Pause von der Pause

von Maximilian Steinbeis
9 Minuten

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

eigentlich wollte ich ja schon in der Sommerpause sein heute, wie in der letzten Woche angekündigt, aber die Zeiten erlauben es nicht. Ich habe heute WOJCIECH SADURSKI getroffen, der gerade in Berlin weilt, und mit ihm ein Interview zu dem Verfassungsreferendum geführt, das Polens Präsident Duda angekündigt hat (das Interview bringen wir nächste Woche). Sadurski hat mich obendrein auf den neuesten Stand gebracht, was den Kampf um den Obersten Gerichtshof Polens betrifft. Den will ich Ihnen nicht vorenthalten (mistakes are all mine, of course). Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es geht wirklich um alles oder nichts in diesem Kampf, nicht nur für Polen, sondern für Europa, für uns alle. Und wenn jemand diesen Kampf noch zu Gunsten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entscheiden kann, dann ist das der Europäische Gerichtshof in Luxemburg.

Gestern (Freitag) hat Małgorzata Gersdorf, die Präsidentin des belagerten Obersten Gerichtshofs, in Karlsruhe eine Rede gehalten, auf Einladung ihrer deutschen Amtskollegin Bettina Limperg. Sie ist seit 4. Juli zwangsweise im Ruhestand, soweit es nach dem Willen der PiS-Regierung und des PiS-Präsidenten Andrzej Duda geht, erkennt dies aber als offenen Verfassungsbruch nicht an: Ihre Amtszeit ist in der Verfassung selbst auf sechs Jahre festgelegt. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich den Mut und die Standhaftigkeit dieser Frau bewundere.

Warum will die PiS Gersdorf so unbedingt loswerden?

Ja, warum nur? Das hat natürlich damit zu tun, dass sich nach der Unterwerfung des Verfassungsgerichts jetzt alle Augen auf den Obersten Gerichtshof als Quasi-Ersatzverfassungsgericht richten, aber damit nicht allein. Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs ist qua Amt auch Präsidentin des Staatsgerichtshofs. Dieses Organ ist nach der Verfassung zuständig, den Präsidenten und Mitglieder der Regierung ihres Amtes und Parlamentsabgeordnete ihres Mandates zu entheben. Darauf wird es insbesondere ankommen, wenn die PiS eines Tages ihre Mehrheit verliert. Denn dann kann es passieren, dass sich Präsident Duda, die frühere Ministerpräsidentin Beata Szydło und andere PiS-Politiker, denen massivste Verfassungsbrüche vorgeworfen werden, vor dem Staatsgerichtshof verantworten werden müssen.

Bisher war sich die PiS sehr sicher, dass ihr mit dem Obersten Gerichtshof und seiner Präsidentin gelingen würde, was ihr mit dem Verfassungsgericht und dem Nationalen Justizrat auch schon gelungen war: die Amtsinhaber hinauszudrängen und mit eigenen Parteigängern zu ersetzen. Im Vertrauen darauf hatte die PiS-Mehrheit eigens die Schwelle für die Wahl des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs extrem hoch gelegt: 110 der 120 Mitglieder des Obersten Gerichtshofs müssen für einen Kandidaten stimmen, damit dieser als gewählt gilt. Der Effekt: wenn diese Mehrheit nicht zustande kommt, bleibt das Amt formell vakant, und der Präsident kann jemanden seiner Wahl mit der Ausübung seiner Funktionen betrauen, ohne damit formell in die Eigenständigkeit des Gerichtshofs einzugreifen.

Der Plan ging aber nicht auf, weil sich im Obersten Gerichtshof unter den verbleibenden Richter_innen, die nicht von der Zwangspensionierung betroffen sind, niemand fand, der sich bereit erklärte, Duda zu Willen zu sein. Das zwang die PiS-Regierung, ihre Strategie zu ändern, und das geschah in am Freitag mit einem in beispielloser Eile durchgepeitschten Gesetz.

Danach sind künftig zur Neuwahl der Gerichtspräsidentin statt 110 Richter_innen nur noch eine Zweidrittelmehrheit nötig, also 80. Drastisch abgesenkt werden auch die Hürden für Bewerbungen auf eine der freiwerdenden oder neuen Stellen beim Obersten Gerichtshof: Im Wesentlichen kann sich künftig kann so gut wie jede Richter_in und Staatsanwält_in des Landes mit einiger Berufserfahrung um einen Posten am Obersten Gerichtshof bewerben und dann von Justizminister Ziobro und dem von ihm kontrollierten Nationalen Justizrat ausgewählt werden. Klagen unterlegener Bewerber vor den Verwaltungsgerichten haben keine aufschiebende Wirkung mehr. Wenn Bewerbungen aus „formalen Gründen“ zurückgewiesen werden, kann man überhaupt nicht mehr dagegen klagen – und was „formale Gründe“ sein sollen, weiß kein Mensch. Kafka hätte sich das nicht schöner ausdenken können: Man bewirbt sich, bekommt beschieden, dass man aus „formalen Gründen“ leider nicht berücksichtigt wird, erkundigt sich, was man denn falsch gemacht hat, aber erhält nie eine Antwort, und vor Gericht gehen kann man nicht. So will die PiS das gerne haben in der Polnischen Republik.

