Warum Fühlen, Denken und Handeln viel enger verbunden sind, als wir glauben

Als Wissensbuch des Jahres nominiert: „Unsere 7 Sinne – die Schlüssel zur Psyche“ von RiffReporter Rüdiger Braun. Ein Auszug.

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Titelbild des Buchs „Unsere 7 Sinne“, das eine bunte Farbwolke zeigt

Über unseren Körper, unsere Sinneswahrnehmungen und unsere Gefühle verbinden wir Innen und Außen. Unsere Sinne lassen sich schärfen und verändern. Wir sind ihnen nicht ausgeliefert, sondern durch sie lassen sich das Erleben und die Gefühle beeinflussen. Die Sinne sind der direkteste Zugang, um unsere Psyche und Intuition zu stärken.

Zwei Jahre lang legte sich Marianne regelmäßig auf die Couch eines Psychoanalytikers. Sie litt darunter, sich nur dann richtig lebendig zu fühlen, wenn ihr Partner ihr wieder und wieder versicherte, dass er sie liebte. Dies belastete ihre Beziehungen, und mehrere Trennungen innerhalb kürzester Zeit machten ihr schwer zu schaffen. Die Folge war ein diffuses Angstgefühl.

Mit ihrem an einer Eliteuniversität geschulten Verstand lernte sie, das Problem zu durchdringen. Sie begriff allmählich, dass die Ursache im schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter zu finden war, die sie als Kind häufig allein gelassen hatte. Trotzdem hatte sie den Eindruck, nicht zum Kern ihres Leidens vorzustoßen: Ihre Erkenntnisse blieben an der Oberfläche und ließen sie emotional unberührt. Nie hatte sie während der Gesprächstherapie geweint.

Die vermissten Gefühle stellten sich ein, als sie am wenigsten damit rechnete. Nach einer intensiven Behandlung bei einer Masseurin wurde Marianne wiederholt von heftigen Schluchzern geschüttelt. Plötzlich fühlte sie sich ins Alter von sieben Jahren zurückversetzt: Sie lag nach einer Blinddarmoperation auf einem Untersuchungstisch im Krankenhaus. Unsagbar einsam kam sie sich vor. Ihre Mutter war nicht aus dem Urlaub zurückgekommen, um ihr beizustehen.

„Das Gefühl, das sie lange in ihrem Kopf gesucht hatte, war stets da gewesen, versteckt in ihrem Körper“, schrieb der französische Neurologe und Psychiater David Servan-Schreiber in seinem Bestseller Die neue Medizin der Emotionen[1] über diesen Fall. Bis zu seinem frühen Krebstod war er der prominenteste Vertreter einer Richtung von Medizinern und Psychotherapeuten, die durch die Arbeit mit dem Körper und den Sinnen die Selbstheilungskräfte von Leib und Seele nutzen und anregen wollen. Sie streben eine humane Medizin ohne zeitaufwendige Gesprächstherapien und abhängig machende Psychopharmaka an, die Körper und Psyche als Einheit begreift und die Emotionen in ihre Therapiekonzepte einbezieht. Das klassische Selbstverständnis des Menschen nach dem Motto „ich denke, also bin ich“ wird zunehmend vom „ich fühle, also bin ich“ abgelöst.

Ohne Sinne wären wir lebensunfähig

Emotionale Prozesse laufen überwiegend unbewusst ab. Nur bei einem Bruchteil wird aus einer Emotion ein bewusstes Gefühl wie Freude, Wut oder Trauer. Deshalb können wir mit dem Verstand Emotionen nur sehr schwer kontrollieren oder verändern. Wesentlich leichter geht dies über körperliche Erfahrungen, war der Emotionsmedizinier David Servan-Schreiber überzeugt, denn über den Körper und unsere Sinne seien Gefühle leichter anzusprechen als über Worte. Nur so lasse sich erklären, dass unter Umständen eine intensive Massage psychisch mehr bewirken kann als eine mehrjährige Gesprächstherapie.

Nahaufnahme eines männlichen Gesichts, das im Ausschnitt Mund, Nase und ein Ohr zeigt.
Wie eng sind Sinne, Psyche und Denken miteinander verbunden? Dieser Frage geht Rüdiger Braun in seinem Buch nach.
Rahmentrommel, die von einem Stock gespielt wird.
Das Rythmusgefühl sitzt tief in unserem Inneren – und wird zur Therapie eingesetzt.
Links das Cover des Buchs „Unsere 7 Sinne“, das eine Wolke aus unterschiedlichen Farben zeigt. Rechts daneben Rüdiger Braun vor dem Chilehaus in Hamburg.
Rüdiger Braun und sein Werk, das zum Wissenschaftsbuch des Jahres nominiert wurde.