Rückwärts zum Erfolg in der Pandemie

Europa könnte Covid-19 eindämmen ohne raffinierte Technologie, ohne Überwachung und ohne strengere Maßnahmen. Japan macht es vor, und Modelle zeigen: das hilft auch hier.

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Das Bild zeigt einen Corona-Test im Style eines Retro-Cartoons.
Eine Frau in hellblauer Schutzbekleidung und Mundschutz führt bei einer Person einen Nasenabstrich durch.

Backwards Contact Tracing oder Retrospektive Kontaktnachverfolgung nimmt eine Eigenheit des Virus in den Fokus, die schon lange bekannt ist: Covid-19 verteilt sich sehr ungleichmäßig. Nur wenige Infizierte stecken andere an, die meisten niemanden. Die hiesige Kontaktnachverfolgung vernachlässigt diese Erkenntnis – mit schwerwiegenden Folgen: wir stecken die Falschen in Quarantäne und finden Cluster viel zu spät. Japan geht seit März anders vor und feiert große Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie. Modelle zeigen, dass die Kontaktnachverfolgung auch in Europa jetzt umgestellt werden sollte. Dann ist sie zwei bis drei Mal effektiver, benötigt weniger Personal – und vor allem: isoliert die richtigen Fälle anstatt der Falschen.

Rückwärts statt vorwärts

Eine Video-Konferenz mit Hitoshi Oshitani vom japanischen Unterausschuss für die Kontrolle neuartiger Coronavirus-Krankheiten habe ihm die Augen geöffnet, sagt der US-Spezialist für Infektionskrankheiten Doktor KJ Seung. Ihm sei klar geworden, wieso das, was bislang in den USA gemacht werde, um die Kontakte von Covid-19 Patienten zu finden und zu isolieren, so wenig Erfolg hatte, erklärt Seung, der mit der non-profit Organisation „partners in health“ hilft, das Kontaktnachverfolgungs-Programm in Massachusetts, USA, umzusetzen. Während die meisten Nationen Kontakte Infizierter warnen, die diese nach ihrer Ansteckung trafen, macht Japan es genau anders herum – und das mit viel Erfolg, wie Seung zugeben muss, der diese Methode seither auch im US-Bundesstaat Massachusetts umsetzt:

„Mit retrospektiver Kontaktnachverfolgung können wir Cluster viel zielstrebiger finden, wir können mehr Fälle identifizieren auf viel effizientere Weise.“ (KJ Seung)

Bei der „retrospektiven Kontaktnachverfolgung“ werden jene Kontakte gesucht, die ein Patient hatte, bevor dieser infiziert war, um die Quelle seiner Ansteckung zu finden. Diese Vorgehensweise beruht auf der Erkenntnis, dass die meisten Covid-19-Infizierte niemanden anstecken, während nur wenige das Virus an andere weitergeben. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber sie sei bisher unterschätzt worden von den Verantwortlichen in Europa und den USA in ihrer Bedeutung für die Bekämpfung der Pandemie, erklärt die Technik-Soziologin Zeynep Tufekci: „Länder, die diese Charakteristik des Virus übersehen, riskieren das Schlechteste aus zwei Welten: harte Restriktionen, die noch dazu kaum helfen, die Verbreitung des Virus zu stoppen.“

Dabei sei die Theorie einfach zu erklären, sagt Tufekci in einem Webinar des Berkman-Klein-Centers for Internet and Society der Harvard University, zu dem auch KJ Seung und sein japanischer Kollege Hitoshi Oshitani eingeladen sind, der als einer der Pioniere hinter dem japanischen Ansatz gilt. Dieser Ansatz, der sich unter anderem mittels retrospektivem Contact tracing auf die Entdeckung von Clustern konzentriert, hat Japan relativ niedrige Zahlen beschert – ohne ausgefeilte Überwachungstechnologie, ohne einen strikten Lockdown, trotz weniger Tests und trotz einer dicht zusammenlebenden Bevölkerung. Was können wir vom dortigen Ansatz lernen?

