Italienische Verhältnisse

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten
Silvio Berlusconi schüttelt grinsend einem Mann die Hand

Italien ist so etwas wie das konstitutionelle Experimentierlabor Europas. Was wurde dort nicht alles schon ausprobiert und vorweggenommen in den letzten 25 Jahren, was später auch auf der anderen Seite der Alpen Schule machte: Zerfall der Volksparteien rechts wie links, charismatische Volkstribunen und Bewegungsparteien an ihrer Stelle, separatistische Solidaritätsaufkündiger in den ökonomisch glücklicheren Teilen des Landes, dauernde Neuwahlen, Parlamentsmehrheit immer schwieriger herzustellen, und um das zu ändern, wird am Wahlrecht herumgefummelt, bis das Verfassungsgericht dazwischen geht…

An diesem Sonntag wählt Italien ein neues Parlament, und gerade aus deutscher Perspektive gibt es mehr als nur einen Anlass, sich für diesen Vorgang lebhaft zu interessieren. Ein Gewimmel von Mittel- und Kleinparteien, das kaum noch eine plebiszitäre Deutung des Wahlausgangs zulässt, die Innen-Außen-Grenze zwischen systemkonform und extremistisch-igitt ist völlig verwischt, alle möglichen Koalitionsvarianten sind denkbar, und was nicht denkbar ist, bestimmt sich vor allem danach, was einzelne, in ihrer oppositionellen Entrüstungshaltung bequem eingerichtete Player für sich an Machtoptionen ausschließen. Ist das auch unsere Zukunft? Gut möglich. Könnte sogar unsere Gegenwart sein.

An diesem Sonntag erfahren wir nämlich auch noch obendrein, ob die SPD-Basis ihrer Parteispitze den Weg in die immer noch und ganz kontrafaktisch so genannte „Große Koalition“ freigibt oder nicht. Die NoGroKo-Kampagne hat insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit den italienischen Cinque Stelle und anderen Blockierbolzen der parlamentarischen Mehrheitsfindung, als sie die Oppositionsrolle als Möglichkeit verklärt, scheinbar unkorrumpiert von den Zumutungen des politisch Möglichen und des dauernden Kompromisseschmiedens sozusagen bei sich selbst und mit sich im Reinen zu bleiben. Man hat zwar nichts zu melden, aber das wenigstens aus vollem Herzen. Lieber gar nicht regieren als falsch, sagte Christian Lindners FDP, als sie Jamaika platzen ließ, und sollte NoGroKo obsiegen, dann aus dem gleichen Argument: Das Maß an Macht, zu dem uns das Wahlergebnis Zugang verschafft, ist uns nicht genug. Wir wären nicht mehr wir, wenn wir das abnehmen. Dann lieber nichts als das.

Die SPD war, anders als die Union, noch nie ein Kanzler_innenwahlverein, der sich hinter jeder versammeln kann, die ihn mit Aussicht auf Erfolg an die Macht führt, zu welchen kaum definierten, irgendwie bürgerlich-konservativen und damit im Zweifel vernünftigen Zwecken auch immer (Union eben, Widersprüchliches vereinend). Die SPD ist eine Programmpartei, sie schätzt und fordert ein Minimum an programmatischer Konsistenz und Konkretion, sie will an die Macht, um etwas Bestimmtes damit zu machen, unter wessen Führung auch immer (und macht ihren Anführern das Leben zur Hölle, wenn sie mit dem, was sie will, über Kreuz geraten). Das mag in diesen komplizierten Zeiten nicht mehr so leicht durchzuhalten sein wie früher. Aber das ist ihr eigenes Problem, und sie kann von niemandem Verständnis und Geduld erwarten, wenn sie sich jetzt vier Jahre Oppositions-Auszeit nehmen will, um wieder zu sich selbst zu finden, noch dazu ohne jede greifbare Aussicht auf Erfolg. Warum in aller Welt soll denn irgendjemand eine Partei wählen, die sich in die Burnout-Reha zurückzieht, anstatt ihren Job zu machen und das Maß an Macht, das ihr entsprechend ihrem Wahlergebnis angeboten, ja aufgedrängt wird, gefälligst auch anzunehmen? Aus Mitleid vielleicht?