Warum diese Eile?

Das Gesetz wurde in einer Nacht durchs Parlament gejagt, die Redezeit der Abgeordneten wurde drastisch beschränkt, bis auf 30 Sekunden pro Redner. Eingebracht wurde es als Entwurf eines Abgeordneten statt als Ministeriumsentwurf, damit keine Konsultationen und Sachverständigenanhörungen nötig werden. Das Kalkül dahinter liegt auf der Hand.

Die Regierung will so schnell wie möglich Tatsachen schaffen, bevor der Europäische Gerichtshof in Luxemburg dazwischengehen kann.

Vor kurzem hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen der Angriffe auf die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs eingeleitet. Wieder einmal dürfte Ungarn als Vorbild dienen: Dort waren alle Richter über 62 zwangspensioniert worden, was der EuGH im November 2012 als Verstoß das Verbot der Altersdiskrimierung beurteilte. Für die gefeuerten Richter hieß dies mitnichten, dass sie ihren Job zurückbekamen. Sie wurden entschädigt, aber ihre Posten gingen an Leute, die die Fidesz-Regierung auswählte. 2014 urteilte der EuGH im Fall des unabhängigen Datenschutzbeauftragten, dessen Amtszeit vorzeitig verkürzt worden war. Auch er gewann den Fall, aber nicht seinen Job zurück. Vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof hatte der gefeuerte Präsident des ungarischen Obersten Gerichtshofs, András Baka, 2016 einen großen Sieg errungen, als ihm der EGMR bescheinigte, dass die vorzeitige Beendigung seiner Amtszeit sein Recht auf ein faires Verfahren und seine Meinungsfreiheit verletzt hatte. Auch er wurde moralisch und finanziell entschädigt, aber auf seinem Posten sitzt ein anderer.

Der dritte Grund, warum der PiS die „Justizreform“ so wichtig ist, ist die Erweiterung des Obersten Gerichtshofs um zwei zusätzliche Kammern, die sie komplett mit eigenen Leuten bestücken kann. Die eine ist für Disziplinarsachen zuständig, aber besonders toll ist die zweite: Ihr wird die gerichtliche Aufsicht über die Wahlen anvertraut. 2019 sind Parlaments-, 2020 Präsidentschaftswahlen. Wenn es knapp werden und die PiS in die Versuchung geraten sollte, ihrem Wahlerfolg aktiv nachzuhelfen, dann wird sie diese Kammer noch gut brauchen können.

Dass Małgorzata Gersdorf ihre Rede in Deutschland gehalten hat, wurde ihr von der rechtsnationalen Presse in Polen sofort angekreidet. Der Ton, den sie angeschlagen hat, war eher resignativ. Ihre abschließenden Passagen gebe ich hier im Wortlaut wieder, verbunden mit dem Ausdruck meines Bedauerns, Ihnen keine optimistischere Botschaft in den Sommerurlaub mitgeben zu können:

„Damage is regrettably extensive and there seems to be no hope for remedy in the near future. The independence of the Polish constitutional court has been destroyed, its judiciary panels manipulated in response to expectations of the governing party. The Minister of Justice is also Prosecutor General. He now holds all instruments allowing real impact on all judicial proceedings, under criminal law in particular. Court presidents report to him; to add insult to injury, he has staffed over one-half of the National Council of the Judiciary with people without constitutional mandates, who now owe him everything. The party machine can crown or destroy anyone and everyone at the whim and will of those in rule. The Supreme Court has undergone a cleansing masked by a retrospect change to the retirement age. The content of vital judiciary-related legislation changes incessantly, within a few days as of the motion date, with no consultations or opinion seeking exercise.
What can a president of the supreme judiciary instance do? All she is left with are words. And yet she cannot remain “apolitical”, since constitutional compliance has become a political matter, par excellence. Such are Polish circumstances today – may they not be Germany’s tomorrow!
Secondly, as a Polish judge I would like to use this opportunity to appeal for more Europe within Europe. We are grateful to the European Commission, and to its First Vice-President Timmermans in particular for his vehement defence of rule of law principles. Yet the mandate of European institutions is definitely too weak, especially in the face of authoritarian and nationalistic tendencies we have been witnessing, not only on European territory, although regrettably on our continent as well. I am well aware that some member state governments (albeit I believe that Germany is not among them) have displayed inclinations to consider the so-called reform of the Polish judiciary as an in-house concern, one should not excessively interfere with. And yet it remains a priority, an investment in our common future! Once the European Union and her members pass in a rule of law-related dispute, the Union’s trademark – respect for human and fundamental rights – may soon dwindle into a distressing memory.“

Im Vertrauen auf die Justiz

Apropos Europäische Union: In der nächsten Woche kommt aus Luxemburg das Urteil im Fall Celmer, von dem hier schon öfter die Rede war – die Vorlagefrage des irischen High Court, ob die polnische Justiz noch unabhängig genug ist, ihre EU-Haftbefehle unbesehen zu vollstrecken. Nach den Schlussanträgen des Generalanwalts vorletzte Woche ist der Optimismus, dass der EuGH dieses Verfahren zu einer harten Ansage an Polen nutzt, nicht besonders groß. Wir werden das Urteil gemeinsam mit ARMIN VON BOGDANDY und Kolleg_innen mit einem Online-Symposium würdigen, für das MATTEO BONELLI, MATEJ AVBELJ, AGNIESKA FRACKOWIAK-ADAMSKA, CATHERINE DUPRÉ, KIM SCHEPPELE and MATTIAS WENDEL Beiträge zugesagt haben.