Der k-Wert: Fokussierung auf die Superspreader

Die Verbreitung in Clustern ist eine der Eigenschaften des Virus, deren Bedeutung vielen noch nicht klar ist. Während in der Öffentlichkeit meist der so genannte R-Wert diskutiert wird, der Wert also, der besagt, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, ist ein anderer Wert sehr viel entscheidender bei der Frage, wie die Pandemie bekämpft werden kann: Der Wert k drückt aus, wie gleichmäßig sich ein Virus verbreitet. Je kleiner der Wert, umso ungleicher ist die Weitergabe verteilt – umso weniger Menschen verursachen also die Mehrheit der Infektionen. Forscherinnen und Forscher der London School of Hygiene and Tropical Medicine haben auf der Basis chinesischer Daten den k-Wert des neuartigen Corona-Virus im Juni 2020 auf 0,1 geschätzt. Die Forscher gehen in ihrem Artikel davon aus, dass damit etwa 80 Prozent der Übertragungen von rund zehn Prozent der Infizierten ausgehen – und raten, sich in der Bekämpfung der Pandemie auf diese so genannten Superspreader zu konzentrieren. SARS und MERS hatten übrigens ähnlich niedrige k-Werte, was auch erklärt, wieso einige asiatischen Nationen besser auf diese Art der Verbreitung vorbereitet sind, während die Grippe-Pandemie von 2018 beispielsweise einen k-Wert von rund 1 aufwies – sie wurde also deutlich gleichmäßiger weitergegeben.

Noch ist unklar, welche Eigenschaften einen Menschen in die eine oder andere Gruppe befördern. Unter anderem wird darüber spekuliert, dass eine feuchte Aussprache einer der Faktoren sein können. Ein niedriger k-Wert könne jedenfalls Grund zur Hoffnung sein, betont Tufekci: schließlich sterben die meisten Infektionsketten von selbst aus. Diese Erkenntnis wiederum zeigt aber auch, dass die westliche Praxis der Kontaktnachverfolgung wenig effizient ist und eigentlich fast immer die falschen Fälle findet: Denn wenn 90 Prozent der Infizierten das Virus quasi nicht weitergeben, kann man sich sparen, deren Kontakte aufzuspüren und zu isolieren. Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht infiziert sein. Und wenn sie es sind, geben sie das Virus wiederum mit relativ großer Wahrscheinlichkeit nicht weiter (nämlich nur jeder Fünfte von ihnen).

Nur: wie lässt sich herausfinden, ob eine infizierte Person zu den 90 Prozent gehört oder zu jenen 10 Prozent, die andere anstecken? Das ist das Geheimnis, das der US-Amerikaner KJ Seung von seinem japanischen Kollegen Hitoshi Oshitani in jenem folgenreichen Video-Call erfuhr: nicht, indem man die Kontakte das Infizierten verfolgt, die er möglicherweise infiziert hat, sondern indem man versucht herauszufinden, wer ihn infiziert hat. Denn diese Person ist nachweislich im Pool der 10 Prozent, die das Virus weitergeben.

„Wir versuchen, die Quelle der Infektion zu finden, denn da muss irgendwo ein Cluster sein“, erklärt Oshitami. Rein statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass derjenige, der den Infizierten angesteckt hat, das Virus auch an eine Reihe anderer Personen weitergegeben hat. Um ihn herum bildet sich ein sogenanntes Cluster, eine Gruppe Infizierter. „Mit der klassischen, nach vorne gerichteten Methode muss man viel mehr bestätigte Fälle identifizieren, um ein Cluster zu finden.“ Ist hingegen einer aus dem Pool der 10 Prozent gefunden, werden dessen Kontakte wieder klassisch, nach vorne gerichtet verfolgt – schließlich hat er wahrscheinlich weitere angesteckt.