Die italienischen Verhältnisse, in denen wir bereits bis zu den Waden stecken, sind kein Vergnügen. In ihnen gedeihen Vaffanculo-Schreier, Populisten, Rassisten und Sexisten ebenso wie grinsende Zyniker, die sich dafür wählen lassen, bei der ohnehin erwarteten Selbstbereicherung wenigstens eine gute Show abzuliefern. Gegen eine solche Konkurrenz kommt man nicht mit „programmatischer Erneuerung“ an, sondern mit Leuten, die einen Gegensatz zu dieser Konkurrenz dadurch aufbauen, dass sie außen-, finanz-, sozial-, justiz-, familien-, umwelt- und ganz generell regierungspolitische Verantwortung übernehmen und sich im Rahmen des sozialdemokratisch Wünsch- und koalitionsarithmetisch Erreichbaren tüchtig in die Riemen legen, wozu ja nun wahrhaftig Anlass genug besteht.

Neutrale Diener des Staates

Dies war eine außerordentlich ereignisreiche Woche auf dem Verfassungsblog; wir sind teilweise mit dem Hochladen der Artikel kaum noch hinterhergekommen. Zum Thema SPD-Mitgliederentscheid, den manche verfassungsrechtlich problematisch finden wollen, beziehen DANA SCHIRWON und JANWILLEM VAN DE LOO Stellung und kommen zu dem Schluss: An den Bedenken ist überhaupt nichts dran.

Aus deutscher Sicht war der Höhepunkt der Woche sicherlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall der früheren Bundesbildungsministerin Johanna Wanka und ihrer „Roten Karte“ an die AfD, was aus Karlsruher Sicht die der Bundesregierung von Verfassungs wegen auferlegten Neutralitätspflicht widersprach. KLAUS FERDINAND GÄRDITZ erinnert daran, dass auch Bundesministerinnen Politik machen und man das Problem einer Bundesregierung, die mit Staatsmitteln Wahlkampf macht und den Parteienwettbewerb verfälscht, auch mit anderen verfassungsrechtlichen Mitteln in den Griff kriegen kann als mit einer solchen rigiden und unpolitischen Neutralitätspflicht.

Meanwhile in Polen: WOJCIECH SADURSKI beschreibt, was die PiS-Regierung in Warschau sich in Sachen Wahlrecht hat einfallen lassen, um zu verhindern, dass ihr womöglich irgendwelche neutralen Wahlaufseher in punkto Wahlmanipulation fortan noch Scherereien bereiten können. MARCIN MATCZAK berichtet, wie die PiS nach ihrer Kaperung des Nationalen Justizrat dieses Gremium jetzt mit Leuten nach ihrem Geschmack besetzt.

Der Vorschlag der EU-Kommission, Polen als „ernsthafte Gefahr“ für die Rechtsstaatlichkeit in der Union zu markieren, wird vom Parlament unterstützt, aber der Rat, auf dessen Vier-Fünftel-Mehrheit es ankommt, überlegt noch. Alles, was es zu diesem Artikel-7-Verfahren zu fragen, zu wissen und zu bedenken gibt, haben KIM LANE SCHEPPELE und LAURENT PECH in einer zehnteiligen Serie von Fragen und Antworten zusammengetragen, die uns auch über die nächste Woche noch begleiten wird.

Nicht nur die Kommission wird aktiv gegen Polen, sondern auch der Europäische Gerichtshof bereitet sich vor, das zu tun, und zwar mit bemerkenswerter Robustheit in der Ausgestaltung des dazu nötigen Rechtsrahmens. In einem erst mal eher unauffällig erscheinenden Urteil zur Richterbesoldung in Portugal hat der Luxemburger Gerichtshof seine Möglichkeiten, die Rechtsstaatlichkeit Polens auch außerhalb des strikt europarechtlich regulierten Bereichs zum Thema machen zu können, radikal ausgeweitet. Wie, und was daraus folgt, hat MICHAL OVÁDEK analysiert.

Ein weiteres Urteil aus Luxemburg mit weitreichenden Folgen betrifft die Frage, ob die EU mit Marokko ein Fischereiabkommen schließen darf, das auch das völkerrechtswidrig besetzte Gebiet der Westsahara umfasst – mit anderen Worten, ob und wie das Völkerrecht die außenpolitischen Möglichkeiten der EU beschränkt. JORIS LARIK beschreibt, was herausgekommen ist.

Auch der Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg wollte nicht beiseite stehen in dieser jurisprudenziell ungewöhnlich produktiven Woche und hat sein Urteil im Fall einer ukrainischen Studentin verkündet, die die Kühnheit besessen hatte, aus Protest gegen die Vernachlässigung von Kriegsveteranen auf der Ewigen Flamme des Grabmals des Unbekannten Soldaten eine Pfanne voller Spiegeleier zu erhitzen. Da verstand auf einmal auch die Mehrheit der EGMR-Kammer keinen Spaß mehr, und wie sie dies mit der Meinungsfreiheit der Studentin in Einklang zu bringen versucht, habe ich hier aufgeschrieben.

