort nach Hause zu fliegen. Doch die jungen Leute haben sich an die Freizügigkeit in der Ukraine gewöhnt, ihnen steht wenig Sinn nach den strengen moralischen Regeln ihrer Elternhäuser in Marokko. «Dieser Krieg hat uns alles genommen», sagt Salma. Dann fügt sie an: «Den Ukrainern geht es viel schlimmer, sie verlieren ihr Land, ihre Heimat, viele Frauen auch ihre Männer».

Die Flucht, nachdem in Kiew die Panzer kamen

Glück im Unglück hatten da Sergej und Julia, die fast schon aufgeräumt für ein Selfie vor dem Grenzübergang posieren. Vor zwei Tagen sind sie aus Butscha bei Kiew geflohen, als zuerst der nahe Flughafen in Gostomel angegriffen wurde, und dann erste russische Panzer in der Stadt auftauchten. Sergej ist zwar mit seinen gut vierzig Jahren im wehrfähigen Alter, doch da er mehr als vier Kinder hat, konnte er ausreisen. Nun reiht er auch noch seine Kinderschar zwischen 5 und 17 Jahren vor dem schwarzen Van für eine Erinnerungsfoto auf.

Eine Frau und ein Mann stehen auf der Straße. Sie sins nach dem Angriff auf den Flughafen von Kiew in die Slowakei geflüchtet
Sergej und Julia aus Butscha bei Kiew haben es geschafft

Die Großfamilie will eigentlich nach Krakau, wo sie polnische Freunde hat. Doch auf der Hinfahrt haben Sergej und Julia von den bis zu 60-stündigen Wartezeiten an den sieben ukrainisch-polnischen PKW-Grenzübergängen erfahren. «So sind wir eben ganz am Ende der Ukraine in Uschgorod gelandet», lacht Sergej. Große Erleichterung, aber auch Müdigkeit steht in seinem Gesicht. Gut 300 Kilometer sind es von Vyzhne Nemecke nach Krakau. «Fünf Stunden, sagt GoogleMaps, das ist nichts, und hier gibt es sogar wieder Internet», freut sich Sergej.

150.000 sind in die Slowakei geflüchtet

Laut dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat die Slowakei bis Dienstagabend gut 150.000 Flüchtlinge an seinen vier Grenzübergängen zur Ukraine aufgenommen. Das sind 7,5 Prozent aller Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die meisten kommen weiterhin in dem viel größeren Polen mit seiner ein bis zwei Millionen Menschen zählenden ukrainischen Diaspora an. In den 14 Tagen seit Kriegsbeginn waren es laut dem polnischen Grenzschutz 1,4 Mio. Laut dem polnischen Grenzschutz sind sechs Prozent von ihnen weder Polen (ein Prozent) noch Ukrainer (93%).

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