Zurück zur Quelle

In der retrospektiven Kontaktnachverfolgung werden die Aktivitäten des Infizierten bis zu 14 Tage vor seiner Ansteckung rekonstruiert. „In den meisten Fällen findet sich die Quelle der Infektion in den fünf bis sieben Tagen vor Symptombeginn“, erklärt Oshitani, „in vielen Fällen sind es sogar nur drei bis fünf Tage.“ Das Ziel sei, diese Quelle zu finden und zu sehen, ob diese das Virus an weitere Personen weitergegeben hat.

„Die größte Gefahr ist der isolierte Fall“, berichtet US-Kontaktverfolger KJ Seung aus seiner Praxis, „Menschen, bei denen wir keine Ahnung haben, wo sie sich angesteckt haben.“ Denn diese deuten darauf hin, dass irgendwo ein Cluster lauert, das bisher übersehen wurde. Wird es nicht entdeckt, verbreitet sich das Virus von da aus weiter – bis wieder irgendwo ein scheinbar einzelner Fall auftaucht. Diese so genannte „community Übertragung“, in der Infektionsketten nicht mehr nachvollzogen werden können, ist die Regel in Zeiten wie diesen, in denen die Fallzahlen steigen und die Nachverfolger der Gesundheitsämter nicht mehr hinterherkommen, Kontakte aufzuspüren. „Wenn man dann retrospektives contact tracing startet, kann man die Cluster eher finden“, so Seung.

Ist die Methode nicht viel aufwendiger als das hiesige, in die Zukunft gerichtete Tracing? Das kommt ganz drauf an. „Der Hauptunterschied ist, dass man weiter in die Vergangenheit schaut“ erklärt Akira Endo von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Das kann auf den ersten Blick aufwendiger wirken, wenn es aber andererseits dazu führt, dass Cluster schneller entdeckt werden, spart es an diesem Ende wieder Tracing Arbeit: denn wenn ein Cluster schnell entdeckt und die Ausbreitung gestoppt ist, müssen künftig weniger Kontakte jener Betroffener nachverfolgt werden. Endo hat das zusammen mit Kolleginnen und Kollegen mathematisch modelliert. Die Studie geht davon aus, dass die Kontaktnachverfolgung etwa zwei bis drei Mal effektiver sein kann, wenn sie auf die japanische Weise mit der retrospektiven Variante kombiniert wird.

Durch schnelles Handeln zum Erfolg

„Wir haben gezeigt, dass diese Kombination einen großen Unterschied bei der Verhinderung weiterer Übertragungen machen kann, wenn sie schnell und in großem Maßstab umgesetzt wird“, erklärt Endo. Allerdings müsste der Prozess gut organisiert und koordiniert sein: Eines der größten Probleme der Rückverfolgung sind die Verzögerungen – und wenn die identifizierten Kontakte eines nachweislich ansteckenden Kontakts bereits weitere angesteckt haben, besteht die Gefahr, diese Infektionsketten nie wieder einzuholen. Da zwischen zwei „Generationen“ Infizierter durchschnittlich vier bis sechs Tage liegen, muss die Rückverfolgung von Kontakten in einem ähnlichen Zeitrahmen geschehen – sonst zieht die Infektionskette weiter. Die Studie geht davon aus, dass Kontakte von rückwärts zurückverfolgten Fällen (d.h. der „nächsten Generation“ derjenigen, die mit der identifizierten gemeinsamen Infektionsquelle in Verbindung stehen) erreicht und unter Quarantäne gestellt werden, bevor sie infektiös werden. „Das ist wahrscheinlich erst realistisch, wenn die aktuelle Welle abklingt“, sagt Endo. Momentan gebe es zu viel community Übertragung, also Ansteckungen, die sich nicht zurückverfolgen lassen.

