Mit dem Borkenkäfer durch das Jahr

Jahreszyklus eines ungeliebten Waldbewohners

10 Minuten
Ein junger Fichtenborkenkäfer inspiziert eine Baumrinde

Dieser Käfer hat wohl noch nie eine gute Presse gehabt. Aber zurzeit trifft es ihn besonders heftig, wie die Schlagzeilen in einigen Medien zeigen:

„Borkenkäfer zerstört nun auch Schwarzwald“ (t-online.de)

„Borkenkäfer frisst sich durch Bayerwald – so schlimm war es noch nie“ (Passauer Neue Presse)

„Borkenkäfer-Befall – Bundeswehr soll Wald retten“ (bild.de)

„Horror-Invasion der Borkenkäfer – so rasend vermehren sich die Schädlinge“ (Südkurier)

Der Borkenkäfer, genauer der „Große achtzähnige Fichtenborkenkäfer“ (Ips typographus), ist wirtschaftlich gesehen das bedeutsamste (Schad)Insekt in europäischen Fichtenwäldern. Aus ökologischer Sichtweise ist der Käfer aber auch ein unverzichtbares Mitglied des Ökosystems, eine so genannte „Keystone“ Spezies.

„Eigentlich hat der Borkenkäfer eine wichtige Funktion im Wald. Er entfernt geschwächte Bäume, hilft, dass sie rasch verrotten, schafft Platz für neue Pflanzen und erhöht die Biodiversität“,

sagt Peter Biedermann vom Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie an der Universität Würzburg.

Mit dem Borkenkäfer durch das Jahr – ein etwas anderer Blick auf ein Insekt, dessen Lebenszyklus eng an die Temperatur und Tageslänge in seiner Umgebung angepasst ist.

WINTER

Wenn Peter Biedermann im ausgehenden Winter etwas Waldboden durchsiebt, findet er bewegungslose, steife Borkenkäfer in Winterruhe. „Je nachdem wie kalt es in einer Region ist, überwintert der Käfer entweder direkt unter der Rinde eines befallenen Baumes oder er verbirgt sich – in höheren Lagen, bei kälteren Temperaturen – im Bodenstreu oder bis zu 10 Zentimeter tief im Boden“, sagt Biedermann. Nicht die Kälte gefährde den Käfer in dieser Phase sondern das Austrocknen.

Auf die Kälte hat sich der rund fünf Millimeter große Käfer vorbereitet. Bevor er in die – genetisch festgelegte, durch Hormone kontrollierte – Ruhepause eintritt und seinen Stoffwechsel herunterfährt, sammelt er Fettvorräte an. In seiner Körperflüssigkeit finden sich zunehmend Zucker- und mehrwertige Alkoholmoleküle. Diese Stoffe wirken als Frostschutzmittel, die den Gefrierpunkt herabsetzen, sodass das „Blut“ der Insekten, die „Hämolymphe“ sogar bei deutlichen Minusgraden noch flüssig bleibt. Ausgewachsene Borkenkäfer entleeren ihren Darm vor der Ruhepause, damit der Darminhalt nicht zu Eis gefriert. Dank all dieser Schutzvorkehrungen können die Käfer in Zentraleuropa Temperaturen von bis minus 25 Grad Celsius, in nördlicheren Breitengraden sogar bis minus 32 Grad überleben.

Eier und junge Larven kommen mit dauerhafter Kälte nicht so gut zurecht wie ältere Larven, Puppen und die ausgewachsenen Käfer. Während im südlichen Deutschland fast alle jungen Käfer den Winter überleben, gibt es je nach Witterung bei den jungen Larven große Verluste. Sie können nicht wie der Käfer, trockene, schützende Plätze aufsuchen und laufen Gefahr durch Eiskristalle, die sich um sie herum bilden, zerquetscht zu werden.

FRÜHLING

Wenn im Frühling die Tagestemperaturen auf 12 oder 13 Grad Celsius steigen, wachen Käfer und Larve auf. Zunächst sind sie nur unter der Rinde aktiv. Erst ab einer Tageslichtdauer von 14 Stunden, meist Mitte oder Ende April, schwärmen die Käfer aus. In einem besonders warmen Frühling kann dies auch schon einige Tage früher geschehen. „Männchen und Weibchen fliegen aus und machen sich auf die Suche nach Totholz“, sagt Peter Biedermann. Haben sie das gefunden, bohrt sich zuerst das Männchen in das Holz ein und legt eine Höhle an, die „Rammelkammer“.

Durch Sturm abgeknickte Fichte
Am liebsten fliegt der Borkenkäfer frisch vom Wind geworfene Bäume an.

