Wunderbare vom Himmel geschaffene Formen

Was Sie schon immer über Schnee wissen wollten: Aus Bernd Brunners Buch „Als die Winter noch Winter waren“

19 Minuten
Schneelandschaft in Abenddämmerung

Schnee fasziniert, Schnee macht Angst. Zwischen dem Spass von Skifahren und Schneeballschlachten und dem Horror von Kältetod und Hunger liegen Welten. Und dann gibt es noch die wissenschaftliche Frage: Was ist Schnee überhaupt?

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In den Eiskristallen verbinden sich Symmetrie und Unregelmäßigkeit. Als Spielball der Luftströmungen, die sie abwärts und aufwärts tragen, bewegen sie sich langsam zwischen Himmel und Erde. Es können drei Tage vergehen, bis sie aus einer Höhe von dreitausend Metern den Boden erreichen. Während Regen mittlerer Stärke mit zwanzig Stundenkilometern herabfällt, erreichen Schneeflocken, in denen sich zehn Millionen Eiskristalle zusammenballen können, die gemächliche Geschwindigkeit von gerade einmal vier Stundenkilometern.

Die Flocken taumeln leicht in die Horizontallage, in dieser Lage bleiben sie relativ stabil, weil an ihren Rändern viel Luftströmung entsteht. Sie ähneln darin einem Blatt, das vom Baum segelt.

Ein Eiskristall bildet sich, sobald Wasserdampf an einem Staubpartikel kondensiert. Er zieht immer mehr Wassermoleküle aus der Luft an, die sich vor allem an den Spitzen anlagern und ihn wachsen lassen. Dabei ist die Ausbildung der Form unter anderem von Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck abhängig. Ist der Luftdruck höher, sind die Verzweigungen stärker.

Die Form des Kristalls bleibt bis zum letzten Moment unberechenbar, weil die Faktoren, die zu seiner Bildung beitragen, ständig variieren können. Schneeflocken sind Zusammenballungen von mehreren Eiskristallen.

Keplers Aha-Erlebnis

Jeder Kristall hat eigene Haupt- und Nebenzweige, die ihrerseits dünne, oft reflektierende Eisplättchen aufweisen. Sternförmige Schneekristalle bilden meistens sechs Hauptäste aus, die sich noch einmal weiter verzweigen. Dieses gitterartige Muster lässt sich bis auf die Molekularebene zurückverfolgen. Sterne mit drei- oder zwölfzähliger Symmetrie kommen auch vor, andere jedoch nicht. Daneben gibt es auch säulen- und nadelförmige Kristalle. Das Gitter kann die Form eines sechsseitigen Eissäulchens haben.

Passend als Geschenk eines Mathematikers, der Nichts hat und Nichts kriegt, so wie es da vom Himmel herabkommt und den Sternen ähnlich ist! (Johannes Kepler)

Johannes Kepler – bekannt für die nach ihm benannten Gesetze zur Berechnung der Planetenbahnen um die Sonne – schrieb 1611 über die sechseckige Struktur von Schneekristallen, in dem kleinen Pamphlet Strena seu de nive sexangula, Vom sechseckigen Schnee. Als Erster in der Wissenschaftsgeschichte hob er ihre symmetrische Form hervor und unterschied das Wachstum von Organismen von dem der Kristalle, die durch Anlagerung wuchsen: »Plättchen aus Eis, sehr flach, sehr poliert und sehr transparent, ungefähr von der Dicke eines Blattes Papier. Aber perfekt in Sechsecke geformt. Ihre sechs Seiten waren so gerade und die sechs Winkel so gleich, dass es unmöglich für einen Menschen wäre, etwas so Genaues herzustellen.«

Eine Erklärung für die enorme Vielfalt der Schneekristalle mit ihrer typischen Struktur hatte Kepler noch nicht. Während eines Spaziergangs waren dem Astronomen am Hofe Rudolfs II. in Prag Schneeflocken auf den Mantel geweht, die ihn beschäftigten:

»Wie ich so grübelnd und sorgenvoll über die Brücke gehe und mich über meine Armseligkeit ärgere und darüber, zu Dir ohne Neujahrsgabe zu kommen, wenn ich nicht immer dieselben Töne anschlage, nämlich dieses Nichts angebe oder das finde, was ihm am nächsten kommt und woran ich die Schärfe meines Geistes übe, da fügt es der Zufall, daß durch die heftige Kälte sich der Wasserdampf zu Schnee verdichtet und vereinzelte kleine Flocken auf meinen Rock fallen, alle sechseckig und mit gefiederten Strahlen. Ei, beim Herakles, das ist ja ein Ding, kleiner als ein Tropfen, dazu von regelmäßiger Gestalt. Ei, das ist eine höchst erwünschte Neujahrsgabe für einen Freund des Nichts! Und passend als Geschenk eines Mathematikers, der Nichts hat und Nichts kriegt, so wie es da vom Himmel herabkommt und den Sternen ähnlich ist!«

Die wahre Form des Himmels

1735 erschien Balthasar Heinrich Heinsius’ Chionotheologia, oder erbauliche Gedancken vom Schnee als einem wunderbaren Geschöpfe Gottes, eine Schrift, die sich um chiono, Griechisch für ›Schnee‹ dreht. Heinsius war Mitglied einer kleinen Bewegung von Theologen und Philosophen, die in einem ganz bestimmten Objekt oder Lebewesen das göttliche Prinzip verwirklicht sahen (Heinsius’ Zeitgenosse Ernst Ludewig Rathlef publizierte seine Akridotheologie, in der Heuschrecken das Zentrum des Universums bildeten, Peter Ahlwardt das Buch Bronto-Theologie über Gewitter).

Eine Schneeflocke ist das harmloseste, unschuldigste Ding auf der Erde. (Bokushi Suzuki)

Die »sechsecklichen Sternlein« waren es, die es Heinsius angetan haben: »Ewiger Gott! was ist das nicht fuer ein liebliches Bild, wie leuchtet es nicht als lauter kleine Spiegelchen, darinnen sich deine Allmacht und Weißheit abbildet. Welch ein subtiles ist es doch! welches auch der geringste Odem des Menschen zerschmelzet. Was fuer eine Erstaunenswuerdige Proportion ist doch dabey zu spueren, indem die unterschiedliche Spitzen derselben in so gleicher Distanz voneinander stehen, als ob sie die Hand des accuratesten Mathematici so abgezirckelt haette.«

Eine Zeichnung verschiedener Eiskristalle
»Seltsame und wunderbare vom Himmel geschaffene Formen.« Die Schneekristallzeichnungen des japanischen Kaufmanns Bokushi Suzuki (1770 – 1842).
Wilson Bentley mit Handschuhen am Mikroskop.
Wilson Bentley sucht die perfekte Schneeflocke.
Ein Schneekristall unter dem Mikroskop.
Die Erforschung von Schneekristalle kann Leben retten.
Eine Schneeflocke unter dem Mikroskop.
Die Isländer sagen mjöll für neu gefallenen Schnee, fannkoma für Schneefall, hundslappadrífa für schweren Schneefall mit großen Flocken bei ruhigem Wetter.
Ein Schneekristall unter dem Mikroskop.
nter knapp einem Viertel der Erdoberfläche – vor allem in Alaska, Kanada, Sibirien und Grönland, aber auch in Nordskandinavien und auf einigen Inseln – gibt es ständig Eis.