Zudem lasse sich die Methode gut verbinden mit einer anderen Erkenntnis, sagt Hitoshi Oshitani im Webinar: Nämlich mit jener, laut der das Virus vor allem in geschlossenen Räumen, Orten mit vielen Menschen sowie in engem Kontakt übertragen wird. Wenn die Kapazitäten der Kontaktnachverfolger ausgeschöpft sind, sei es sinnvoll, zunächst lediglich diese Events im Leben eines Infizierten etwa fünf bis sieben Tage vor Beginn von dessen Symptomen zu identifizieren, denn die Wahrscheinlichkeit ist am größten, dass er sich bei einer solchen Gelegenheit angesteckt hat. Zudem können dann Cluster zügig identifiziert werden, also Gelegenheiten, bei denen sich möglicherweise viele Menschen auf einmal infiziert haben.

Schnelltests können das Finden von Clustern beschleunigen

Oshitani hat ein weiteres Muster beobachtet, das sich seit Beginn der Pandemie verändert hat: die Orte, an denen eine solche Infektionskette startet, haben sich mehr und mehr ins Nachtleben und die Partyszene verlagert. „Die ersten Fälle eines Clusters sind oft junge Menschen, auch weil sie aktiver sind.“ Erst wenn diese frühen Cluster nicht entdeckt werden, weil die Erkrankung bei jungen Menschen zudem häufig asymptomatisch verläuft, startet eine Übertragungskette, die sich schnell kaum mehr nachvollziehen lässt. Dann stecken sich in größerer Zahl Menschen aus Risikogruppen an. „Wenn wir diese Übertragungsketten schnell stoppen, kommen weniger Menschen ins Krankenhaus“, erklärt der japanische Infektiologe. Mit nach vorne gerichtetem Contact Tracing sei das aber kaum möglich, da Cluster oft zu spät entdeckt werden.

Als Ergänzung schlägt Tufekci massenhafte günstige Schnelltests vor, so genannte Antigen-Tests, deren Genauigkeit zwar nicht so gut ist wie die der klassischen PCR-Tests, die aber trotz dieser Eigenschaft helfen können, Cluster zu entdecken. So könnte man die Kontakte eines Infizierten ohne Zeitverzug testen – und wenn auch nur ein Teil der Tests positiv ist und möglicherweise nicht alle Infizierten gefunden werden wegen der mangelnden Testgenauigkeit, wisse man, dass der Patient offenbar zu den 10 Prozent Menschen gehört, die das Virus weitergeben. „Wenn wir auch nur ein oder zwei Fälle unter den Kontakten entdecken, können wir davon ausgehen, dass mehr angesteckt wurden.“ Dann mache es Sinn, alle Kontakte zur Selbstisolierung aufzufordern, denn dann sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich infiziert haben. Käme hingegen kein einziger positiver Test zurück, sei wahrscheinlich auch niemand infiziert worden.

Mittels dieser schnellen, günstigen Antigentests Cluster aufzuspüren senkte Madrid die Infektionszahlen drastisch – trotz voll besetzter Restaurants und insgesamt wenig Einschränkungen. Manche bezeichnen das als „Wunder von Madrid“, aber einige US-Forscher sagen diesen Effekt von schnellem, massivem und günstigen Testen seit Monaten voraus. Kürzlich prophezeite der Epidemiologe Michael Mina von der Harvard T.H. Chan School of Public Health in einem vielbeachteten Artikel, dass die Ausbreitung der Pandemie bereits bis Weihnachten gestoppt sein könnte, wenn auch nur die Hälfte der Bevölkerung regelmäßig in großem Stil mit Antigen-Tests getestet würde. Die Kosten dürften kein Argument sein: Für die gesamten Vereinigten Staaten würde ein solches landesweites Antigen-Schnelltestprogramm nur „einen Bruchteil (0,05 bis 0,2 Prozent) der Kosten bedeuten, die dieses Virus für unsere Wirtschaft verursacht.“

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