In der Türkei ist der Zerfall von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch viel weiter gediehen als in Polen und Ungarn. LEIGHANN SPENCER fasst zusammen, wie hilflos der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bisher auf die Welle von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei in den letzten Monaten reagiert hat. CEM TECIMER lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuchs, der die Beleidigung des Präsidenten unter Strafe stellt und von der türkischen Justiz in einer Weise ausgelegt und praktiziert wird, der allen Vorgaben des Straßburger Gerichtshofs spottet.

In Spanien hat der Oberste Gerichtshof die Regierung dafür an die Kandare genommen, dass sie den EU-Ratsbeschluss zur Verteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland nach Quoten nur unzulänglich umgesetzt hat – ein Urteil, das nach Meinung von DAVID MOYA vorbildlich für die Justiz auch in anderen Ländern und ein Schlüssel dafür werden könnte, doch noch eine rechtlich durchsetzbare Lastenverteilung in Europa zu erreichen.

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht den Rundfunkbeitrag für verfassungsgemäß erklärt, und dies mit Argumenten, die SIMON KEMPNY nicht so richtig überzeugen. Dass nach dem Abschluss des NSU-Prozesses so quälend viele Ermittlungsfragen offen bleiben, eröffnet nach Meinung von FIN-JASPER LANGMACK den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. DAVID BILCHITZ wiederum sieht Deutschland angesichts seiner Geschichte in der Pflicht, auf einen internationalen Vertrag zur Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen hinzuwirken.

In Indien hat der Oberste Gerichtshof in dieser Woche über die Verfassungsmäßigkeit von Artikel 377 des Strafgesetzbuchs verhandelt, ein Überrest aus Kolonialzeiten, der immer noch gleichgeschlechtlichen Sex als „widernatürlich“ unter Strafe stellt. ADEEL HUSSAIN berichtet.

In Österreich hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen die Ratifikation des CETA-Abkommens ausgesetzt. Ob er das verfassungsrechtlich durfte, untersucht MARKUS BEHAM.

Und Glossator FABIAN STEINHAUER kämpft sich in dieser Woche kommentierend durch Texte von Rudolf Jhering und Roger Caillois.

Anderswo

DANIEL SARMIENTO ruft ins Bewusstsein, in welch kurzer Zeit und mit welcher Intensität Fragen der Religionsfreiheit auf einmal ins Zentrum der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gerückt sind.

JORDI NIEVA-FENOLL hält die Enscheidung des spanischen Untersuchungsrichters, den EU-Haftbefehl gegen den katalanischen Ex-Präsidenten Puigdemont zurückzuziehen, für die schlechteste aller Optionen.

SANDY LEVINSON vergleicht Trump mit Hitler.

MARKO MILANOVIC analysiert zwei Urteile des EGMR über die Verantwortung Russlands für Menschenrechtsverletzungen in Territorien, die von russlandfreundlichen Separatisten kontrolliert werden.

GAUTAM BHATIA berichtet von einer Verhandlung des indischen Supreme Courts über das Verbot für Frauen, während ihrer Menstruation den Hindu-Tempel von Sabarimala zu betreten, und die Frage, ob dies mit dem Verbot der „Unberührbarkeit“ in Art. 17 der indischen Verfassung vereinbar ist.

GERARD MAGLIOCCA notiert, dass Russlands Präsident Putin offenbar juristischen Blogs folgt.

MEG RUSSELL zieht aus dem Scheitern der italienischen Verfassungsreform Schlüsse für die Reform des Bikameralismus generell und des britischen House of Lords im Speziellen.

ANDRÉS DEL RÍO und JULIANA CESARIO ALVIM GOMES kritisieren die Intervention des brasilianischen Zentralstaats in Rio de Janeiro als Zeichen der Militarisierung der Justiz und der Gesellschaft.

So, jetzt genug Pause von der Pause. Ich brauche wirklich Urlaub, Sie sicherlich auch. Ich melde mich im September zurück, sofern unterdessen nichts passiert, was mich an den Schreibtisch zwingt. In der Hoffnung, dass das nicht passiert, Ihnen einen ruhigen und erholsamen Sommer!

Ihr Max Steinbeis

Dieser Artikel enthielt ursprünglich einen Fehler bezüglich des Datums der Parlamentswahlen, der in dieser Version korrigiert ist.

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