Über Sexualpheromone lockt der Käfer seine Weibchen an. Üblicherweise kommen zwei bis vier und verpaaren sich mit dem Männchen. Nun gehen die Weibchen auf Abstand. Sie bohren ihrerseits Tunnel allerdings in entgegengesetzte Richtungen, bei vier Weibchen entsteht ein typisches H-förmiges Fraßbild. Rechts und links in kleinen Ausbuchtungen des „Mutterganges“ legen die weiblichen Käfer jeweils ein Ei. Danach patrouillieren sie im Gang auf und ab, putzen die Eier und verteidigen sie vor Fressfeinden, etwa vor dem Kupferstecher, einem anderen Borkenkäfer, der ebenfalls in der Fichtenrinde zu Hause ist.

Nach zwei bis drei Tagen schlüpfen die milchig-weiß gefärbten, beinlosen Larven und beginnen, sich in den Bast des Baumes hineinzufressen. Die Larve wächst und mit ihr der Fraßgang, den sie hinterlässt. Wenn der Baumstamm sehr eng besiedelt ist, entsteht rasch eine starke Konkurrenz zwischen all den Larven. Größere Larven fressen kleinere, die innerartliche Konkurrenz macht dem Käfer mehr zu schaffen als andere Fressfeinde, wie Buntspechte, Buntkäfer, Schlupfwespen, Kleiber und Webspinnen. „Bei einer engen Besiedelung können mitunter von den ursprünglich 50 abgelegten Eiern nur zwei bis vier Nachkommen übrig bleiben“, sagt Peter Biedermann.

Nach drei Häutungen – die feste Haut der Larve, die nicht mitwächst, wird immer wieder abgelegt – verpuppt sich die Larve am Ende eines Ganges, in einer kleinen Nische der „Puppenkammer“. Aus der Puppe schlüpft nach vier bis fünf Tagen der ausgewachsene, hell gefärbte, stark behaarte aber noch nicht geschlechtsreife Jungkäfer.

Das Klima hat einen großen Einfluss auf den Lebenszyklus. Ist es warm und trocken, dauert die Entwicklung vom Ei bis zum Jungkäfer nur etwa sechs Wochen. Ist es kühl und feucht, braucht es für die Reifung bis zu drei Monate. Je nach klimatischen Verhältnissen und geografischer Lage können daher in jedem Jahr eine, zwei oder sogar drei neue Käfergenerationen entstehen. „Im Gebirge entsteht jährlich nur eine neue Generation, im Flachland waren es im letzten und auch diesem Jahr drei Generationen“, sagt Peter Biedermann. Bei maximal 50 Nachkommen je Käferpaar und warmer Witterung kann sich die Population explosionsartig vermehren.

(FRÜH)SOMMER

Im Mai oder Juni haben sich im Flachland die ersten Käfer fertig entwickelt. Der ausgewachsene Käfer ist nun mit rotbraunen Flügeln und schwarz-braunem Brustschild ausgestattet und bereit für den Abflug. Weil das Tageslicht durch die Borke hindurchschimmert, bekommt er mit, ob es draußen Tag oder Nacht ist. Am liebsten verlassen die Käfer ihr Nest zur Dämmerungszeit, im Sommer zwischen 17 und 20 Uhr, vermutlich weil sie dann am besten vor ihren natürlichen Feinden geschützt sind. Meist suchen sich die Käfer einen neuen Baum in unmittelbarer Nähe. Einzelne unter ihnen können zwar bis zu fünf Kilometer fliegen, doch die meisten verbreiten sich in einem Radius von wenigen oder höchstens 500 Metern.

Zeilenförmige Fraßspuren im Rindenbast der Borkenkäfer- Larven
Die Larven des Borkenkäfers oder auch „Buchdruckers“ fressen sich vom Muttergang aus im rechten Winkel in den Bast. Das Fraßbild ähnelt den Zeilen eines aufgeschlagenen Buches.

Der Fichtenborkenkäfer ist im Prinzip ein Totholzkäfer, auf Windwurfholz kann er sich am stärksten vermehren. Er besiedelt auch Fichten, die durch Sturm, Eis und Trockenheit geschwächt sind. „Wenn die Käfer beim Ausschwärmen nicht genügend totes Holz finden, fliegen sie auch lebende Bäume an“, erklärt Peter Biedermann. In lebenden Bäumen sei eine Borkenkäferpopulation aber nicht lange stabil. „Wenn die Wälder gesund sind, brechen die Populationen schnell wieder zusammen“, so Biedermann.