In Sachen Brexit liegt der Entwurf der EU-Kommission für das Ausstiegsabkommen vor, sehr zum Missfallen der britischen Regierung – aber wenigstens, so DIMITRY KOCHENOV, enthält er kein Wort zu der Idee, den Brit_innen post brexitum eine Art Ersatz-Unionsbürgerschaft warmzuhalten. Diesen von Guy Verhofstadt und anderen propagierten Vorschlag hält der nicht mit deutlichen Worten sparende Kochenov für einen regelrechten Verrat an allem, was die Unionsbürgerschaft wertvoll macht, und an der britischen und europäischen Demokratie obendrein.

ANDREW DUFF ärgert sich wiederum über Ratspräsident Donald Tusk und dessen Geschick, heikle EU-Verfassungsthemen mit kühnem Schlag ins Unterholz zu befördern, vom Spitzenkandidatenprozess über die Verkleinerung der Kommission bis zu den transnationalen Listen.

Ebenfalls im Unterholz ist einstweilen Angela Merkels Vorschlag gelandet, der Bereitschaft der Osteuropäer, Flüchtlinge aufzunehmen, durch eine Umverteilung der Strukturfördermittel auf die Beine zu helfen. J. OLAF KLEIST hält den Vorschlag für gar nicht schlecht.

Das Thema Finanzmarktregulierung ist zurück auf der globalen Bühne, der Bitcoin-Blase sei Dank, die ihre Nerd-Nische längst verlassen und zu einem Problem von möglicherweise systemdestabilisierenden Proportionen herangewachsen ist. MATTHIAS GOLDMANN und GRYGORIY PUSTOVIT beschreiben, wie bemerkenswert erfolgreich die G20-Staaten bislang damit waren, ihr durch bloße Ankündigungen und lautes Nachdenken doch immer wieder genügend Luft abzulassen, und überlegen, ob wir da gerade Zeuge der Geburt eines ganz neuen Regulierungsansatzes werden.

Ein Verfassungsdrama ganz besonderer Art hat sich in den letzten Wochen in Peru abgespielt, wo der amtierende, wegen Korruptionsvorwürfen von der Amtsenthebung bedrohte Präsident Pedro Pablo Kuczynski den ziemlich blutverschmierten Ex-Diktator Alberto Fujimori begnadigt und daraufhin dessen Sohn mit seiner Stimme im Abgeordnetenhaus die Amtsenthebung des Präsidenten gestoppt hat. Der peruanische Verfassungsrichter Carlos Ramos Núñez hat zu diesem Vorgang und seinen verfassungsrechtlichen Implikationen vorige Woche in Frankfurt beim Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte einen Vortrag gehalten, dem ich auch beiwohnen durfte. AGUSTÍN CASAGRANDE berichtet.

Anderswo

MEHRDAD PAYANDEH attestiert der AfD für ihren Bundestagsantrag, den Journalisten Deniz Yücel zu „missbilligen“, ein Verständnis von der Rolle des Bundestags im Verhältnis zur Presse, die „auf höchst zweifelhaften, um nicht zu sagen verstörenden verfassungsrechtlichen Vorstellungen“ beruht.

MARKUS W. GEHRING ist nicht so glücklich über die Westsahara-Entscheidung des EuGH.

PÄIVI LEINO und DANIEL WYATT berichten vom Stand der Dinge in Sachen EU-Türkei-Deal vor dem Europäischen Gericht.

STEVE PEERS unterbreitet den Brexit-Verhandlern einen Vorschlag, wie sie das Dilemma um die irisch-nordirische Grenze lösen könnten.

MATHIAS CHAUCHAT schildert die immer hitzigere Debatte um das bevorstehende Referendum zur Unabhängigkeit Neukaledoniens von Frankreich.

BETHANY SHINER macht sich Gedanken, ob die Regeln zur Wahlkampfregulierung in UK noch ausreichen, um mit Phänomenen wie Mikro-Targeting fertig zu werden.

RENÁTA UITZ untersucht den globalen Trend, das Instrument des Misstrauensvotums zu undurchsichtigen parteipolitischen Zwecken zu missbrauchen.

MONICA FERIA-TINTA analysiert das Gutachten des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Recht auf eine gesunde Umwelt, ebenso wie GIOVANNY VEGA-BARBOSA. ELENA ABRUSCI zeigt, dass die Entscheidung des gleichen Gerichtshofs zur Ehe für alle am Ende für LGBTI-Rechte in Costa Rica eher negative Effekte haben könnte. NICOLÁS CARILLO-SANTARELLI beleuchtet den politischen Hintergrund der beiden spektakulären Richtersprüche.

So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute!

Ihr Max Steinbeis


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