Wenn der Käfer versucht, sich in eine lebende Fichte einzubohren, stößt er auf Gegenwehr. Der Baum bildet Harz, die Käfer werden herausgespült, ihre Mundwerkzeuge verkleben oder sie werden komplett in die zähe Masse eingeschlossen. Wenn der Baum gesund ist, braucht es tausende Käfer um ihn zu erobern. Bei starker Trockenheit wie in diesem oder auch im letzten Jahr sind die Fichten als Flachwurzler in keinem guten Zustand.

„Wenn der Baum geschwächt ist, reichen wenige einzelne Käfer aus, um ihn zu erobern“, sagt Biedermann.

Während dem Waldbesucher gar nicht auffällt, dass es der Fichte schlecht geht – sie sieht immer noch grün aus – bemerken die Borkenkäfer die Stresssignale, die der Baum aussendet, nähern sich an und bohren sich ein. Am Fuße des Baumstammes findet sich verdächtiges braunes Bohrmehl. Der Fichtenborkenkäfer hat verschiedene Pilz- und Bakterienarten im Schlepptau, die ihm bei der Besiedelung (lebender) Fichten helfen. Abwehrstoffe in den Leitungsbahnen, dem Phloem des Baumes, die für den Käfer giftig sind, werden von Pilzen wie Endoconodiophora polonica entschärft. Giftige Terpene des Baumes bauen mitgeführte Bakterien ab. Der Käfer kann außerdem aus Bestandteilen des Baumharzes Aggregationspheromone herstellen, die weitere Käfer anlocken.

Käfer und Larve ernähren sich vom Phloem, dem weichen Gewebe unterhalb der Borke, das die zuckrigen Syntheseprodukte von der Krone des Baumes in Richtung Wurzel transportiert. Werden diese Leitungsbahnen durch den Käferfraß zerstört und womöglich auch noch die darunter liegende Wachstumszone des Baumes, das Kambium, stirbt der Baum ab. Die Fichtenkronen verfärben sich von unten her, die Rinde löst sich durch den massiven Reifungsfraß der Jungkäfer und fällt ab. Der Fichtenborkenkäfer ist hierzulande der einzige in der großen Familie der Borkenkäfer (allein in Deutschland gibt es mehr als 100 verschiedene, weltweit etwa 5000 verschiedene Arten), der einen gesunden Baum zum Absterben bringen kann.

SPÄTSOMMER/HERBST

Wenn ab Mitte August die Tage deutlich kürzer werden, trifft der Käfer bereits erste Vorkehrungen für die Winterruhe. „Die Schwärmaktivität der Buchdrucker ist seit (..) 2 Wochen deutlich gedrosselt, die Fangzahlen der Monitoringfallen im Schwarzwald lagen ab Mitte August oft nur noch im 2– bis 3-stelligen Bereich“, ist auf der Borkenkäfer-Monitoring Seite der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg am 30. August 2019 zu lesen. Der Borkenkäfer schaltet um, weil ihm eine Tageslänge von rund 14,5 Stunden und Tagestemperaturen von in der Regel unter 23 Grad Celsius signalisieren: noch einmal in das Brutgeschäft einzusteigen, macht nun keinen Sinn mehr.

In der Kernzone des Bayrischen Waldes.
In der Kernzone des Nationalparks Bayrischer Wald brach die Borkenkäfer-Population nach einigen Jahren von alleine zusammen.

Wenn Käfer jetzt ausfliegen, tun sie es, um bei dichter Besiedelung der Nahrungskonkurrenz mit all den sich tummelnden Artgenossen zu entgehen oder um ein günstiges Überwinterungsquartier zu finden. So lange es warm genug ist, fressen Käfer und Larve unter der Borke. Das kann bis in den Oktober oder November hinein so weitergehen. Erst wenn die Temperaturen unter 12 Grad Celsius absinken, wird es dem Käfer zu kalt. Er präpariert sich für den Winter, fährt den Stoffwechsel herunter und ruht unter der Borke und im Boden bis zum nächsten Frühling.

Der Borkenkäfer und der Wald der Zukunft

Durch die kommerzielle Forstwirtschaft hat sich der Wald in Europa in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das Gesamtvolumen des Holzbestandes in den Wäldern ist heute dreimal so groß wie noch vor 70 Jahren (1). Es gibt viele dicht gepflanzte Areale mit jungen Bäume, große alte Bäume sind selten. Die Monotonie in den Wäldern hat ihre Spuren hinterlassen, die Artenfülle tierischer und pflanzlicher Waldbewohner schwindet.

Die Konkurrenz zwischen Mensch und (Borken)Käfer hat eine lange Geschichte. Immer wenn der Käfer sich ausbruchsartig vermehrt, fällt Schadholz an. In der Zeit von 1950 bis 2000 gingen jährlich durchschnittlich 2,9 Millionen Festmeter Schadholz auf die Kosten des Borkenkäfers. Zum Vergleich: Die Menge dieses „Käferholzes“ betrug pro Jahr (zumindest bis zum Jahr 2000) im Durchschnitt rund 1 Prozent der europäischen Holzeinschlagsmenge. Am stärksten betroffen vom Borkenkäfer sind meist die Fichten, die nicht dort wachsen, wo sie ursprünglich verbreitet sind, wie etwa auf künstlichen Anbauflächen in Bayern und Baden-Württemberg.

Trotz der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit dem Borkenkäfer weiß man bis heute nicht genau, warum die Käferpopulationen manchmal explosionsartig anwachsen und dann wieder zusammenbrechen. Durch Stürme umgeworfene Bäume und trockenes, warmes Klima sind zwar Schlüsselfaktoren für lokale Borkenkäferplagen. Doch sie erklären laut einer Forschungsarbeit von Lorenzo Marini von der Universität Padua die Populationsdynamik in der Mehrheit der Fälle nicht (2). Eine große Rolle spielen auch die Konkurrenz innerhalb der eigenen Art, die Konkurrenz mit anderen Käfern, natürliche Feinde, Krankheitserreger (Bakterien, Viren, Pilze), das Auftreten von Symbionten, die zusammen mit dem Käfer eine Besiedelung von (lebenden) Fichten erst ermöglichen, die Widerstandskraft der Fichte und unbekannte Faktoren.

„Um den Herausforderungen des Anthropozän begegnen zu können, müssen wir die komplizierten Zusammenhänge hier unbedingt besser verstehen lernen“, sagt Peter Biedermann. Vor einigen Jahren habe man im Kerngebiet des Nationalpark des Bayrischen Waldes den Borkenkäfer einmal wüten lassen und nicht eingegriffen.

„Nach vier, fünf Jahren ist der Käferbestand von alleine zusammengebrochen“ sagt Biedermann.

Was diesen Zusammenbruch im einzelnen auslöste, wisse man nicht. Womöglich sei das Wetter für den Käfer nicht optimal gewesen oder die Bäume fitter? Auch im Nationalpark Harz lässt man Natur gerade Natur sein. Der Borkenkäfer beschleunigt hier den Umbau alter Wirtschaftsforste in ursprüngliche Wälder..

Ein ungutes Gefühl hat Peter Biedermann, wenn er sieht, wie zurzeit sonst mit der Borkenkäferplage umgegangen wird: „Wir werden den Käfer in manchen Gebieten nicht mehr los, auch wenn wir die befallenen Bäume permanent aus dem Wald schaffen.“ Durch dieses Vorgehen halte man die Käfervermehrung ständig am Laufen und lasse gar nicht erst zu, dass sie nach einer gewissen Zeit womöglich auch von alleine zusammenbrechen würde. „Wir greifen immer vorher ein“, kritisiert Biedermann.

Ein Umdenken ist nötig. „Man weiß schon seit 20 oder 30 Jahren, dass die Wälder umgebaut werden müssen und natürlich hat auch die Fichte eine Chance, allerdings in Hochlagen etwa des Harzes oder der Alpen“, sagt Biedermann. Es gäbe Risikokarten, auf denen man ablesen könne, wo in Deutschland der Befall mit Borkenkäfern besonders stark sei. „Mein Vorschlag ist – und ich verstehe, wenn ein Waldbesitzer darüber nicht erfreut ist: in den Hochrisikogebieten im Flachland, wo Fichten natürlicherweise nicht wachsen und man den Käfer sowieso nicht mehr los wird, sollte man ihn einfach einmal lassen und beobachten was passiert.“

Mit seinem Vorschlag liegt Biedermann gar nicht so weit entfernt von den Gedanken, die Daniel Prinz von Sachsen Herzog zu Sachsen äußert, der zwischen Radebeul und Friedewald 1000 Hektar Wald bewirtschaftet:

„Wahrscheinlich wird der Wald der Zukunft wieder stärker von der Natur gestaltet werden als vom Menschen. Wir werden einsehen müssen, dass die Natur das besser kann als wir. Dann gibt es eben nicht mehr diese produktiven Wälder – also produktiv für den Menschen – aber für den Naturhaushalt ist es wahrscheinlich besser.“

Zum Wald der Zukunft gehört auch der Borkenkäfer.

Literatur und Quellen:

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